Ulli Kulke / 03.06.2019 / 06:00 / Foto: Ute Kraus / 177 / Seite ausdrucken

Die AfD und das schwarze Loch

Süß-sauer ist das Lächeln bei der „Merkel-muss-weg-Gemeinde“ nach der Europawahl. Einerseits hat die Kanzlerinnenpartei so heftig verloren wie nie zuvor. Andererseits zeigt das Ergebnis: Wenn die Wahl irgendeine Kraft gestärkt hat, die Merkel ans Leder könnte, so sind es die Grünen. „Merkel muss bleiben“ würde man bei ihnen zwar auch nicht offen skandieren. Aber die Erfinder von „Weg“ stehen rechtsaußen. Und dort ist – trotz jener starken Einbußen bei der Union – so gut wie kaum ein Bedeutungszuwachs zu verzeichnen. So hat die AfD gegenüber der Bundestagswahl nicht nur eineinhalb Prozentpunkte verloren. Knapp zwei Millionen ihrer Wähler von 2017 sind ins Lager der Nichtwähler abgewandert. Hätte sie sie halten können, wäre das Ergebnis um knapp die Hälfte (!) besser ausgefallen und sie hätte womöglich die SPD noch überholt. Hat sie aber nicht. Und das ist noch weniger als die halbe Wahrheit.

Auch die Union nämlich hat sehr viele ans Lager der Nichtwähler verloren, sogar knapp zweieinhalb Millionen. Und zählen wir nun – nur mal spaßeshalber – diese beiden Blöcke von Neu-Nichtwählern zu den Wählern der AfD dazu, dann würde für diese Partei fast ein doppelt so starkes Wahlergebnis herausspringen. Man wäre nicht mehr allzu weit vom Spitzenreiter Union entfernt gelandet, und um die Grünen zu überholen, hätte es locker gereicht. Ein Sandkastenspiel, aber völlig aus der Luft gegriffen ist es nicht. 

Beide abgewanderten Blöcke zeigen nämlich deutlich, welches politische Lager im Land völlig unbeackert, brach liegt: Ein enormes Potenzial in der bürgerlich-rechts-konservativen Ecke, marktwirtschaftlich, wenig etatistisch denkend, frei von Weltuntergangs-Hysterie, auf Sicherheit bedacht sowohl bei der Energieversorgung wie auch beim Kampf gegen Kriminalität, ja, nicht zuletzt auch skeptisch gegenüber allzu starker Zuwanderung, für einen konsequenten Schutz der Außengrenzen – andererseits aber eben auch frei von neonazistischen Gedanken, und voller Abneigung, die „Erinnerungskultur“ um 180 Grad zu wenden, die Hitlerzeit als „Vogelschiss“ zu banalisieren, oder Auschwitzüberlebenden die Ehre zu verweigern.

Unbeackert, brach liegt dieses enorme politische Spektrum, weil es dafür keine Vertretung in der Parteienlandschaft mehr gibt. Nur noch ein schwarzes Loch. Die Herzen der ins Nichts abgewanderten Wähler schlagen zumeist dort, das ist klar. Das Angebot auf der anderen Seite ist jedenfalls alles andere als ein Nichts, es bietet eine gehörige Vielfalt und für eher Linke eben keinen Grund, sich abzuwenden.

Die AfD ist eine Protestpartei par excellence

Es gibt gleich mehrere Gründe, anzunehmen, dass diejenigen unter den ehemaligen Wähler sowohl der AfD als auch der CDU, die sich jetzt bei der Europawahl für gar keine Partei mehr entscheiden konnten, zu diesem verwaisten Lager gehören. Einer wäre zum Beispiel der – innerhalb der Union völlig gegenläufige – Trend der CSU, die gegenüber der letzten Europawahl sogar noch zulegen konnte. Deren Vertreter haben es offenbar vermocht, die eben genannten Eckpunkte jenes konservativen Spektrums glaubwürdiger zu vertreten, beziehungsweise den Eindruck zu vitalisieren, ihre Partei sei dort traditionell stärker verwurzelt. Dass es der Spitzenkandidat der EVP, der eher blasse CSU-Politiker Manfred Weber, gewesen sei, der die Bayern so massenhaft angelockt hätte, kann mir keiner erzählen.

Ein weiterer Grund: Jeder andere politische Frust über die CDU wäre vernünftigerweise vielleicht ein Grund für einen Wechsel, aber wohl kaum einer fürs Garnichtwählen. Diejenigen, die sich in letzter Sekunde noch von jenem Video „So zerstört sich die CDU“ haben beeindrucken lassen, wären klare Kandidaten für die Grünenwahl gewesen. Und diejenigen, die „Rezos“ Klage über die soziale Spaltung des Landes aufgesessen sind, hätten die Linke wählen können. Und, und, und – für alle anderen spezifischen Wählerbegehren hätte es andere Parteien gegeben.    

Und noch ein Grund: Die parlamentarische Arbeit der AfD ist bisher von herzlich wenigen Erfolgen gekrönt. Sie ist eine Protestpartei par excellence. Sie kann oder will diesem Eindruck auch nicht konsequent entgegentreten. Gewiss, hierbei spielt sicher auch eine Rolle, dass andere Fraktionen die Zustimmung zu parlamentarischen Anträgen der AfD allein deshalb verweigern, weil sie von dort kamen. Doch so oder so: Gerade bei einer Europawahl hätte ihr dieser Ruf eigentlich wenig schaden müssen, denn für ein „weniger Europa“, etwa beschränkt auf eine Wirtschaftsgemeinschaft, sind keine besonders virtuosen Ideen gefragt, weder beim Wähler noch bei den Parlamentariern.

Ein schlichtes Blockieren weiterer Bürokratie und weiterer Kompetenzübertragung von den nationalen auf europäische Ebene, das simple Pochen auf Einhaltung der Bestimmungen beim Euro und der Europäischen Zentralbank, die Haltung „weniger Europa ist mehr“, wäre in dem Fall ja ausreichend: All diese Ziele hätte man durchaus der Protestpartei vom Schlage der AfD zutrauen – und sie deshalb auch wählen können. Vor allem bei einer Europawahl, jener Ebene, auf der sie einst ihren ersten großen Erfolg feiern durfte, noch unter ihrem Gründungsvorsitzenden Bernd Lucke: ihr erster Einzug in ein überregionales Parlament, der erste Fall seit den Grünen 1983, der Schritt über eine enorme Schwelle. Weshalb wurde, abgesehen vom zahlenmäßig nur begrenzt bedeutsamen Osten, ihr bisher anhaltender Trend nach oben jetzt gestoppt, und das auch noch bei einer Europawahl? Ihr jetziger Zugewinn gegenüber diesem allerersten Erfolg ist schließlich wenig aussagekräftig.

Die Schmerzgrenze reicht nicht bis in den Himmel

Für die Beantwortung dieser Frage ist es nicht unbedeutend, dass ein recht großer Teil derjenigen, die der AfD ihre Stimme schenkten – jedenfalls seit dem Abgang des Parteichefs Bernd Lucke, spätestens aber seit Gauland und Höcke den Ton angeben – dies immer zähneknirschender tun, weil sie mit rechtsradikalem Denken nichts am Hut haben. Ihr Problem: Sie wollen der Union deutlich machen, dass sie deren Linksruck nicht mehr mittragen wollen, finden dafür aber keine neue Heimat, es gibt sie nicht. Zwar bereitet die Drift der AfD nach Rechtsaußen diesen Wählern nicht nur Bauchschmerzen, erhöht ihre reine Protestwahl doch durch die rechtsextreme Aura auch das Drohpotenzial, das Schreckenspotenzial. Es ist in gewisser Weise ein Spiel mit dem Feuer, das, so meinen sie, solange überschaubar bleibt, wie die AfD nicht mehrheitsfähig ist. Allerdings entsteht so zum einen ein recht falsches Bild des Wählerspektrums der Partei, nicht nur nach außen, sondern auch, was die innerparteiliche Meinungsbildung und Strategie angeht.

Der Anteil dieser taktischen AfD-Wähler dürfte locker die Hälfte des Wählerpotenzials ausgemacht haben, wenn nicht deutlich mehr. Wortmeldungen in den sozialen Netzwerken von bekannten Publizisten und Intellektuellen lassen diesen Schluss zu. Es kann nicht ausbleiben: Bei manchen von ihnen entwickelt dieses zunächst rein taktische Moment eine Eigendynamik, und sie „laufen über“, verändern ihre Persönlichkeit. Beim Gros jedoch bleibt es eine Liaison auf Zeit. Ihre Schmerzgrenze war offenbar sehr hoch, aber sie reicht eben nicht bis in den Himmel.

Kooperationen, publizistische Verwandtschaften, Auftritte auf dubiosen Veranstaltungen – die Nähe einzelner Parteifunktionäre zu Rechtsaußen macht es vielen dieser taktischen Wähler immer schwerer, über ihren Schatten zu springen, sich zu verbiegen. Das haben die Europawahl und auch die Bremen-Wahl deutlich gezeigt.

Ein Faktor hat sich vor diesen Wahlen hinzugesellt: die Klimadebatte. Es ist nicht allzu gewagt, zu behaupten, dass besagtes politisch heimatloses Spektrum hysterische Weltuntergangsszenarien nicht teilt, und dass es die globale Erwärmung nicht, wie dies die veröffentlichte Meinung derzeit vorgibt, ausschließlich dem Menschen zuschreibt. Das heißt indes nicht, dass jeder Einfluss des Menschen auf das Klima prinzipiell und vollständig abgestritten, dass deswegen jede auch noch so geringfügige CO2-Einparung als sinnlos hingestellt wird. Dies schon allein deshalb, weil diese einhergeht mit der Einsparung von Ressourcen. Eine Verantwortung für die Lebensgrundlagen künftiger Generationen ist ihnen nicht fremd, um es einmal ganz pauschal und zugegeben ungeschützt auszudrücken.

Durch einen rigiden Standpunkt aus der Klima-Debatte herausgefallen

Dies bedeutet aber auch: Die im AfD-Programm festgelegte prinzipielle Ablehnung jedweden Zusammenhangs zwischen den vom Menschen verursachten Emissionen und dem Weltklima trägt nicht dazu bei, die Bauchschmerzen jener taktischen Wähler zu heilen. Und dieses Thema hat vor den Wahlen einen derartigen emotionalen Schwung erhalten, dass auch von denen, die sich bislang immun dagegen gewähnt haben, ein Gutteil ergriffen wurde. Die Grünen, Linken und Sozialdemokraten kamen für sie deshalb noch lange nicht in Frage. Die Union, die gegenüber den Grünen und ihren Gehilfen wie Rezo und dessen Produzenten in Angststarre verfallen war, auch nicht. Aber, wie sich zeigte, eine Partei wie die AfD, die durch ihren rigiden Standpunkt aus dieser Debatte herausgefallen ist, eben auch nicht. Mutmaßlich vor allem für diejenigen, denen zu Hause die Kinder einheizten. 

Es ist schon frappant, wie die Totalitaristen des Klimadiskurses in der AfD schon zu Zeiten des moderaten Bernd Lucke das Thema vollständig besetzen konnten. Ganz offenbar in Ausnutzung der Komplexität der Materie, an die sich kein Diskursfremder aus der Partei herangetraut hatte. Eine Radikalität, die nicht nur in der Sache selbst ein Fehler ist, sondern auch ein strategisches Eigentor. Die Beschränkung darauf, die tatsächlich vorliegenden Auswüchse der Klima-Hysterie in der öffentlichen Auseinandersetzung aufs Korn zu nehmen, durchaus auch wissenschaftskritisch, hätte selbstverständlich viel größere Kreise überzeugt als das hartnäckige Verneinen jeglicher Wirkung von CO2, was ganz nebenbei auch nicht wissenschaftlich zu unterfüttern ist. Ganz abgesehen davon, dass es auch um die Schonung von Ressourcen geht, für Konservative eigentlich eine Herzensangelegenheit.

Natürlich war der durch das – völlig zu recht – bloßstellende Video ausgelöste Skandal um Heinz-Christian Strache und seine FPÖ in Österreich obendrein ein Tiefschlag vor einer Wahl. Für eine Partei, die sich teilweise noch weiter rechts als die „Freiheitlichen“ im Wiener Parlament verortet. Durch ihre ewigen Querelen um rechte Ausreißer, durch unzählige Ansagen, sich von Rechtsextremisten in den eigenen Reihen zu trennen, die meist ohne Ergebnis bleiben, verprellt sie – wie die Wahlen am 16. Mai zeigten – mit Verve ihren konservativen Wählerkern.

Abwanderung der Wähler ins Lager der Abstinenzler

Der Jubel der Grünen am Wahlabend, nicht nur über deren eigenen Erfolg, sondern auch über den klaren Dämpfer, den die AfD in ihrem Aufwärtstrend erfuhr, dürfte den Parteioberen Zornesfalten ins Gesicht gebracht haben. Sie – aber auch die CDU-Strategen – haben allen Grund, über die Abwanderung der jeweiligen Wähler ins Lager der Abstinenzler nachzudenken. Das Potenzial im konservativen Bereich – und zwar nicht im rechtsextremen – ist um ein Vielfaches größer als es scheint. Da sollten sich übrigens auch die Grünen nichts vormachen.

Vielleicht berappeln sich beide, AfD und CDU, jetzt in den nächsten Wochen, finden die eine oder andere Ausrede und Ausflucht. Doch es wird für sie schon bald ein jähes Erwachen geben. Spätestens bei der Neuwahl in Österreich werden sie alle wehmütige Augen bekommen. Wenn nämlich Ex-Kanzler Sebastian Kurz den nächsten großen Erfolg für eine konsequent rechts-konservative Politik einfahren wird. Weil er sich von einem rechtsextremen Sumpf aus der eigenen Koalition glaubwürdig abgewendet hat – und dennoch jene oben genannten konservativen Werte hochhält.

Vielleicht wäre es aber auch einmal sinnvoll für AfD-Politiker, sich mit der Geschichte ihres ärgsten Feindes zu beschäftigen. Die Grünen jedenfalls haben die ersten wirklich großen Erfolge errungen, nachdem sie ihren linksradikalen Flügel hinter sich gelassen hatten.

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Sebastian Gumbach / 03.06.2019

Interessanter Artikel, allerdings bezweifle ich den Inhalt. Die AfD wurde kurz vor der EU-Wahl in den Strache-Sig gezogen, und sie konnte sich daraus nicht mehr befreien. Dazu kam in den Wahlveranstaltungen, dass davon nicht wenige wegen Gewaltandrohungen gar nicht stattfinden konnten. Man muss sich einmal ernsthaft mit dem ‘Flügel’ der AfD beschäftigen. Ich habe in jedem Fall festgestellt, dass da nichts extremistisch ist. Wenn man eine Partei auslöschen will - ja, genau das will man mit der AfD machen -, dann ist jedes Mittel recht, um das zu bewerkstelligen. Die AfD ist nämlich die einzige Partei, die sich konsequent für den Erhalt des Nationalstaates einsetzt. Andere schweigen zu diesem Thema lieber, wieder andere geben verschwurbelte Antworten, die kein Mensch versteht.

Steffen Neubauer / 03.06.2019

Ich verstehe nicht ganz, was Sie damit meinen, die Grünen hätten ihren linksradikalen Flügel hinter sich gelassen. Wenn man so hört, was die alles von sich geben, kann man nur zu einem Schluss kommen: Die ganze Partei ist linksradikal.

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