Der Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck weiß Bescheid, und der CDU-Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe weiß auch Bescheid. Sie sind nur zwei von unzähligen Bescheidwissern, die sich in den letzten Tagen und Stunden zu einem medizinischen Fall geäußert haben, der sich auf der anderen Seite der Erde, an der amerikanischen Pazifikküste, ereignet. Die weltweiten Bescheidwisser empören sich über die ärztliche Behandlung eines neuneinhalbjährigen Mädchens, das so schwer gehirngeschädigt ist, daß es sich wie ein kleines Baby verhält. Die Behandlung dieses Mädchens bestand darin, sein Körperwachstum zu stoppen, sodaß es leiblich auf dem Niveau einer Sechsjährigen bleibt – ohne Pubertät, ohne Menstruation, ohne Sexualität. Die weltweiten Bescheidwisser verurteilen diese Behandlung, bezeichnen sie als Verstümmelung und führen eine erregte Debatte über Fragen der Ethik.
Hätten sie vom tragischen Schicksal Ashleys nichts erfahren, hätten sie eine großartige Chance weniger gehabt, ihre hohen ethischen Standards auszustellen. Dafür können sie den Medien richtig dankbar sein. Ja, die Medien danken sich sogar schon selber. Am Samstag schrieb die FAZ: Von der erschütternden Lebensgeschichte eines neuneinhalbjährigen schwerbehinderten Mädchens aus dem amerikanischen Bundesstaat Washington habe die Welt viel zu spät, aber glücklicherweise doch noch erfahren. Was heißt hier „viel zu spät“ und „glücklicherweise“?
Knapp zwei Jahre nach dem ekelhaften Globalrummel um eine amerikanische Wachkomapatientin namens Terri Schiavo macht wieder eine gräßliche Geschichte die Runde, die sich vor allem durch ihre relative Rarität auszeichnet. Die Existenzfragen, die von solchen Geschichten aufgeworfen werden, sind so extrem, daß ihnen der menschliche Hausverstand gar nicht gewachsen ist. Deswegen sind die ethischen Erörterungen, die jetzt die Presse füllen, sinnlos und obszön. Sinnlos, weil es sich um reine moralische Fernfuchtelei, bar jeder genauen Kenntnis der Umstände, handelt; und obszön, weil ethische Fragen, die jeden betreffen, dafür außer Acht bleiben.
Um mit dem Begriffsbesteck eines ethischen Diskurses an eine Sache heranzugehen und allgemeingültige Regeln daraus abzuleiten – denn nur dies kann das Ziel eines solchen Diskurses sein –, darf der Problemkern nicht allzu extravagant, abartig oder singulär sein. Am Fall Ashley besteht kein öffentliches Interesse. Besonders übel aber ist es, daß sich ungesunde Sensationslust wieder einmal als öffentliches Interesse maskiert.