Von Johannes Eisleben.
Der Krieg gehört zur Menschheit wie der zirkadiane Rhythmus und wird uns weiterhin begleiten, auch wenn wir ihn in Westeuropa nach mehr als siebzig Jahren Frieden beinahe vergessen haben. [1] Da, wie der Militärhistoriker John Keegan gezeigt hat [2], die Technologie der Waffensysteme die Art der Kriegsführung und die Nutzung des Krieges als Mittel der Politik im Laufe der Zeit von Grund auf verändert hat, lohnt sich die Beschäftigung mit dem absehbaren Fortschritt der Kriegstechnik.
Ein wegweisendes Werk in diesem Genre ist „Waffensysteme des 21. Jahrhunderts“, ein literarischer Essay von Stanisław Lem aus den Jahr 1983 über die zu erwartende Entwicklung der Waffentechnologie. Dort blickt der gewitzte Science-Fiction-Autor aus einem fiktiven 22. Jahrhundert sarkastisch auf das 21. Jahrhundert zurück. Es lohnt sich, den Text auch fünfunddreißig Jahre nach seinem Erscheinen noch einmal zu lesen, denn obwohl er am Ende in einen Widerspruch mündet, der ihm etwas von seinem intellektuellen Glanz nimmt, präsentiert Lem hier zwei wichtige Einsichten, die sich gegenseitig bestätigen, aber präzisiert werden müssen.
Erstens stellt er fest, dass die Waffentechnologie, die wir – damals 1983 wie heute 2018 – bauen und nutzen, rein anthropozentrisch ist: Die Waffen sind anatomisch und physiologisch für die Nutzung durch den menschlichen Soldaten konstruiert. Betrachtet man die einschlägigen Visionen heutiger Militärs [3], soll dies auch so bleiben: Diese stellen sich fast alle Waffen der Zukunft wie heutige, wenn auch von Künstlicher- Intelligenz (KI)-Software anstatt von Menschen gesteuert, vor, nämlich automatische U-Boote, Schiffe, Flugzeuge (Drohnen), Flugkörper, Panzer, Geschütze und sogar maschinelle Infanteristen (Robotersoldaten).
Wie auch in anderen Automatisierungsprojekten nehmen sie implizit an, dass KI benötigt werde, um menschliches Denken in die Automaten einzubauen. Lem betont nun, dass es töricht sei, sich Automatisierung als Imitation menschlichen Denkens vorzustellen, da es für einen automatisierten Krieg vollauf genüge, Maschinen ein instinktives Verhalten einzupflanzen. Er stellt die anthropozentrische Vision der Kriegsautomatisierung in zweierlei Hinsicht in Frage: erstens bezüglich der Gestalt und der Funktionsweise der Waffensysteme. Zweitens zeigt er, dass künstliche, automatisch operierende synthetische Insekten („Synsekten“), die in großen Schwärmen zusammenarbeiten, das Hauptziel der Kriegsführung, die gewaltsame Durchsetzung eigener Interessen, wesentlich effizienter erreichen können als anthropozentrische Waffensysteme. Diese Idee hatte er schon in Der Unbesiegbare (1967) literarisch ausgeführt. Im Jahr 1983 griff er sie essayistisch wieder auf.
Schwärme künstlicher Insekten
Stanisław Lem erläutert sodann, wie Schwärme künstlicher Insekten, die nicht mit künstlicher Intelligenz, sondern mit „künstlichen Instinkten“ ausgestattet sind, als „Mikorarmee“ eingesetzt werden können. [4] Sie können als schwer anzugreifender Schwarm in Wohngebiete eindringen und dort als eine Art selbstgesteuerter Munition Menschen töten oder paralysieren. Sie könnten sich aber nach ihrer Dislozierung auch zu größeren Waffen zusammenfügen – Lem nennt das „Teletropismus“ –, um vor Ort spontan große thermische Energie zu erzeugen, etwa zur Zerstörung von Infrastruktur oder konventionellen Waffen.
Auch die Freisetzung von Erregern oder Giftgas wäre möglich. Solche Synsektenschwärme könnten unterirdische Infrastruktur vernichten, etwa mittels chemischer Zersetzung. Sie könnten zu Wasser, in der Luft und am Boden operieren. Selbstverständlich könnten sie auch für Überwachungszwecke im Inland oder zu Spionagezwecken eingesetzt werden, wie dies Wolfgang Sofsky beschrieben hat. [5] Im letzten Drittel seines Essays schildert Lem, wie Schwärme mechanischer Insekten menschliche Armeen und klassische Kriegswerkzeuge ersetzen.
Was ist dem hinzuzufügen? Aus heutiger Sicht hat sich Lems Einsicht bestätigt, dass es töricht sei, zur Automatisierung eine maschinelle Intelligenz erzeugen zu wollen, die der menschlichen gleicht. Denn die zu automatisierenden Tätigkeiten (Sachbearbeitung in Behörden, Ämtern und Unternehmen oder eben der Einsatz von Soldaten im Krieg) sind zielgerichtete Prozesse, bei denen es auf die höheren kognitiven Fähigkeiten des Menschen wie Intelligenz, eigenen Willen, Urteilskraft, assoziatives Denken, Kreativität, Empathie und Darstellung, Verständnis und Erklärung komplexer Zusammenhänge gar nicht ankommt. Vielmehr handelt es sich um repetitive, zuverlässige, exakt ausgeführte Reaktionen auf eine begrenzte Zahl von Situationsvarianten.
Die erwähnten höheren Eigenschaften stören hingegen den perfekten Ablauf und leisten der Friktion Vorschub, wie von Clausewitz die Abweichung der Realität von der Planung im Kriegsgeschehen nennt. [6] Viel sinnvoller ist es, Maschinen die Fähigkeit zu schematischen Reaktionen beizubringen. Ebendies und nicht mehr kann mit den Hauptverfahren der sogenannten KI-Forschung erreicht werden, wenn man sie geschickt kombiniert. Maschinen können dabei etwas lernen, was Lem treffend Künstliche Instinkte nennt: vom Nutzer der Maschine definierte, komplexe, aber doch stark repetitive Verrichtungen wie das krude Übersetzen eines Texts ohne Beachtung der semantischen Feinheiten, das Führen eines mechanischen Transportmittels und den Anflug auf eine Zielregion, die Identifizierung des Ziels und dessen Zerstörung.
Stanislav Lems Idee ist in greifbare Nähe gerückt
Ungeachtet der angstvollen Projektionen vieler Laien und Wissenschaftler, die sich damit Aufmerksamkeit verschaffen wollen, werden KI-Algorithmen auf absehbare Zeit höhere kognitive Fähigkeiten nicht entwickeln. Denn weder verstehen wir, wie unser Gehirn diese Fähigkeiten bereitstellt, noch ist es möglich, sie mathematisch zu modellieren. Die mathematischen Modelle, die wir heute und auf absehbare Zeit erstellen können, erlauben uns lediglich die Abbildung einfacher repetitiver Verhaltensmuster.
Lems Idee, künstliche Insekten als Kriegsmaschinen zu produzieren, ist heute in greifbare Nähe gerückt. Die Nanotechnologie erlaubt die Miniaturisierung von künstlicher Sensorik und Motorik. Die mathematischen Modelle, die man zur Verhaltenssteuerung benötigt, sind äußerst komplex: Tiefe neuronale Netze für stochastische Steuerung und Theorem-Ontologien für Logik-basierte Steuerung benötigen riesige Arbeitsspeicher. Sie könnten, solange sie noch nicht in die Nanomaschinen eingebaut werden können, auch über Funk verfügbar gemacht werden.
Des Weiteren ist es im Synsekten-Schwarm sicherlich möglich, Funktionen auf Spezialmaschinen (Synsektenspezies) zu verteilen, wie dies auch bei natürlichen schwarmbildenden Insekten, etwa Bienen und Ameisen, geschieht. Auf diese Weise kann die technische Komplexität pro Spezies reduziert werden, was die Produktion verbilligt und den Einsatz erleichtert. So könnte es Aufklärungssynsekten geben, die auch gut versteckte menschliche Ziele finden, und Steuerungssynsekten, die den Schwarm zum Zielgebiet führen. Andere könnten humane Ziele mittels DNS-Analyse einwandfrei identifizieren und zur Tötung freigeben. Wieder andere würden die Tötung durchführen oder als Abwehreinheiten gegen feindliche Synsekten operieren.
Kein Rückzug mehr erforderlich
Ein großes Thema der Kriegsführung war immer die Dislozierung der Truppen, ihre sichere Rückführung aus Kriegsgebieten, wie etwa die Bewältigung hochkomplexer Probleme der Logistik wie beim fatalen Rückzug der Napoleonischen Armee aus Russland. Synsektenarmeen hingegen müssen sich nicht zurückziehen. Als billig produzierbare mechanische Munition sind sie Einwegartikel. Sie vernichten sich mit dem Erreichen ihres Ziels.
Sobald ein militärischer Akteur Synsektenarmeen einführt, werden andere nachziehen. Dann würden auch Synsekten-Kampfeinheiten erforderlich, deren Funktion nicht die Tötung von Menschen, sondern die Abwehr feindlicher Synsekten wäre. Ein klassisches Wettrüsten fände statt.
Ein anderer Aspekt ist die gewaltvermittelte Machtverteilung. Heute sind waffentechnisch schlecht ausgestattete militärische Akteure wie der IS und Guerillakämpfer in Afrika und Lateinamerika noch imstande, durch geschickte Taktik technisch hoch überlegene Gegner in lange und verlustreiche Kämpfe zu verwickeln, da beide Seiten mit anthropozentrischen Waffen arbeiten und Kombattanten sich verstecken und ausweichen können.
Nach der Einführung von Synsekten hätten solche Soldaten der Dritten Welt keine Chance mehr – sie würden in kurzer Zeit aufgespürt und vernichtet werden. Das Machtgefälle zwischen technisch hochentwickelten Staaten und allen anderen würde sich noch einmal drastisch vergrößern. Wahrscheinlich würden die USA, Japan, Israel, einige europäische Länder und China versuchen, eigene Synsektenproduzenten am Export in Drittstaaten zu hindern, um die technische Überlegenheit möglichst lange zu nutzen – so wie es heute bei Atomwaffen der Fall ist.
Die klassische Kriegsführung wird obsolet
Abgesehen vom Transport von Synsekten über große Distanzen, für die gegebenenfalls noch den heutigen Transportmitteln ähnliche Systeme genutzt würden, wären dann, wie Lem es erwartet hat, alle Formen der klassischen Kriegsführung obsolet. Selbst Kernwaffen erschienen dann als primitive Waffentypen. Von der klassischen Armee blieben nur noch die Offiziere zurück, deren Aufgabe es wäre, die Beschaffung und den Einsatz der Synsektenarmeen von sicheren Orten aus zu planen und zu steuern. An dieser Stelle zeigt sich übrigens eine Inkonsistenz bei Lem – er beschreibt den Ersatz der Offiziere durch Rechner. Dies widerspricht jedoch der von ihm anfänglich geäußerten und gut begründeten Skepsis hinsichtlich der Möglichkeiten von KI.
Denkbar ist selbstverständlich auch, was Lem nicht darstellt, der Einsatz von Synsekten im Inneren, nach dem Schema Jörg Baberowskis, der ausgeführt hat, wie sich ein moderner Staat die mächtigen technischen und bürokratischen Apparate unserer Zeit zu eigen machen kann, um sie gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen. [8] Diese Vision einer Synsektenpolizei ist sicherlich dystopisch. Doch zeigt die Geschichte, dass technische Potenziale früher oder später stets irgendwie gesellschaftlich genutzt werden.
Wie lange wird es noch dauern, bis Synsekten humane Soldaten und Polizisten und deren anthropozentrische Kampfausrüstung und -maschinen ablösen? Der israelische Politiker Ayoub Kara sagte 2017, dass Israel an mechanischen Insekten zur gezielten Ausschaltung islamischer Terroristen arbeite und diese in wenigen Jahren einsetzen könne. [9] Ob es so schnell geht, wissen wir nicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch werden Synsektenarmeen noch im 21. Jahrhundert zum Einsatz kommen. Auch sie entstammen letztlich der Büchse der Pandora, die mit dem Beginn der modernen Mathematik im 17. Jahrhundert geöffnet worden ist.
[1] Mit für uns bedrohlichen Folgen. Vgl. Siegen von Parviz Amoghli und Alexander Meschnig, Lüdinghausen/Berlin 2018.
[2] Beispielsweise in The Mask of Command, London 1987, und in A history of Warfare, London 1993.
[3] “Getting to grips with military robotics”, in: The Economist, London, 25.01.2018.
[4] “Die fliegenden Synsekten wurden zu einer Art Verschmelzung von Flugzeug, Pilot und Geschoss zu einer Miniatureinheit.” S. 58 der deutschsprachigen Ausgabe, Frankfurt/Main 1983.
[5] Wolfgang Sofsky: Verteidigung des Privaten. München 2007.
[6] Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Berlin 1832-34.
[7] Aus der Sicht des Datendarstellungs-Spezialisten Edward Tufte (The Visual Display of Quantitative Information, Connecticut 1984) „probably the best statistical graphic ever drawn“.
[8] Jörg Baberowski: Räume der Gewalt. Frankfurt/Main 2015.
[9] Jerusalem Post
Dieser Beitrag erschien zuerst in Tumult, Vierteljahreszeitschrift für Konsensstörung, Ausgabe Herbst 2018