Der ungarische Ministerpräsident, derzeit Ratsvorsitzender EU, hält während der Sommeruniversität traditionell eine Rede zur Weltlage. Darin beschreibt er seine Ansichten zu Entwicklungen in der internationalen Politik. Achgut.com dokumentiert diese Rede aus aktuellem Anlass.
Achgut.com dokumentiert hier Auszüge aus Viktor Orbáns Rede auf der 33. Jahresveranstaltung der Sommeruniversität in Tusnádfürdö, Siebenbürgen (Rumänien) 27. Juli 2024.
(...) Der russisch-ukrainischer Krieg hat unsere Augen für die Realität geöffnet. Es ist wie im Film „Matrix“, in dem der Held zwischen einer blauen und einer roten Tablette wählen muss. Wenn er die blaue wählt, dann verbleibt er in der Welt des Scheins, wenn er sich aber für die rote entscheidet, dann kann er die Wirklichkeit sehen. Der Krieg ist unsere rote Pille. (...) Wir erkennen neue Zusammenhänge, die Kraftfelder zeigen sich in Klarheit. In dieser echten Realität verlieren die Ideologien ihre Kraft, ebenso die statistischen Manipulationen, die Verzerrungen der Medien und die taktischen Schwindeleien der Politiker. (...) Ich werde jetzt all das, was wir seit 2022 nach Einnahme der roten Pille erkennen konnten, in zehn Punkten zusammenfassen.
Erstens. Beide Teilnehmer dieses Krieges erleiden schreckliche Verluste, die sich in Hunderttausenden messen. Trotzdem sind beide nicht zu einem Kompromiss bereit. Warum ist das so? Es gibt dafür zwei Gründe. Zum einen glauben beide, dass sie gewinnen können, und sie wollen kämpfen bis zum Sieg. Zum anderen sind beide von ihrer eigenen Wahrheit beseelt. Die Ukrainer glauben, dass dies eine russische Invasion sei, die das internationale Recht und ihre nationale Souveränität verletzt, dass sie sich selbst verteidigen und einen nationalen Befreiungskrieg führen. Die Russen denken, dass die NATO der Ukraine sehr bedeutende militärische Entwicklungen ermöglicht hat, der Ukraine wurde die NATO-Mitgliedschaft versprochen. Sie dagegen wollen an der ukrainisch-russischen Grenze weder NATO-Truppen noch NATO-Waffen sehen. Deshalb habe Russland das Recht zur Selbstverteidigung, es gehe hier in Wirklichkeit um einen provozierten Krieg. Beide Parteien haben also ihre eigene Wahrheit, egal ob wahr oder falsch, und deshalb werden sie den Krieg nicht aufgeben. Das führt auf geradem Wege in die Eskalation, und wenn es an den beiden Teilnehmern liegt, wird es keinen Frieden geben. Der kann nur von außen kommen.
Zweitens. In den vergangenen Jahren haben die Vereinigten Staaten China als ihren größten Herausforderer oder Gegner angesehen. Jetzt aber führen sie einen Stellvertreterkrieg gegen Russland. Dabei klagen sie China fortdauernd an, hinterrücks Russland zu unterstützen. Wenn das so ist, muss die Frage erlaubt sein, warum es sinnvoll ist, zwei so mächtige Staaten zu einem feindlichen Lager zusammenzutreiben. Diese Frage ist bis jetzt unbeantwortet geblieben.
Drittens. Die Stärke und die Widerstandskraft der Ukraine haben jede Erwartung übertroffen. Immerhin haben seit 1991 elf Millionen Menschen das Land verlassen. Es ist von Oligarchen beherrscht, die Korruption reicht bis in den Himmel, der Staat war praktisch nicht funktionsfähig, und jetzt sehen wir trotzdem, dass sie einen beispiellos starken, erfolgreichen Widerstand leisten.
Trotz der beschriebenen Zustände ist die Ukraine ein starkes Land. Warum ist das so? Abgesehen von ihrer militärischen Vergangenheit und dem persönlichen Mut der Menschen gibt es da etwas, war wir begreifen müssen. Die Ukraine hat eine Berufung für sich gefunden, sie hat einen neuen Sinn ihrer Existenz entdeckt. Bis vor Kurzem hat die Ukraine sich selbst als eine Kollisionszone verstanden. Kollisionszone zu sein, ist ein betrüblicher Seelenzustand. Das Gefühl der Hilflosigkeit dominiert, man glaubt nicht, Herr über das eigene Schicksal zu sein. Das folgt aus dem Zustand, zwischen den Welten zu sein. Nun aber blitzte die Perspektive auf, zum Westen gehören zu können und damit eine neue, selbstgewählte Berufung zu finden, nämlich das östliche Grenzschutzgebiet des Westens zu werden. Die Bedeutung und der Sinn der ukrainischen Existenz ist sowohl in der eigenen ukrainischen als auch der weltweiten Sicht enorm angewachsen. Das Land wurde dadurch aktiv und handlungsfreudig, was wir, die keine Ukrainer sind, als aggressive Anspruchshaltung erleben. Und tatsächlich ist diese Haltung ziemlich aggressiv und fordernd und entspricht dem Anspruch der Ukrainer nach internationaler Anerkennung. Das gibt ihnen die Kraft für diesen beispiellosen Widerstand.
Viertens. Russland ist anders, als wir es bisher gesehen haben, und anders als man es uns bisher hat sehen lassen wollen. Russlands wirtschaftliche Lebensfähigkeit ist enorm. Ich nehme ja an den Sitzungen des Europäischen Rates teil, und kann mich gut daran erinnern, als die großen Führer Europas in Begleitung bestimmter Gesten ziemlich selbstherrlich erklärt hatten, dass die Sanktionen gegen Russland, der Ausschluss aus dem SWIFT-System, die russische Wirtschaft und dadurch die russische Politik in die Knie zwingen werden. Davon fällt mir ein Mike Tyson zugeschriebener Spruch ein, der einmal gesagt haben soll, dass jeder einen Plan hat, bis er eine gelangt bekommt.
Die Realität ist, dass die Russen nach der Eroberung der Krim 2014 ihre Schlussfolgerungen aus den damaligen Sanktionen gezogen haben. Diese Schlussfolgerungen haben sie auch umgesetzt. Sie haben die notwendigen Fortentwicklungen in der Informatik und im Bankenwesen vorgenommen. Deshalb kollabiert das russische Finanzsystem nicht. Sie haben Fähigkeiten zur Adaptation entwickelt, wir Ungarn sind selbst Opfer dessen. Wir können wegen den Sanktionen nicht wie bis dahin einen guten Teil unserer Lebensmittelproduktion nach Russland exportieren. Die Russen, die früher auf Importe angewiesen waren, haben ihre Landwirtschaft modernisiert und gehören heute zu den großen Lebensmittelexporteuren der Welt. Das heißt, wenn man Russland als eine starre, neostalinistische Autokratie beschreibt, dann stimmt das nicht, in Wirklichkeit ist es ein Land, das technische, wirtschaftliche und – vielleicht eines Tages – gesellschaftliche Anpassungsfähigkeit kennzeichnet.
Fünftens. Eine weitere Erkenntnis der Realität ist, dass die europäische Politik zusammengebrochen ist. Europa hat aufgegeben, seine eigenen Interessen zu verteidigen. Europa folgt heute nur noch der Außenpolitik der amerikanischen Demokraten – selbst um den Preis der Selbstvernichtung. Die eingeführten Sanktionen verletzen grundlegende europäische Interessen, verteuern die Energie und zerstören die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft. Wir haben wortlos der Sprengung der Nordstream-Leitungen zugesehen, Deutschland hat den – offensichtlich unter amerikanischer Leitung stattgefundenen – Terroranschlag gegen ein eigenes Vermögensobjekt wortlos hingenommen, wir reden nicht darüber, wir untersuchen es nicht, wir wollen es nicht juristisch klären, ebenso wie damals, als mit Hilfe Dänemarks Angela Merkel abgehört wurde. Das sind Akte der Unterwerfung.
Und hier gibt es noch einen komplexen Zusammenhang, den ich kurz darstellen will. Die europäische Politik ist auch deshalb seit dem Beginn des russisch-ukrainischen Krieges zusammengebrochen, weil das Rückgrat des europäischen Machtgefüges, die Achse Berlin-Paris, das bis dahin nicht zu umgehen war, nicht mehr existiert. Seit Beginn des Krieges ist ein anderes Zentrum, eine andere Machtachse ausgebaut worden. Die Achse Berlin-Paris ist unbedeutend, vernachlässigbar geworden. Das neue Machtzentrum, die neue Achse besteht aus London, Warschau, Kiew, den Balten und den Skandinaviern.
Glauben Sie bloß nicht, dass der deutsche Kanzler den Verstand verloren hat, wenn er an einem Tag erklärt, dass er nur Helme in die Ukraine schickt, aber eine Woche später sagt, wir schicken auch Waffen. Wenn er an einem Tag sagt, dass die Sanktionen nicht die Energieträger betreffen können, sich jedoch zwei Wochen später an die Spitze der Sanktionspolitik stellt. Es ist genau umgekehrt! Er ist sehr wohl bei Verstand! Er sieht sehr genau, dass die deutsch-französische Politik, die nicht den amerikanischen Interessen entspricht, von den Universitäten, den Think-tanks, den Forschungsinstituten, den Medien, von all den Instrumenten, die die öffentliche Meinung bestimmen, gnadenlos abgestraft wird. Das erklärt die merkwürdigen Kehrtwendungen des deutschen Kanzlers.
Dass das bisherige europäische Machtzentrum verändert, die deutsch-französische Achse umgangen werden soll, ist keine neue Idee. Sie konnte aber erst durch den Krieg verwirklicht werden. Die Idee ist in Wirklichkeit ein alter polnischer Plan, mit dem das polnische Problem, das Eingezwängtsein zwischen den beiden großen Mächten Deutschland und Russland, so gelöst werden soll, dass Polen zum größten amerikanischen Stützpunkt in Europa wird. Man könnte es so formulieren: Sie rufen die Amerikaner zu sich, zwischen die Russen und die Deutschen. Die Polen verwenden heute fünf Prozent des BIP für Rüstung, die polnische Armee ist gleich nach der französischen die zweitgrößte in Europa. Das ist ein alter Plan, Russland zu schwächen und wirtschaftlich über Deutschland hinauszuwachsen. Letzteres klingt zunächst als eine Phantasmagorie. Aber wenn wir die deutsche und die polnische Wirtschaftsdynamik miteinander vergleichen, erscheint die Erwartung nicht mehr unmöglich, insbesondere dann nicht, wenn Deutschland seine weltweit führende Industrie weiter vernichtet.
Für diese Strategie hat Polen die Zusammenarbeit innerhalb der V4 aufgegeben. Das Konzept V4 hat etwas anderes bedeutet. V4 bedeutet, dass wir die Existenz eines starken Deutschlands und eines starken Russlands zur Kenntnis nehmen, und dabei erschaffen wir durch die Zusammenarbeit der mitteleuropäischen Länder einen dritten Faktor. Die Polen haben dieses Projekt aufgegeben, statt der Strategie der Akzeptanz der deutsch-französischen Achse haben sie sich für die Strategie der Eliminierung der deutsch-französischen Achse entschieden. (...) Wie groß die Veränderungen sind, die durch die Eliminierung der deutsch-französischen Achse entstehen, kann man ermessen, wenn man an die Zeit vor zwanzig Jahren zurückdenkt. Damals haben Kanzler Schröder, Präsident Chirac und Präsident Putin eine gemeinsame Pressekonferenz gegen den Irak-Krieg abgehalten. Damals existierte noch eine eigenständige, der deutsch-französischen Logik entsprechende Denkweise über die europäischen Interessen. Die ungarische Friedensmission soll darüber hinaus, dass sie dem Frieden dient, darauf drängen, dass Europa endlich seine eigenständige Politik verfolgt.
Sechstens. Die rote Pille zeigt uns die geistige Einsamkeit des Westens. Bisher hat der Westen als eine Art Maßstab für die ganze Welt gegolten. Er lieferte die Werte, die die Welt zu akzeptieren hatte. So die liberale Demokratie und die grüne Wende, was die Welt im Wesentlichen zur Kenntnis genommen hat. Doch während der vergangenen zwei Jahre hat eine Wende um 180 Grad stattgefunden. Der Westen hat seine Erwartung kundgetan, ja sogar Anweisung gegeben, dass die Welt gegen Russland und auf moralischer Grundlage für den Westen Position beziehen soll. Die Realität dagegen ist, dass langsam fast alle Russland unterstützen. Dass China und Nordkorea für Russland sind, ist keine große Überraschung. Aber dass der Iran das auch tut, ist in Anbetracht der iranischen Geschichte und seiner bisherigen Beziehung zu Russland doch einigermaßen überraschend. Dass jedoch auch Indien, das von der westlichen Welt als die größte Demokratie der Welt bezeichnet wird, ebenfalls auf der Seite der Russen steht, ist doch verblüffend. Ebenso verblüffend ist es, dass das NATO-Mitglied Türkei nicht bereit ist, die moralische Erwartung des Westens zu akzeptieren, und schließlich ist es vollkommen neu, dass die islamische Welt Russland nicht als Feind, sondern als Partner betrachtet.
Siebtens. Der Krieg hat enthüllt, dass zur Zeit das größte Problem der Welt die Schwäche, beziehungsweise der Zerfall des Westens ist. Die westlichen Medien behaupten zwar etwas anderes, nämlich, dass die größte Gefahr für die Welt Russland bedeute. Das ist ein Irrtum! Russland ist gemessen an seiner Bevölkerung jetzt schon viel zu groß. Es steht unter einer hyperrationalen Führung, ja, es ist ein Land mit Führung. In dem, was es tut, gibt es nichts Geheimnisvolles, seine Taten folgen logisch aus seinen Interessen und sind deshalb verständlich und berechenbar. Das Verhalten des Westens dagegen ist weder verständlich noch berechenbar. Mit der Herausforderung des Aufstieg Chinas beziehungsweise Asiens sind wir nicht imstande umzugehen.
Achtens. Daraus folgt, dass die wirkliche Aufgabe für uns Mitteleuropäer das erneute Verstehen des Westens im Lichte des Krieges ist. Wir Mitteleuropäer halten den Westen für irrational. Aber was ist, wenn er sich doch logisch verhält, nur wir verstehen seine Logik nicht? Wenn sein Handeln logisch ist, müssen wir uns fragen, warum wir ihn nicht verstehen. Wenn wir darauf eine Antwort finden, dann werden wir auch verstehen, warum Ungarn in geopolitischen und außenpolitischen Fragen regelmäßig mit den westlichen Mitgliedern der EU kollidiert.
In unserem mitteleuropäischen Weltbild besteht die Welt aus Nationalstaaten. Während der Westen – für uns schwer nachvollziehbar – denkt, dass es keine Nationalstaaten mehr gebe, und deshalb das Koordinatensystem des mitteleuropäischen Denkens vollkommen irrelevant sei. Unserer Auffassung nach besteht die Welt aus Nationalstaaten, die zu Hause das Gewaltmonopol ausüben und so den gesellschaftlichen Frieden wahren. Den anderen Staaten gegenüber ist der Nationalstaat souverän, bestimmt eigenständig seine Innen- und Außenpolitik. Der Nationalstaat ist keine juristische Abstraktion und Konstruktion, er wurzelt in einer gegebenen Kultur. Er hat ein gemeinsames Wertesystem, eine anthropologische und historische Tiefe, daraus entstehen die auf der nationalen Übereinkunft beruhenden gemeinsamen moralischen Grundlagen. (...)
Der Westen dagegen denkt, dass es keine Nationalstaaten mehr gebe. Er verneint deshalb die Existenz einer gemeinsamen Kultur und der darauf aufbauenden gemeinsamen Moral. Es gibt keine gemeinsame Moral. Davon handelte gestern die Eröffnung der Olympischen Spiele. Deshalb denkt man im Westen auch über die Migration anders. Man meint, sie sei keine Gefahr, sondern im Gegenteil eine Chance, endlich die ethnische Homogenität loszuwerden, die das Fundament der Nation bildet. Das ist die Essenz der progressiv-liberalen Auffassung vom internationalen Raum. (...)
Die Europäische Union denkt nicht nur das alles, sondern deklariert es auch. Wenn wir die europäischen Dokumente richtig verstehen, dann ist das Ziel die Überwindung der Nation. Entscheidend ist, dass die Kompetenzen und die Souveränität von den Nationalstaaten auf Brüssel übergehen. Das ist die Logik hinter allen Maßnahmen. In der EU glaubt man, dass der Nationalstaat ein historisches, also ein vorübergehendes Gebilde sei, das im 18. und 19. Jahrhundert entstanden war. Wie er gekommen ist, so kann er auch verschwinden. Der Westen Europas befindet sich schon im postnationalen Zustand. Dadurch entsteht nicht nur eine neue politische Lage, sondern auch ein neuer mentaler Raum. (...)
In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts waren zwei große Illusionen entstanden, ihre Träger waren die sexuelle Revolution und die Studentenrevolten. Sie waren Ausdruck des Glaubens, dass das Individuum freier und größer wird, wenn es sich von allen Gemeinschaften loslöst. Seitdem hat es sich gezeigt, dass es gerade umgekehrt ist: Nur durch die Gemeinschaft und in der Gemeinschaft kann der Mensch groß werden, allein wird er nie frei, sondern einsam und ist zur Schrumpfung verurteilt. Im Westen hat man sich Schritt für Schritt von allen metaphysischen Bindungen befreit, von Gott, dem Vaterland und der Familie. Jetzt, wo sie sich von allem befreit haben, empfinden sie eine große Leere. Sie sind nicht groß, sondern klein geworden. Im Westen strebt man nicht mehr nach großen Idealen, nach großen, gemeinsamen Zielsetzungen. (...)
Zwischen Mittel- und Westeuropa handelt es sich nicht um Meinungsunterschiede, sondern um verschiedene Weltbilder, Mentalitäten, Instinkten und Argumentationsweisen. Der Nationalstaat zwingt uns Mitteleuropäer zu strategischem Realismus. Der westliche postnationale Wunschtraum ist empfindungslos gegenüber der nationalen Souveränität, kennt keine nationale Größe und keine gemeinsamen nationalen Ziele.
Neuntens. Der postnationale Zustand, den wir im Westen beobachten, hat eine schwere, ja dramatische politische Folge, die die Demokratie erschüttert. Der gesellschaftliche Widerstand gegen die Migration, die Gender-Politik, den Krieg und den Globalismus ist immer stärker geworden. Dadurch entsteht das Problem des Widerspruchs zwischen Elite und Volk, zwischen Elitismus und Populismus. (...) Die Eliten verurteilen das Volk, das dadurch immer mehr nach rechts driftet. Die Empfindungen und Gedanken des Volkes bewerten sie als Fremdenfeindlichkeit, Homophobie und Nationalismus. Im Gegenzug verdächtigt das Volk die Elite, dass sie sich nicht um die Dinge kümmert, die ihr wichtig sind, und stattdessen in einem unsinnigen Globalismus versinkt. Volk und Eliten sind nicht übereingekommen, wie sie zusammenarbeiten sollen. Das sehen wir in vielen Ländern. Wie aber soll unter diesen Umständen eine repräsentative Demokratie funktionieren? Denn nicht nur, dass die Elite die Menschen nicht repräsentieren will, sie ist sogar stolz darauf, und so steht das Volk ohne Repräsentation da. (...)
Nur so kann man die stattgefundenen europäischen Wahlen verstehen. Die Europäische Volkspartei hat rechte Stimmen von jenen eingesammelt, die eine Veränderung wollten, und dann nahm sie diese Stimmen mit nach links und einigte sich mit der linken Elite, die den Status quo erhalten will. Die Folge für die EU ist, dass sich Brüssel weiterhin in den Fängen einer liberalen Oligarchie befindet. Diese linksliberale Elite vertritt in Wirklichkeit die transatlantische Elite, sie ist nicht europäisch, sondern global, nicht nationalstaatlich, sondern föderal, und schließlich nicht demokratisch, sondern oligarchisch. (...)
Zehntens. In diesem letzten Punkt will ich davon sprechen, wie die westlichen Werte – die früher die Essenz der soft power des Westens waren – zu einem Bumerang wurden. Es hat sich herausgestellt, dass diese universell gedachten westlichen Werte in immer mehr Ländern demonstrativ nicht akzeptiert, sondern abgelehnt werden. Es hat sich herausgestellt, dass die moderne Entwicklung nicht ausschließlich auf dem westlichen Weg erreichbar ist. Denn modern ist China, immer mehr auch Indien; die Araber, die Türken modernisieren sich auch, und sie bauen keineswegs entlang der westlichen Werte die moderne Welt.
Währenddessen ist aus der westlichen soft power eine russische soft power geworden. Denn seit einiger Zeit ist LGBTQ zum Kern des westlichen Wertesystems geworden, und wer das nicht akzeptiert, wird vom Westen in die Kategorie der Zurückgebliebenen verwiesen. Ist Ihnen aufgefallen, dass im letzten halben Jahr Länder wie die Ukraine, Taiwan und Japan LGBTQ-Gesetze verabschiedet haben? Doch die Mehrheit der Welt ist damit nicht einverstanden, und so kommt es, dass die schärfste taktische Waffe Putins der Widerstand gegen den westlichen Zwang zu LGBTQ geworden ist. Der Widerstand dagegen ist zur stärksten internationalen Anziehungskraft Russlands geworden, und so ist die westliche soft power durch die russische abgelöst worden.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass der Krieg geholfen hat, die wahren Machtverhältnisse in der Welt zu erkennen. Der Westen wird mit seinem Unterfangen scheitern, und damit beschleunigt er jene Bewegungen, die zur Zeit die Welt verändern. (...)
Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung von Krisztina Koenen.