Die Arzt-Werdung des Magdeburger Attentäters Taleb Al-Abdulmohsen offenbart ein geradezu unglaubliches Versagen der damit befassten Institutionen, Behörden und ärztlichen Kollegen. Man hatte es ganz offensichtlich mit einem Betrüger zu tun und verschloss alle Augen davor.
Bisher hat für die vorweihnachtliche Tragödie von Magdeburg niemand die Verantwortung oder auch nur wesentliche Teile davon übernommen, niemand ist zurückgetreten oder wurde gar entlassen. Dabei geht es nicht nur um das ja ganz offensichtlich unzureichende Sicherheitskonzept für den Weihnachtsmarkt. Vielmehr stehen auch die Fragen im Fokus, warum Taleb Al-Abdulmohsen trotz strafrechtlich relevanter Vorkommnisse überhaupt einen praktisch unbefristeten Aufenthaltstitel erhielt und warum ihm trotz gravierender Mängel die ärztliche Approbation samt Facharzttitel erteilt wurde, so dass er in Deutschland als Psychiater über Jahre arbeiten konnte.
Kurz nach dem Massenmord von Magdeburg schrieb ich zur fachlichen Qualifikation des aus Saudi-Arabien stammenden Täters Folgendes: „Nach Aussagen von Mitarbeitern (der Klinik) schien es eher nicht so, dass wir es hier tatsächlich mit einem Arzt oder gar Facharzt zu tun haben könnten. Aber, in diesem Falle trügt der Schein offenbar. Was zu der Frage führt, wie viele Augen wie oft zugedrückt wurden, bis er endlich Facharzt für Psychiatrie war.“
Approbation und Facharzt-Titel werden verramscht
Vor allem dank der Recherchen von Welt-Journalistin Elke Bodderas, dargelegt in ihrem hinter der Bezahlschranke verborgenen Text „Wie deutsche Behörden den Magdeburg-Attentäter zum Psychiater machten“, ergibt sich nun ein klares und eindeutiges Bild, geprägt von einem Schlendrian und dem systematischem Wegschauen bei den beteiligten Ämtern und Organisationen der ärztlichen Selbstverwaltung. Ganz offensichtlich haben alle am hiesigen medizinischen Werdegang von Al-Abdulmohsen wesentlich beteiligten Institutionen und Personen beide Augen immer und immer wieder fest geschlossen gehalten.
Mit dem Ergebnis, dass am Ende in Deutschland eine Person über Jahre als Facharzt für Psychiatrie arbeitete, der weder ein abgeschlossenes Medizinstudium in Saudi-Arabien nachweisen konnte noch seine angebliche dortige vierjährige psychiatrische Weiterbildung. Während Ärzte, die in Deutschland erfolgreich Medizin studiert haben und nach der Approbation den Facharzt für Psychiatrie anstreben, eine mindestens fünf Jahre währende Vollzeittätigkeit in verschiedenen psychiatrischen Bereichen, überwiegend in entsprechenden Kliniken, nachweisen müssen und sich zu guter Letzt, bevor sie den Titel „Arzt für Psychiatrie“ führen dürfen, einer mündlichen Prüfung zu unterziehen haben, wurde Al-Abdulmohsen der Facharzttitel regelrecht nachgeworfen.
Keine aussagefähigen Abschlusszeugnisse vorgelegt
Bekanntlich reiste Al-Abdulmohsen 2006 regulär mit Visum und einem – wie auch immer genau gearteten – Stipendium ausgestattet nach Deutschland ein. Ein Asylantrag wurde erst zehn Jahre später von ihm gestellt. Er behauptete nach der Einreise gegenüber der zuständigen Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern, vier Jahre in Saudi-Arabien als Psychiater gearbeitet zu haben und sich nun in Deutschland zum Facharzt für Psychiatrie ausbilden lassen zu wollen. Damit behauptete er ebenfalls, in Saudi-Arabien ein Medizinstudium erfolgreich absolviert zu haben, denn auch dort, wie eigentlich weltweit, beginnt die Facharztweiterbildung bzw. Spezialisierung erst nach einem – erfolgreich abgeschlossenen – Medizinstudium.
Man mag es kaum glauben, aber ganz offensichtlich legte er der oben genannten Ärztekammer keine aussagefähigen Abschlusszeugnisse seines angeblich erfolgreich absolvierten Medizinstudiums vor. Diese wären dann zur genaueren Prüfung an das Landesprüfungsamt für Heilberufe gegangen und von dort aus, wie meist bei solchen Fällen, an die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen in Bonn. Dort wird dann zum Beispiel geprüft, ob es die angegebene Medizinfakultät in der fraglichen Zeit überhaupt gegeben hat, ob das Zeugnis echt ist, und so weiter und so fort. Nicht selten ist das eine sehr zeitaufwändige Angelegenheit, zumal für die Erteilung einer Approbation noch etliche weitere Dokumente vorgelegt werden müssen. Hinzu kommen noch die zu absolvierende „Kenntnisprüfung“, eine Light-Version des dritten Teils vom deutschen Staatsexamen, und der Nachweis ausreichender deutscher Sprachkenntnisse.
Eigentlich wäre die Angelegenheit angesichts fehlender Abschlusszeugnisse eines Medizinstudiums – und damit ja auch der Aussichtslosigkeit, jemals eine deutsche Approbation zu erlangen – erledigt gewesen. Zumal in Saudi-Arabien in der fraglichen Zeit ja kein Krieg herrschte und damit – im Gegensatz zum Beispiel zu wohl nicht wenigen syrischen Antragstellern – auch nicht das Argument vorgebracht werden konnte, durch einen Bombenangriff oder ähnliches leider alle Unterlagen verloren zu haben. Auch eine Übergangslösung, nämlich eine inhaltlich und auf maximal zwei Jahre eingeschränkte Berufserlaubnis ohne Approbation, die für Ärzte aus Nicht-EU-Ländern, sogenannten Drittstaaten, unter bestimmten Bedingungen möglich ist, wäre angesichts vollständig oder überwiegend fehlender Zeugnisse überhaupt nicht in Betracht gekommen. Das Thema war sozusagen durch.
Ärztliche Tätigkeiten trotz Fehlens jeglicher Qualifikation
Dennoch gelang es Al-Abdulmohsen anschließend, auf Grundlage welcher Dokumente auch immer, in mehreren psychiatrischen, darunter auch universitären Kliniken zu arbeiten. Deren Chefs legten gegenüber der Welt Wert auf die Feststellung, dass er nur hospitiert oder unentgeltlich gearbeitet oder einige Monate geforscht habe. Natürlich auch nicht ganz uninteressant, wenn es denn überhaupt so stimmt, dass jemand in einer deutschen Universitätsklinik ohne jede fachliche Legitimation für einige Monate „forschen“ kann. Aber es kommt noch schlimmer. Denn mindestens dreimal hat er tatsächlich eigenständig als Arzt gearbeitet: sechs Monate als Assistenzarzt im Klinikum Nordstadt, Hannover, zehn Monate als Assistenzarzt in der forensischen Psychiatrie der Helios-Klinik in Stralsund und direkt im Anschluss vier Monate in einer benachbarten Facharztpraxis.
Welche Unterlagen er seinen Bewerbungen beifügte, muss dahingestellt bleiben. Der Verdacht liegt nahe, dass diese Kliniken gefälschten Dokumenten aufgesessen sind und sich vielleicht auch blenden ließen von den sogenannten Forschungsaufenthalten an verschiedenen Uni-Kliniken, möglicherweise auch Zeugnissen, die vieles, nur eben nicht die Realität widerspiegelten. Ob solche Dokumente auch irgendwann einmal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden?
Eine Attentatsdrohung als Kavaliersdelikt
Da die Ärztekammer ihm 2013 die geforderte Approbation und die Zulassung zur Facharztprüfung nicht gewähren wollte, drohte Al-Abdulmohsen der Kammer mit einem Attentat, ähnlich dem kurz zuvor beim Boston-Marathon erfolgten. Damit warf der spätere Massenmörder und Attentäter mehr als deutlich die Frage auf, ob eine solche Person wie er – ganz unabhängig von allen formalen Aspekten – nicht zwingend als unwürdig im Hinblick auf die ärztliche Berufsausübung einzustufen ist. Der Fall wurde auch zur Anzeige gebracht und vom Gericht mit einer geradezu putzig anmutenden Strafe belegt – 90 Tagessätze à 10 Euro. Wie dem auch sei: Zumindest rückblickend dürfte relevanter sein, dass die Ärztekammer diese Drohung von Al-Abdulmohsen nicht zum Anlass nahm, ihm zu attestieren, dass er der Ausübung des ärztlichen Berufes unwürdig sei.
Das wäre es dann gewesen mit jeder Art ärztlicher Tätigkeit in Deutschland, sofern ein Gericht, falls Al-Abdulmohsen dagegen geklagt hätte, diese Einschätzung bestätigt hätte. Es bot sich für die Ärztekammer sogar noch eine zweite Gelegenheit, die Unwürdigkeit im o.g. Sinne festzustellen: Mitte 2015 kündigte Al-Abdulmohsen an, sich eine Pistole zu kaufen und zwei Richter zu erschießen. Strafrechtlich wurde dieses Verfahren eingestellt – kein hinreichender Tatverdacht, wie es hieß. Diese Beurteilung ist natürlich nicht für die Ärztekammer bindend, die es aber offensichtlich nicht für unwürdig hält, wenn Ärzte oder solche, die sich dafür ausgeben, Richtern mit dem Tod durch Erschießen drohen. Auch auf das Asylverfahren hatten solche Drohungen erkennbar keine Auswirkung, wurde dem Attentäter doch im Juli 2016 der Asylstatus zuerkannt.
Schlicht durchgewunken
Was aber die weiterhin zuständige Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern geritten hat, Al-Abdulmohsen 2014 auch noch zur Facharztprüfung zuzulassen, obwohl er statt der vorgeschriebenen 60 nur 20 Monate als Assistenzarzt in Deutschland zu bieten hatte, bleibt rätselhaft. Angemerkt sei hier, dass eine solche Zulassung zur Prüfung nicht ein Sachbearbeiter zu entscheiden hat, sondern in aller Regel ein auch mit Fachärzten besetztes Gremium. Dass der Prüfling dort tatsächlich den zu fordernden Wissensstand eines Facharztes präsentierte, ist schlechterdings kaum vorstellbar. Sehr viel wahrscheinlicher ist dagegen – darauf weist auch sein späterer Spitzname Dr. Google deutlich hin –, dass er von der Prüfungskommission nach ein paar Plaudereien schlicht durchgewunken wurde.
Aber damit nicht genug. Im Juni 2015 verschaffte das Landesgesundheitsamt ihm im Nachgang zum Facharzt auch noch den Status als approbierter Arzt und damit die uneingeschränkte Erlaubnis zur ärztlichen Tätigkeit in Deutschland. Auf die hier zwingend vorgeschriebene, oben bereits erwähnte Kenntnisprüfung wurde ohne jede Thematisierung erneut verzichtet. Ebenfalls kaum nachvollziehbar ist, weshalb den Ärzten an seiner letzten, mehrjährigen Arbeitsstelle nicht aufgefallen sein soll, dass ihr saudi-arabischer Kollege nicht nur von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte, sondern doch wohl auch im zwischenmenschlichen Bereich recht sonderbar war, und weshalb die ärztliche Leitung offenbar dennoch keinen Verdacht schöpfte, es hier schlicht mit einem Betrüger zu tun haben – Ärztemangel hin, Ärztemangel her.
Fehler auf eine bedrückend systematische Art und Weise
Das ganz Besondere unter den vielen Besonderheiten im Fall des Attentäters Al-Abdulmohsen dürfte sein, dass hier in wirklich allen Bereichen, auch außerhalb des medizinischen Sektors, gravierende Fehler gemacht wurden, und zwar auf eine geradezu bedrückend systematische Art und Weise. Ohne die Annahme einer wirkmächtigen positiven Diskriminierung wäre das kaum nachvollziehbar. Die Welt (hinter der Bezahlschranke) hat sage und schreibe 105 „Akteneinträge“ des Magdeburg-Attentäters dokumentiert. Der Leser nimmt verwundert zur Kenntnis, was man sich in Deutschland als Nicht-Deutscher über viele Jahre nahezu ungestraft alles so leisten kann und dabei noch nicht einmal systematisch in den Focus der hiesigen sogenannten Sicherheitsbehörden gerät. Vor diesem Hintergrund deutscher Realität erscheint es geradezu folgerichtig, dass auch der Magdeburger Weihnachtsmarkt nicht frei von gravierenden Sicherheitsmängeln war.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Geriater und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im zivilrechtlichen Bereich.