Im Zuge der Mobilmachung von September 2022 hat der Kreml mehr als 120 neue Militäreinheiten geschaffen. Eine Studie zeigt, dass ein Drittel der Einberufenen zum Verlustausgleich in Kadereinheiten versetzt wurde. Unterdessen hat Putin im Waldai-Club eine aufschlussreiche Rede gehalten.
Vor einem Jahr hat das russische Verteidigungsministerium eine bis dahin unantastbare erscheinende Grenze überschritten. Infolge der am 21. September 2022 erklärten Teilmobilmachung wurden den Streitkräften wenigstens 300.000 Mann zugeführt (Achgut berichtete). Um diesen Zustrom zu bewältigen, hat der Generalstab 123 neue Militäreinheiten gebildet.
In einer Studie des Conflict Intelligence Team (CIT), die mit dem Jahrestag der Teilmobilmachung in Russland zusammenfiel, wurde untersucht, wie genau die mobilisierten Rekruten auf die Militäreinheiten verteilt wurden und wie lange es gedauert hat, bis sie die Frontlinie in der Ukraine erreichten. Wie die Analysten herausfanden, hat der Generalstab die einberufenen Reservisten vornehmlich für zwei Aufgaben verwendet: und zwar für die Bildung neuer Einheiten sowie für den Ausgleich oder die teilweise Kompensation von Verlusten in regulären Formationen.
Dazu bestand dringender Anlass. Denn in den ersten sechs Monaten des Krieges wurden praktisch alle Einheiten des Heeres, der Luftlandetruppen und der Marineinfanterie an der Front eingesetzt, wo sie teils schwere Verluste erlitten. Nach Schätzungen des CIT waren Ende September 2022 praktisch alle militärischen Einheiten mit einem erheblichen Personalmangel konfrontiert:
Die tödlichen Verluste der russischen Truppen könnten sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf 20.000 bis 25.000 Menschen belaufen haben, wodurch die eingesetzten Einheiten mit gesamten Ausfällen in Höhe von 55.000 bis 70.000 Menschen betroffen waren. Die Autoren der Studie kommen daher zu dem Schluss, dass von den 300.000 mobilisierten Soldaten insgesamt 90.000 zur Aufstockung des Personals der Kadereinheiten entsandt wurden.
Die Verteilung der Mobilisierten erfolgte innerhalb der einzelnen Militärbezirke. Demnach wurden die Einwohner einer bestimmten Oblast entweder in regionale Ausbildungszentren entsandt oder aber in solche geschickt, die sich in einer benachbarten Region befanden. Demnach wurde etwa die 90. Panzerdivision des Zentralen Militärbezirks, die in Tschebarkul (Oblast Swerdlowsk) stationiert ist, mit mobilisierten Soldaten aus den Gebieten Tscheljabinsk, Irkutsk, Swerdlowsk, Pensa, Nowosibirsk, Tjumen und der Republik Altai aufgefüllt. Und die 1. Panzerarmee des westlichen Militärbezirks, deren Einheiten sich hauptsächlich im Moskauer Gebiet befanden, entsandte Rekruten aus Moskau, den Vororten der Hauptstadt, den Regionen Kaluga, Jaroslawl, Tula, Wologda und Wladimir.
Mobilisierte Truppen wurden vor allem für die Luftlandetruppen und die Marineinfanterie benötigt, die als die Elite der russischen Streitkräfte gelten. Trotz oder vielleicht gerade aufgrund dieser Tatsache haben die betreffenden Truppengattungen ganz erhebliche Verluste erlitten.
Nach 14 Tagen an die Front
In den ersten Monaten des Krieges waren sie für zahlreiche Operationen an bzw. hinter der Front eingesetzt worden. Später wurden die für ihre Auffrischung vorgesehenen Soldaten aber nicht anhand ihrer Qualifikation ausgewählt. Stattdessen wurden die vormaligen Eliteeinheiten einfach gemäß den genannten geografischen Kriterien besetzt. Das hatte eine signifikante Schwächung ihrer Kampfkraft zur Folge.
Besonders brisant ist die Erkenntnis, wonach einige der in die Kadereinheiten entsandten Rekruten bereits vierzehn Tage nach ihrer Mobilmachung an die Front kamen. Dabei wurden sie vor allem in das Gebiet Swatowo-Kremenna in der Region Luhansk verlegt, wo gerade die Offensive der Ukraine erfolgte.
Die hier eilig an die Front geworfenen Rekruten waren hauptsächlich im westlichen Militärbezirk mobilisiert worden, insbesondere bei der 20. Panzerarmee, dem 11. Armeekorps und der 1. Panzerarmee. Gleichzeitig wurden sie nicht nur für defensive, sondern auch für offensive Aktionen an der Front rekrutiert. Die verbleibenden 200.000 mobilisierten Männer wurden hingegen auf neue Einheiten verteilt. Diese hatte man ab Herbst 2022 aufgestellt und damit also speziell für die Mobilisierung geschaffen. Um sie von den Kadereinheiten zu unterscheiden, wurden sie als „Regimenter der territorialen Truppen“ bezeichnet.
Insgesamt hat das CIT 123 solcher Einheiten identifiziert. Er geht allerdings davon aus, dass ihre tatsächliche Zahl noch höher sein könnte. Bei dem Großteil der neuen Einheiten handelt es sich um motorisierte Schützenregimenter. Die Autoren der Studie konnten 77 von ihnen ermitteln. Das CIT fand zudem auch Hinweise auf 18 separate motorisierte Schützenbataillone, fünf Pionier- und fünf Panzerregimenter, sieben Artillerieregimenter und 11 Artilleriedivisionen.
Wie bei den Kadereinheiten wurden die neuen Einheiten in Ausbildungszentren auf geografischer Basis gebildet. Einige der neuen Einheiten wurden ebenfalls fast sofort an die Front geschickt, meist in dieselbe Richtung wie Swatowo-Kremenna.
Das CIT macht keine genauen Angaben über die Zahl der mobilisierten Männer, die ohne entsprechende Ausbildung an die Front geschickt wurden. Es stellt jedoch fest, dass die meisten neuen Einheiten zunächst in den Ausbildungszentren verblieben und über die russischen Grenzregionen sukzessive in das Kampfgebiet verlegt wurden. Im Allgemeinen war dieser Prozess bis Januar 2023 abgeschlossen. Einige der neuen Einheiten dienten dann als Reservoir für die Auffüllung von Kaderformationen.
Ein eigenes Häftlings-Regiment
Investigative Journalisten entdeckten zudem auch eine ganz neue Art von russischen Einheiten, die sogenannten „separaten Reservebataillone“. Diese stehen nicht in direktem Zusammenhang mit der Mobilisierung und wurden erst im Winter 2022 geschaffen. Das passierte wahrscheinlich, um im Hintergrund die Auffüllung der Kadereinheiten vorzubereiten, die sowohl den mobilisierten als auch den Vertragssoldaten dienen.
Darüber hinaus identifizierte das CIT eine weitere neue Formation, das 378. Regiment, welches auch als „Sturmausbildungsregiment Z“ bezeichnet wird. Zu ihm gehören Einheiten, die hauptsächlich aus ehemaligen Häftlingen gebildet werden. Diese hatten zuvor Verträge mit dem russischen Verteidigungsministerium unterzeichnet. Das 378. Regiment erfüllt somit die Funktion eines eigenen Reservebataillons, ist allerdings nur für die Ausbildung ehemaliger Häftlinge zuständig.
Die Autoren der Studie nennen die Flexibilität ihres Einsatzes als Hauptunterschied zwischen den neuen und den regulären Formationen. Mobilisierungseinheiten würden demnach häufig von einem Militärbezirk in einen anderen verlegt, verschiedenen Kommandos unterstellt, in Unterabteilungen aufgeteilt und sogar aufgelöst.
Die Studie des CIT ist jedoch nicht die einzige Quelle neuer Erkenntnisse, die in der letzten Woche zutage getreten sind. Am 5. Oktober 2023 hat Wladimir Putin an der Plenarsitzung der 20. Waldai-Konferenz teilgenommen und erneut tiefe Einblicke in die Position Russlands eröffnet.
Im Rahmen eines dreieinhalbstündigen Auftritts kritisierte Putin den Westen und dessen Einfluss in der Welt. Zudem warf er seinen Mitgliedern eine feindselige Haltung gegenüber Russland vor. In einer Diskussion mit anderen Teilnehmern des Treffens beantwortete Putin an ihn gerichtete Fragen.
Wladimir Putin begann seinen Vortrag mit der Feststellung, dass Russland sich, als man vor fast 20 Jahren erstmals im Waldai-Club zusammengekommen sei, in einer neuen Entwicklungsphase befunden habe. Seine Mitglieder hätten sich seither mit all ihrer Energie dem Aufbau einer neuen, gerechteren Welt verschrieben.
Ihre Bereitschaft zur konstruktiven Zusammenarbeit sei von einigen als Zeichen von Russlands Bereitschaft missverstanden worden, sich von fremden Interessen leiten zu lassen. In all den Jahren habe der Waldai-Club immer wieder davor gewarnt, dass ein solcher Ansatz die wachsende Gefahr eines militärischen Konflikts berge, aber niemand habe seine Wortführer hören wollen.
Putins Ideologie-Bausteine
Putin fuhr fort, dass die Arroganz der so genannten Partner im Westen unerträglich gewesen sei. Die USA und ihre Verbündeten seien fest entschlossen gewesen, in militärischer, politischer, wirtschaftlicher, kultureller und moralischer Hinsicht die globale Vorherrschaft zu erlangen. Der Wohlstand des Westens sei ausschließlich auf Kosten der Ausplünderung der Kolonien und des gesamten Planeten erreicht worden, und seine Geschichte sei im Wesentlichen eine Chronik endloser Expansion.
Der russische Präsident betonte, dass Russland den ständig wachsenden militärischen und politischen Druck bewältigen müsse. Er habe schon oft gesagt, dass Russland den so genannten „Krieg in der Ukraine“ nicht begonnen, sondern lediglich versucht habe, ihn zu beenden. Der Krieg, den hingegen das Kiewer Regime mit direkter Unterstützung des Westens gestartet habe, gehe nun ins zehnte Jahr, und die spezielle Militäroperation ziele darauf ab, ihn zu beenden.
Bei der Ukraine-Krise handle es sich daher nicht um einen territorialen Konflikt, sondern um ein viel umfassenderes und grundlegendes Thema: nämlich die Prinzipien, auf denen die neue Weltordnung beruhen solle. Putin fügte hinzu, dass der Westen immer einen Feind brauche und dass Russland in dieser Optik ein bevorzugtes Thema für westliche Politiker sei. Die westlichen Eliten versuchten, ein universelles Feindbild für Staaten zu schaffen, die sich unabhängig verhielten, ganz egal, ob China, Indien, die arabischen Länder oder die Muslime.
Die USA wiederum drängten Europa dazu, ihre Sicherheits- und Wirtschaftslösungen zu übernehmen. Westliche „Kollegen“, insbesondere aus den USA, gäben in rüpelhafter Art und Weise vor, wie sich andere Staaten verhalten sollten. Dies sei für Russland inakzeptabel. Auf die Militarisierung der russischen Wirtschaft angesprochen, erklärte Putin, der Staat habe zwar die Ausgaben für die Verteidigung zwar erhöht, die zusätzlichen Mittel gölten jedoch vor allem auch der Gewährleistung der Sicherheit:
„Sie [die Mittel] haben sich ungefähr verdoppelt. Es waren etwa drei Prozent, und jetzt sind es etwa sechs Prozent. Die Behauptung, wir gäben zu viel Geld für Waffen aus und hätten das Öl vergessen, ist nicht wahr. Ich möchte betonen, dass alle angekündigten Entwicklungspläne, die Erreichung strategischer Ziele und alle sozialen Verpflichtungen, die der Staat gegenüber der Bevölkerung eingegangen ist, vollständig umgesetzt werden.“
Schließlich äußerte Putin, dass die ukrainische Wirtschaft ohne externe Unterstützung nicht existieren könne. Alles werde dort von außen am Leben gehalten. Hierzu stellte er die Frage, auf wessen Kosten dies geschehe. Er erwähnte, dass monatliche milliardenschwere Finanzspritzen notwendig seien und betonte, dass wenn diese gestoppt würden, alles innerhalb einer Woche den Bach hinuntergehen würde. Gleiches gelte auch für das Verteidigungssystem. Würden die Lieferungen morgen eingestellt, so Putin, könne die Ukraine nur noch eine Woche überleben. Er merkte an, dass im Westen allmählich die Munition knapp werde.
Prigoschin und Pipelines
Schließlich gab Putin dann auch noch brisante Neuigkeiten in Bezug auf den Tod von Jewgenij Prigoschin bekannt. Demnach habe er vom Leiter der Untersuchungskommission erfahren, dass in den Körpern der beim Flugzeugabsturz Getöteten Splitter von Handgranaten gefunden worden seien. Es habe zudem keine äußeren Einwirkungen auf das Flugzeug gegeben. Bei diesem Befund handele es sich um eine unstrittige Tatsache, die auf den Ergebnissen des vom Untersuchungskomitee der Russischen Föderation durchgeführten Gutachtens basiere.
Putin bedauerte, dass kein Gutachten zur Feststellung von Alkohol oder Drogen im Blut der Verstorbenen erstellt worden sei, obwohl bekannt gewesen sei, dass der FSB bei der Durchsuchung des Wagner-Hauptquartiers nicht nur 10 Milliarden Rubel in bar, sondern auch fünf Kilogramm Kokain gefunden habe.
An die Bundesregierung gerichtet, machte Putin das Angebot, die letzte intakte Pipeline von Nord Stream-2 für den Bezug von russischem Gas zu nutzen. Zur Sprengung der Anlage äußerte er:
„Es gibt noch eine weitere Komponente bei diesem ganzen Problem. Wenn jemals herausgefunden wird, wer dies getan hat, muss er natürlich vor Gericht gestellt werden. Dies ist ein Akt des internationalen Terrorismus. Aber ein Zweig von Nord Stream 2 bleibt bestehen. Er ist nicht beschädigt, und 27,5 Milliarden Kubikmeter Gas können durch ihn nach Europa geliefert werden.
Dies ist lediglich eine Entscheidung der Bundesregierung. Mehr ist nicht nötig. Heute wird die Entscheidung getroffen, morgen drehen wir das Ventil auf und schon fließt das Gas. Aber sie tun es zum Schaden ihrer eigenen Interessen nicht, weil das Washingtoner Oberkommando es nicht zulässt.“
Wie groß das Interesse Russlands am Rohstoffexport nach Europa tatsächlich ist, lässt sich kaum mit Gewissheit sagen.