Vor 35 Jahren hatte der Westen im Kalten Krieg gesiegt. Die Erben der Sieger wollen nicht mehr wissen, wie man solche Konflikte besteht und üben sich in Ignoranz. Jetzt könnte der Sieg von damals wieder verspielt werden.
Die deutsche Wiedervereinigung, der Fall der Mauer, der Zerfall des von Moskau beherrschten Ostblocks, das Scheitern kommunistischer Weltmachtpläne: Alles verdankt sich nicht der „neuen Ostpolitik“. Der von Egon Bahr und Willi Brandt verkündete „Wandel durch Annäherung“ hat nichts bewirkt, jedenfalls nichts, was dem Ende des Kommunismus Vorschub geleistet hätte. In Gegenteil wurden Einfallstore geöffnet, durch die das Gedankengut der Diktatur des Proletariats über die Grenzen schwemmte.
Schriftsteller rührten die Trommeln der Revolution, zum Beispiel Günter Grass oder Walter Jens, der sich nicht entblödete, bei einer Lesung in Leipzig erleichtert aufzuatmen, weil er hier, im Osten, endlich der Klassenjustiz des Westens entkommen sei. Wegen der „Prominentenblockade“ vor dem Stützpunkt der US-Army in der Mutlanger Heide hatte er eine Befragung der Polizei über sich ergehen lassen müssen. Du lieber Himmel. Über die im Osten inhaftierten, in Einzelhaft weggesperrten und gefolterten Bürgerrechtler verlor der gefeierte Humanist kein Wort. Oder noch eine andere Peinlichkeit geistiger Unterwürfigkeit, die sogenannte „Zeitreise“. Theo Sommer, Chefredakteur und Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“, hatte sich mit Marion Gräfin Dönhoff, ebenfalls Herausgeberin der ZEIT, und anderen zu einer geführten Tour durch den Osten einladen lassen, um nachher festzustellen, die DDR sei doch das bessere Deutschland, ihr gehöre die Zukunft. Willig ließen sich die Intellektuellen im Westen vor den Karren von Honecker und Konsorten spannen. Der Osten triumphierte ideologisch, obwohl er wirtschaftlich uneinholbar abgeschlagen war.
Erst als Ronald Reagan die Nachrüstung forcierte, begann sich das Blatt zu wenden. Die ökonomisch marode Sowjetunion konnte nicht mithalten. Sie geriet militärisch ins Hintertreffen. Michail Gorbatschow konnte, als das kommunistische Weltreich bereits im Untergang taumelte, gerade noch die Notbremse ziehen, indem er mit Glasnost und Perestroika Zeichen der Demokratisierung setzte. Danach überschlugen sich die Ereignisse bis hin zur Entmachtung der Genossen und dem Fall der Berliner Mauer.
Schminkspiegel im Spind
Der Westen hatte obsiegt. Im Freudentaumel ließ man sich’s gut gehen. Für die Rüstung wurde zunehmend weniger aufgewendet. Die deutsche Bundeswehr mutierte von einer modernen, verteidigungsfähigen Armee zu einem Traditionsverein, auf dessen Schlagkraft es weiter nicht ankommen sollte. In die militärische Ausrüstung wurde weniger und weniger investiert. Ursula von der Leyen machte sich stark dafür, Schminkspiegel in den Spinden der Soldaten aufzuhängen. Vorher schon hatte Angela Merkel dem hedonistischen Treiben mit der Aussetzung der Wehrpflicht bereits die Krone aufgesetzt. Die Länder des Westens kapitulierten nicht de jure, aber de facto vor der Sowjetunion.
Als Putin erklärte, der Zerfall der Sowjetunion sei die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts, wurde das zwar gehört, doch nicht weiter ernst genommen. Auf den Verteidigungshaushalt der BRD hatte das keinen Einfluss. Wer es wagte, davor zu warnen, dass der alte KGB-Offizier womöglich an eine historische Umkehr denken würde, daran, wieder eine Weltordnung mit Russland an der Spitze zu schaffen, wurde als Verschwörungstheoretiker abgewiesen, als einer, der vom Kalten Krieg nicht lassen wollte.
Den Russen konnte das nur recht sein. Ohne Verdacht zu erregen, rüstete Putin zielstrebig auf. Er modernisierte sein Streitkräfte, wie das der hochmütige Westen nicht für möglich hielt. Nach dem Einfall in die Ukraine mochte es dann manchen wie Schuppen von den Augen fallen – zu spät. Denn unterdessen hat Putin einen Rüstungs-Vorsprung, der heute so schwer einzuholen ist wie der des Westens gegenüber den Russen in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Um es mit Gorbatschow zu sagen: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Da nützt es auch wenig, wenn die EU jetzt anfangen will, Pläne für den Fall eines Krieges zu schmieden. Wie der verlaufen könnte, würde dann ohnehin der Mann im Kreml vorgeben. Ausnahmsweise stimmt einmal, was Ursula von der Leyen den EU-Staaten jetzt unter die Nase rieb: „Die Geschichte wird uns Untätigkeit nicht verzeihen.“
Die Angst der Abgehängten
Vor allem aber verzeiht sie nicht, wie wir, nicht allein die Deutschen, am Rande des Pulverfasses fortgesetzt und bedenkenlos feiern, weil man sich den Russen für alle Zeit überlegen wähnt. Ein Diktator wie Putin kann diesen Hochmut, gepaart mit partieller Unterwürfigkeit, nur als Einladung zum Angriff verstehen. Der technologische und der quantitative Vorteil, den NATO und EU gegenüber Russland besaßen, wurden in träger Selbstgefälligkeit verspielt. Jetzt gibt Putin den Ton in Europa an, bald sogar in der Welt, da freilich würde er mit Trump auf einen Gegner stoßen, der aus anderem Holz geschnitzt ist, als es Mutti Merkel, der geschwätzige Jean-Claude Juncker und das Männlein Scholz waren.
Was uns in der Mitte Europas anbelangt, muss der Russe gar nicht mehr mit dem Säbel rasseln, um den Abgehängten Angst einzujagen. Schon wird hektisch darüber konferiert, wie man wieder verteidigungsfähig werden könnte. Kein Tag ohne Berichte über die Renovierung von Kasernen und das Anwerben von mehr Soldaten, meist verbunden mit der Feststellung, dass das alles gar nicht mehr möglich sei, weil es unterdessen an den militärischen Strukturen fehle. „Vorbereitung auf einen eventuellen Tag X“, titelte eine süddeutsche Zeitung eben erst wieder. Für den Moment hat Putin das Rennen gemacht. So ändern sich die Zeiten.
Dr. Thomas Rietzschel, geboren 1951 bei Dresden, Dr. phil, verließ die DDR mit einer Einladung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Er war Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und lebt heute wieder als freier Autor in der Nähe von Frankfurt. Verstörend für den Zeitgeist wirkte sein 2012 erschienenes Buch „Die Stunde der Dilettanten“. Henryk M. Broder schrieb damals: „Thomas Rietzschel ist ein renitenter Einzelgänger, dem Gleichstrom der Republik um einige Nasenlängen voraus.“ Die Fortsetzung der Verstörung folgte 2014 mit dem Buch „Geplünderte Demokratie“. Auf Achgut.com kommt immer Neues hinzu.