Sie pflegen gern das Bild der vergessenen Opfer der Geschichte, dabei sind die Westbank-Palästinenser die pro Kopf am höchsten durch internationale Hilfsgelder subventionierten Menschen der Welt. Wie kommt das?
Zwischen „proper Israel“ und Jordanien liegt das sogenannte „Westjordanland“, oft auch, da am Westufer des Flusses Jordan gelegen, „Westbank“ oder „Cisjordanien“ genannt oder, politisch korrekt, „Palästinensisches Autonomie-Gebiet“ oder, von den inzwischen mehr als 800.000 jüdischen Siedlern, Judäa und Samaria, hebräischeh Jehuda ve Shomron. Dieses 5.800 Quadratkilometer große Gebiet, vordem zum osmanisch-türkischen Reich gehörig, wurde im Juli 1922 Bestandteil des vom Völkerbund dekretierten britischen Palästina-Mandats.
Das Gebiet war damals in bedauernswertem Zustand. Die osmanische Kolonialmacht hinterließ, wie Mark Twain in seinem berühmten Reisebuch „The Innocents Abroad“ von 1869 festgehalten hat, ein „gottverlassenes, unschönes Land“. Ihm gebühre „die Krone unter allen Ländern mit düsteren Landschaften (…) Palästina liegt in Sack und Asche. Über ihm brütet der Bann eines Fluches, der seine Felder verdorren ließ und seine Kräfte fesselte.“
Vier Schweizer Autoren kamen 1982 in einem wissenschaftlichen Werk, dem fünfbändigen „Handbuch Orte und Landschaften der Bibel“, zu der lapidaren Einschätzung: „Der Niedergang begann mit der Araberherrschaft (…) und erreichte sein schlimmstes Ausmaß unter der Jahrhunderte langen Türkenherrschaft.“ Kenner christlicher Pilgerliteratur wissen, dass diese Gegenden in der spätrömisch-byzantinischen Zeit für ihre hochentwickelte Landwirtschaft bekannt waren und die nachmals verarmten Städte wie Hebron und Gaza Zentren einer blühenden Kultur.
Um 1920, nach Ende der osmanischen Herrschaft, lebten dort einige nomadisch wandernde Beduinenstämme, einige zehntausend Fellachen (Fallahun), bitterarme Tagelöhner und Pächter der türkischen und arabischen Großgrundbesitzer, der Effendis, sowie die alteingesessene arabische und jüdische Bevölkerung in den Städten. Juden konzentrierten sich vor allem in Safed, Tiberias, Hebron und Jerusalem, auch in Dörfern und Landkommunen, sie unterlagen besonders hohen Steuern und Schikanen durch die Behörden des osmanischen Reiches.
Die unterbliebene Staatsgründung
Auch die in diesem Gebiet lebenden Araber wurden von der türkischen Kolonialmacht über Jahrhunderte schlecht behandelt, was sich an ihrem Bevölkerungsrückgang erkennen lässt (gegen Ende des osmanischen Reichs sollen nur noch rund 200.000 Araber in Westbank und Gaza gelebt haben – gegenüber schätzungsweise fünf Millionen heute). Ihre Erbitterung gegen die osmanische Herrschaft war so groß, dass sie sich den britischen Truppen im Ersten Weltkrieg als Alliierte anboten und gemeinsam mit diesen die türkischen Glaubensbrüder aus ihrem Gebiet vertrieben.
Seit 1922 stand das weitgehend verödete Westjordanland unter dem vom Völkerbund beschlossenen britischem Mandat. Der eigentliche Zweck dieses Mandats war, wie es im Dokument heißt, „die Schaffung einer Heimstätte für das jüdische Volk“. Für alle anderen, nicht weiter bezeichneten „Einwohner Palästinas, ungeachtet ihrer Rasse und Religion“ sollten jedoch die „die zivilen und religiösen Rechte“ gesichert bleiben. Von einem zweiten Volk war nicht die Rede, auch nicht 1947, als mit dem Übergehen des Völkerbundes in die Vereinten Nationen (UN) der völkerrechtliche Status des Westjordanlandes erneut fixiert wurde, in einer sogenannten „Trusteeship“ oder Treuhand.
In der UN-Resolution 181 (II) vom 29. November 1947 erscheint – angesichts der Niederlegung des Mandats durch die britische Regierung – das Konzept der Staatsgründung, und zwar zweier „voneinander unabhängiger“ Staaten, eines arabischen und eines jüdischen. Die Staatsgründungen sollten nicht später als bis zum 1. Oktober 1948 erfolgen. Mit einer Staatsgründung, so die Regelung, traten die Parameter von Völkerrechts-Mandat respektive UN-Treuhänderschaft außer Kraft, wo jedoch keine Staatsgründung erfolgte, blieben sie bestehen.
Damit begründen die israelischen Siedler bis heute ihren Anspruch auf Besiedelung des Westjordanlandes: dass infolge nicht erfolgter arabischer Staatsgründung die von den UN akzeptierte Bestimmung des Völkerbund-Mandats weiterhin erhalten blieb, „close settlement by Jews“. Die im Mandatsgebiet lebenden Juden hatten, in Erfüllung der UN-Resolution 181, am 14. Mai 1948 den Staat Israel gegründet, während die arabischen Staaten – eine Allianz aus Ägypten, Jordanien, Syrien und Irak – mit Krieg reagierten.
Die arabischen Staaten wiesen den UN-Teilungsplan zurück und die damit verbundene Anerkennung des jüdischen Staates – sie betonten im Gegenteil, ihr Überfall ziele auf dessen Vernichtung. Der verlustreiche Krieg endete 1949 mit einem militärischen Sieg Israels, dem die arabischen Angreifer im Waffenstillstandsvertrag von Rhodos durch Gebietsabretungen Rechnung tragen mussten: das Territorium des jungen jüdischen Staates wurde dadurch um etwa ein Drittel größer als vom UN-Teilungsplan vorgesehen. Dafür blieben das Westjordanland und Ost-Jerusalem von Jordanien annektiert.
Dem jordanischen König Abdallah ibn Hussain ging es vor allem um den Prestige-Gewinn durch die Aneignung der islamischen Stätten in Jerusalem, Al-Aqsa-Moschee und Felsendom, während ihm das umliegende Westjordanland eher gleichgültig war. Die um diese Zeit aufkommenden nationalistischen Bestrebungen der arabischen Palästinenser wurden von der jordanischen Regierung unterdrückt, 1950 verbot ein königlicher Erlass die Bezeichnung „Palästina“ in allen offiziellen Dokumenten und Landkarten. Stattdessen erhielten die arabischen Einwohner der Westbank die jordanische Staatsbürgerschaft (bis heute sind fast alle Westbank-Palästinenser jordanische Staatsbürger), zugleich vertrieb man die dort lebenden Juden, wodurch sukzessive die Einverleibung des Westjordanlandes ins Königreich Jordanien in Gang gesetzt wurde, ohne dass Israel intervenierte.
Erst der Sechs-Tage-Krieg 1967 und Jordaniens – später bereute – Entscheidung, mit den anderen arabischen Nachbarn Israel anzugreifen, machte der jordanischen Besetzung des Gebiets ein Ende.
Nach dem Sieg Israels über Jordanien und seine arabischen Alliierten geriet das Gebiet 1967 unter die Kontrolle Israels. Es handelt sich um in einem Verteidigungskrieg vom Angreifer gewonnenes Land. Ist – so gesehen – die Bezeichnung des Vorgangs als „Okkupation“ überhaupt gerechtfertigt? Jedenfalls konnten nun, geschützt vom israelischen Militär, zehntausende Juden in die vordem jordanisch besetzte Westbank zurückkehren oder einwandern und ihr immer noch gültiges Recht aus der Mandatszeit wahrnehmen, die „dichte Besiedelung des Gebietes durch Juden“.
Die UN-Resolution 181 hatte ausdrücklich beide gedachte Staaten, den arabischen wie den jüdischen, zur Duldung von andersgläubigen Minderheiten auf ihrem Staatsgebiet verpflichtet (Part C, Declaration, Chapter Two: Minority Rights), ein Paragraph, der später gern übersehen wurde. Der jüdische Staat hat diese Bedingung längst erfüllt: Nach neuesten Statistiken leben etwa 2 Millionen Araber gesetzlich gleichberechtigt in Israel. Schon von daher ist die Forderung der Palästinensischen Autorität, eine arabische Staatsgründung könne erst nach Abzug der jüdischen Siedler und der „Judenreinheit“ ihres Gebiets erfolgen, völkerrechtlich unhaltbar.
Höherer Lebensstandard als die Nachbarn
Seither werden weite Gebiete (die im Oslo-Abkommen als B und C bezeichneten Areale) von der israelischen Armee kontrolliert. Neben schätzungsweise drei Millionen Arabern, die sich seit den 1960er Jahren Palästinenser nennen, leben dort etwa 800.000 Juden in Siedlungen und Städten, wobei das jüdische Bevölkerungswachstum mit durchschnittlich fünf Kindern pro Siedler-Familie weit höher als das infolge Wohlstands sinkende palästinensische (etwa 2,7 Kinder) ist. Die Westbank-Palästinenser sind die pro Kopf am höchsten durch internationale Hilfsgelder subventionierten Menschen der Welt, sie genießen einen weit höheren Lebensstandard als die Araber in den umliegenden Ländern wie Jordanien, Syrien, Ägypten oder Irak. In Friedenszeiten arbeiten Hunderttausende von ihnen in Israel oder in den jüdischen Siedlungen der Westbank. Rund 20 im Westjordanland entstandene Joint-Venture-Industrieparks mit überwiegend israelischen Firmen bieten weiteren tausenden Palästinensern Arbeit. Die Währung der Palästinenser ist der israelische Schekel. Achtzig Prozent aller Waren des täglichen Bedarfs in palästinensischen Supermärkten stammen aus Israel. „Wirtschaftlich gesehen“, sagte mir ein palästinensischer Geschäftsmann, „sind die Palästinenser-Gebiete längst ein Teil Israels.“
Die von den Vereinten Nationen gesetzten Parameter für eine Staatsgründung werden von der Palästinensischen Autonomiebehörde nicht erfüllt, auch bisher keine Anstalten gemacht, sie jemals zu erfüllen (so hat es seit 2006 keine Wahlen mehr im Westjordanland gegeben, Präsident Abbas regiert seither autokratisch mit „Präsidialerlassen“). Relativ offen finanziert und ermutigt die Palästinenserführung den Terrorismus durch Renten an die Familien der „Märtyrer“. Gegen in ihrem Gebiet operierende Hamas-Zellen geht sie nur zögerlich vor, obwohl die sunnitisch-arabischen Staaten der Abbas-Behörde jährlich mehrere hundert Millionen überweisen, mit der Auflage, die Hamas aus ihrem Gebiet herauszuhalten. Diffuse Hoffnungen auf einen Staat, den die Mehrheit der Palästinenser in Wahrheit nicht will, veranlassen auch die EU-Staaten zu jährlichen Hilfszahlungen von hunderten Millionen Euro. Wovon, wie mir Sheikh Ashraf Ja'abri, ein in Hebron lebender Gegner der Abbas-Behörde sagte, „siebzig Prozent in den Taschen der Funktionäre verschwinden. Von dem, was die Europäer zahlen, bekommen wir fast nichts.“
Dieser Beitrag erschien zuerst in der NZZ
Chaim Noll wurde 1954 unter dem Namen Hans Noll in Ostberlin geboren. Sein Vater war der Schriftsteller Dieter Noll. Er studierte Kunst und Kunstgeschichte in Ostberlin, bevor er Anfang der 1980er Jahre den Wehrdienst in der DDR verweigerte und 1983 nach Westberlin ausreiste, wo er vor allem als Journalist arbeitete. 1991 verließ er mit seiner Familie Deutschland und lebte in Rom. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. 1998 erhielt er die israelische Staatsbürgerschaft. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland.