Am 25. Januar fand ein Podium des EU-Parlaments mit BioNTech-Chefin Türici zum Thema „Die Zukunft RNA-basierter Technologie“ statt. Die Vorträge waren ein ganz klares Plädoyer für noch mehr Kooperation zwischen EU und Pharma-Konzernen – vorbei an demokratischen Verhandlungen.
Am 25. Januar dieses Jahres fand das alljährliche Vortrags- und Diskussionspodium von STOA in Brüssel statt. STOA („Science and Technology Options Assessment“) ist ein Ausschuss des Europäischen Parlamentes, der sich mit Wissenschaft und Technikfolgenabschätzung befasst. Das diesjährige Thema des Podiums lautete: „Die Zukunft RNA-basierter Technologie.“ Hauptrednerin der gut zweistündigen Veranstaltung war Professor Özlem Türeci (im Bild oben), Mitbegründerin und medizinische Geschäftsführerin von BioNTech sowie Mitentwicklerin des COVID-19-Impfstoffs von BioNTech/Pfizer. Die Veranstaltung war öffentlich, die Platzzahl allerdings limitiert. Dafür gab es einen Livestream, der auch noch nachträglich angeschaut werden kann.
Er ist zwar nicht mehr direkt auf der entsprechenden Webseite des Europaparlaments zu finden, aber wer sich an den Webmaster des Parlaments wendet, bekommt den Link umgehend zugeschickt. Die Webseite hält noch ein Begleitheft sowie ein schriftliches Interview mit Annemieke Aartsma-Rus bereit. Aartsma-Rus ist Professorin für Humangenetik am niederländischen Leiden University Medical Center (LUMC) und ebenfalls als Podiumsteilnehmerin angereist.
Im Infotext auf der Webseite heißt es, dass Impfstoffe auf RNA-Basis „zum Teil auch eine Erfolgsgeschichte der EU sind, denn einer der wichtigsten COVID-19-Impfstoffe wurde in Europa bei BioNTech entwickelt, dessen Grundlagenforschung mit EU-Mitteln unterstützt wurde. Die Anwendungen der RNA-basierten Technologie sind auch nicht auf Impfstoffe gegen Virusinfektionen beschränkt. Frühere Arbeiten zu dieser Technologie wurden insbesondere durch die Krebsbekämpfung motiviert, ein Bereich, in dem sie immer noch vielversprechend ist. Darüber hinaus könnten weitere Entwicklungen, die über das hinausgehen, was derzeit mit Impfstoffen gemacht wird, zu einer breiteren Anwendung führen, zum Beispiel bei der Behandlung seltener Krankheiten.“
Ein Weltklasse-Produkt entwickelt
Das STOA-Podium ist jedoch nicht nur aus medizinischer Perspektive, sondern auch in politischer Hinsicht interessant. Daher soll der Ablauf der Veranstaltung hier zusammengefasst werden: Als Vorsitzender des STOA-Gremiums begrüßt Dr. Christian Ehler das Publikum und die Teilnehmer. Neben Türeci und Aartsma-Rus sind dies noch Maria Leptin, Präsidentin des Europäischen Forschungsrats (ERC), die Politico-Journalistin Helen Collis als Moderatorin sowie Gerald Voss von CEPI, der öffentlich-privaten Impfallianz aus Regierungen, WHO, EU-Kommission und Stiftungen wie der Gates Foundation.
Ehler ist seit 2004 Abgeordneter des Europäischen Parlaments in der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP/CDU) und voll des Lobes über die mRNA-basierten Impfstoffe, die wesentlich dazu beigetragen hätten, die Pandemie zu überwinden, und die in nur neun Monaten entwickelt worden seien. Das zeige, dass das 100 Milliarden Euro umfassende europäische Forschungsprogramm nicht nur eine akademische oder politische Angelegenheit sei, sondern das Leben von hunderttausenden von EU-Bürgern gerettet habe. BioNTech habe ein Weltklasse-Produkt entwickelt, und das sei als eine europäische Erfolgsgeschichte zu werten.
Es bestehe jedoch in der EU nach wie vor die Herausforderung, erstklassige Produkte auch auf den Markt zu bringen sowie mit den Reaktionen der Öffentlichkeit auf neue Technologien zu reagieren. Während der Pandemie seien führende Wissenschaftler wie Türeci durch den Dreck gezogen worden und hätten um ihre Sicherheit fürchten müssen, weil manche Menschen Angst vor wissenschaftlichem Fortschritt hätten. Ehlers fordert daher eine offene wissenschaftliche Debatte und betont, dass STOA immer die Freiheit der Wissenschaft verteidigen werde. Das jährlich stattfindende Podium biete eine Bühne, um die wissenschaftliche Expertise zum Wohle aller zu teilen. Darüber hinaus habe Roberta Metsola, die Präsidentin des Europäischen Parlaments, vor kurzem eine neue STOA-Initiative für die akademische Freiheit in der Europäischen Union ins Leben gerufen, nämlich das „EP Forum for Academic Freedom“.
Für Ehler ist die Sache offenbar klar: Die mRNA-basierten Impfstoffe waren der Gamechanger in der Corona-Krise. Wer diese neuartige Technologie kritisch hinterfragt, hat Angst vor wissenschaftlichem Fortschritt, positioniert sich gegen die Freiheit der Wissenschaft und gefährdet die von Ehler geforderte offene wissenschaftliche Debatte. Da drängt sich die Vermutung auf, dass Ehler womöglich die Anhörung der Pfizer-Sprecherin Janine Small im EU-Parlament am 12. Oktober 2022 verpasst hat. Small gab nämlich auf eine Frage des niederländische Abgeordneten Rob Roos zu, dass die Impfstoffe nie daraufhin getestet worden seien, eine Fremdansteckung zu verhindern.
Das allein wäre Grund genug, um zumindest die angeblich auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fußenden Corona-Maßnahmen kritisch zu reflektieren. Auch die teilweise schweren Nebenwirkungen der mRNA-basierten Impfstoffe erwähnt Ehler ebenso wenig wie die Tatsache, dass selbst nach vierfacher Impfung noch eine Ansteckung mit Coronaviren möglich ist. Er hält eisern an seiner uneingeschränkt positiven Einschätzung der mit erheblichen EU-Fördergeldern finanzierten mRNA-basierten Impfstoffe fest.
„Förderung lebensfähiger Biotech-Ökosysteme“
Dass auch Türeci eine durchweg positive Bilanz der mRNA-Technologie zieht, ist verständlich. Und um es unmissverständlich zu sagen: Gegen Forschungen in diesem Bereich ist selbstverständlich nichts einzuwenden, denn prinzipiell ist noch völlig offen, welche Möglichkeiten sich dadurch einmal beispielsweise in der Krebstherapie eröffnen werden. Allerdings wird in Türecis halbstündiger Rede auch klar, wie innovativ und teilweise noch rätselhaft diese neue Technologie ist. Vor diesem Hintergrund muss dann sehr wohl hinterfragt werden, ob eine Behandlung von Milliarden von Menschen mit dieser noch unzureichend erforschten Technologie verantwortbar und gar die Planung einer Impfpflicht vertretbar war.
Türeci kümmert sich jedoch vor allem um die Aspekte der Forschungsfinanzierung und der „Förderung lebensfähiger Biotech-Ökosysteme“ durch politische Vorgaben. So sieht sie noch „viel Raum für Verbesserungen“ im ordnungspolitischen Umfeld der EU und spricht sich für „öffentlich-private Partnerschaften“ und „moderne auftragsorientierte Regelungen und Strategien für klinische Prüfungen und den Marktzugang“ aus. Sie fügt hinzu: „Unsere Vorschriften werden immer ausgefeilter und entfernen sich von dem, was wir brauchen, um das technologisch und wissenschaftlich Machbare zu ermöglichen.“
Dabei bezieht sie sich auf aktuelle EU-Vorschriften etwa für In-vitro-Diagnostika. Dass es im Interesse Türecis liegt, dass neu entwickelte Medikamente und Impfstoffe möglichst schnell auf den Markt kommen, verwundert wenig. Doch ob von dieser Schnelligkeit tatsächlich die Allgemeinheit profitieren würde oder doch eher die Konzerne, bleibt fraglich. Immerhin gehören Türeci und ihr Ehemann Uğur Şahin, der Vorstandvorsitzender von BioNTech ist, mittlerweile zu den zehn reichsten Deutschen. Im Rückblick auf die Coronakrise lobt Türeci allerdings die EU-Regulatoren ausdrücklich: Sie hätten in der Pandemie einen exzellenten Job gemacht, und es habe keine langen bürokratischen Wartezeiten gegeben.
Einfluss privater Geldgeber auf die Politik
Im Gegensatz zu Türici setzt Aartsma-Rus nicht auf mRNA, sondern auf RNA-Technologie, die in der Lage sei, entweder die Menge eines toxischen Proteins im Körper zu reduzieren oder die Produktion eines fehlenden Proteins wiederherzustellen. Dadurch verfüge sie vor allem über ein therapeutisches Potenzial für seltene genetisch vererbte Krankheiten. Leptin betont, dass der durch sie vertretene Europäische Forschungsrat BioNTech unterstützt habe und stolz darauf sei, Spitzenwissenschaftler in der Pionierforschung zu fördern. Schließlich wisse man nicht, welche Herausforderung als nächste anstehe.
Voss stimmt zu, dass die EU-Förderung sehr wichtig sei, nennt aber auch die finanzielle Unterstützung von Philanthropen, etwa in den USA. Er spricht ebenfalls von der „Stärke des Modells einer öffentlich-privaten Partnerschaft“, in der Non-Profit-Organisationen, die über Expertise verfügen, von Regierungen und Philanthropen gemeinsam finanziert werden und wiederum mit Unternehmen zusammen arbeiten. Den Aspekt, dass dann allerdings auch die Interessen der privaten Geldgeber Forschung und Politik beeinflussen können, klammert Voss dabei aus.
Nach der Debatte der Podiumsteilnehmer bleibt nur noch wenig Zeit für Fragen aus dem Publikum. Die erste kritische Nachfrage einer Parlamentarierin wirkt diffus, was offenbar auch mit sprachlichen Hürden zusammenhängt, denn die Veranstaltung fand ausschließlich auf Englisch und ohne Dolmetscher statt. Ein weiterer Parlamentarier thematisiert die Bedeutung von Patenten, da im EU-Parlament diskutiert worden war, ob auf den von Südafrika und Indien vorgebrachten Vorschlag, durch den Verzicht auf geistige Eigentumsrechte den globalen Zugang zu bezahlbaren Impfstoffen zu verbessern, eingegangen werden solle.
Hier antwortet Türici bestimmt ‒ wenngleich sie dabei etwas ins Stottern gerät ‒, dass Patentverzichtserklärungen nicht zu mehr Impfdosen geführt hätten. Patente seien die treibende Kraft für die Finanzierung von Technologien. In ihrer Vergangenheit sei Türici mehrfach mit der Situation konfrontiert gewesen, dass eine ihrer Firmen wegen fehlender Finanzierung kurz vor der Schließung stand. Und nur weil sie nachweisen konnte, dass sie Patente hatte, auf deren Grundlage sie etwas generieren konnte, was geschützt war, habe sie Unterstützung bekommen. Risikokapital („Venture Capital“) sei nötig für Innovationen.
„Obskure“ Gegenmeinungen
Voss ließ es sich schließlich nicht nehmen, noch vor Falschinformationen in den sozialen Medien zu warnen, die zu Impfunwilligkeit führten. Die Schlussworte gehörten Ivars Ijabs, Parlamentarier und stellvertretender STOA-Vorsitzender, und zuletzt noch einmal Christian Ehler. Ijabs bekräftigte knapp, dass er und seine Kollegen im Parlament als politische Entscheidungsträger den Wissenschaftlern zuhörten, und Ehlers merkte selbstkritisch an, dass „wir in Europa über unsere relativ risikoaverse Gesellschaft“ diskutieren müssten.
Der Europäische Innovationsrat, der für die Jahre 2021 bis 2027 über ein Budget von 10 Milliarden Euro für Investitionen in Spitzentechnologien verfügt, trage jedoch zur Lösung dieses Problems bei. Ehler bedankte sich ausführlich bei den Podiumsteilnehmern: Die Gesellschaft und die europäischen Institutionen schuldeten ihnen viel. Denn wenn sie in der Pandemie gescheitert wären, hätte dies die Demokratie und die Autorität der Institutionen erheblich infrage gestellt. Außerdem erging er sich in einem Selbstlob:
Europa sei während der Pandemie der einzige Kontinent gewesen, der untereinander, aber auch international in unvergleichlicher Solidarität geteilt und sich von Anfang an auch um andere gekümmert habe. Jedoch müsse die Kommunikation noch verbessert werden. Die dialektische Herangehensweise mit These und Antithese sei zwar für eine Konferenz geeignet, doch es gehe nicht an, dass in den Medien obskure Professoren zu Wort kämen, die sich gegen eine Impfung aussprechen, obwohl sie mit ihrer Meinung nur eine kleine Minderheit darstellten.
Bleiben mehrere Fragen offen: Soll die freie wissenschaftliche Debatte, die sich Ehler vorgeblich wünscht, demnach nur in einem engen politisch erwünschten Meinungskorridor stattfinden? Wer profitiert bei öffentlich-privaten Partnerschaften am meisten? Stehen wirklich die Interessen der EU-Bürger im Zentrum der EU-Politik? Der Livestream ist übrigens voller technischer Pannen. Ist das nun beunruhigend oder doch eher ein Grund für Optimismus, weil davon auszugehen ist, dass auch einige Pläne der EU an ihrer realen Umsetzung scheitern werden?
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