Von Gabor Steingart.
Das Ergebnis der Nordrhein-Westfalen-Wahl stellt alle Parteien vor große schauspielerische Herausforderungen. Martin Schulz muss nun so tun, als ob er einen Plan besitzt. Die SPD darf sich ihre eigene Mutlosigkeit nicht anmerken lassen. Und die Männer rund um den Kanzlerkandidaten und SPD-Vorsitzenden - namentlich die Genossen Gabriel, Oppermann, Stegner, Scholz und Maas - müssen den Eindruck erwecken, als würden sie geschlossen hinter ihm stehen. Dramaturgische Raffinesse ist jetzt gefragt: Der Dolch im Gewande muss jederzeit griffbereit sein, aber er darf nicht aufblitzen.
Auch die CDU-Spitze hat es nicht leicht. Sie sollte sich ihre Siegeszuversicht tunlichst nicht anmerken lassen. Der Wähler erwartet Bescheidenheit und hasst Triumphalismus. Die mit Abstand wichtigste Frage der Berliner Parteipolitik - Und was wird aus mir? - darf vorerst nicht beantwortet werden. Jetzt geht es um Deutschland, Postenschacher später.
Der amtierenden Kanzlerin wird in diesem Stück erhebliches theatralisches Geschick abverlangt. Merkel muss nach zwölf Jahren kräftezehrender Kanzlerschaft die Bevorratung unerschöpflicher Energiereserven verkörpern, obwohl sie längst auf Reserve umgeschaltet hat. Für die Kulissenschieber der sie beratenden Werbeagentur Jung von Matt fürwahr keine leichte Aufgabe: Die Abendsonne muss als Morgenröte verkauft werden.
Sie müssen ein Rennen für offen erklären, das nicht mehr offen ist
Vom liberalen Jung-Siegfried aus Düsseldorf hingegen erwartet die Regie, dass er seine Ungeduld zügelt, obwohl er am liebsten heute noch den Umzugswagen nach Berlin bestellen würde. Die mit Abstand schwierigste Rolle innerhalb der FDP hat allerdings Mitstreiter Kubicki aus Kiel: Er muss vier Monate lang so tun, als ob er nicht halbstark, sondern seriös sei. Wichtig ist er ja ohnehin. Oder um es mit Karl Kraus zu sagen: „Die kleinen Stationen sind sehr stolz darauf, dass die Schnellzüge an ihnen vorbei müssen.“
Die Medien spielen in dem Drehbuch, das hier zum Einsatz kommt, natürlich eine tragende Rolle. Sie müssen ein Rennen für offen erklären, das nicht mehr offen ist: Wählertäuschung aus Gründen der Fairness. In virtuoser Selbstbeschleunigung jonglieren sie daher mit immer neuen Koalitionskonstellationen und Machtoptionen, der Spannungsbogen muss schließlich gehalten werden. Erst wenn die Kanzlerin wieder Kanzlerin ist, Schäuble erneut als Kassenwart vor uns steht und der Außenminister auf den Namen Gabriel hört, wissen wir, dass der Schlussakt erreicht ist. Der Vorhang fällt. Das Publikum drückt sich gleichermaßen erschöpft wie erleichtert in die Sitze. Die Demokratie ist von allen Herrschaftsformen die aufregendste. Ihre Garderobenmarke, bitte!
Erst auf dem Weg nach Hause dämmert uns, dass die Demokratie im Ursprungsmanuskript eigentlich als Mitmachstück konzipiert war. Vielleicht waren die Hauptdarsteller gar nicht so schlecht, wir nur zu träge. Womöglich meinte der Dramaturg Oscar Wilde uns, die Voyeure der Demokratie, als er sagte: „Das Stück war ein großer Erfolg. Nur das Publikum ist durchgefallen.“
Die bebilderte Version des Textes finden Sie hier.