Chaim Noll / 03.02.2022 / 14:00 / Foto: Kedmnuc / 37 / Seite ausdrucken

Die 100 besten Querdenker: Sokrates

Was Sokrates sagte, folgte nicht der korrekten Denkweise seiner Tage, im Gegenteil: Er widersprach aus Prinzip allem, was sich den Anschein des Offiziellen, des wissenschaftlich Fundierten oder allgemein Akzeptierten gab.

Schriftliches hat der Athener Stegreif-Philosoph Sokrates nicht hinterlassen, dafür einen ungeheuren Eindruck auf schreibende Zeitgenossen wie Plato oder Xenophon, die seine Extempores in berühmten, bis heute gelesenen Büchern festhielten. Platos Symposion (Das Gastmahl) ist wohl das berühmteste von allen, eine lange Nacht beim Wein mit Gerede über Götter und Welt, Liebe, Sex und menschliches Zusammenleben. Sokrates hielt sich fern von den „Eliten“ seiner Tage, und doch lauschten ihm die Söhne der führenden aristokratischen Familien der Stadt, Alkibiades, Agathon, Perikles der Jüngere oder Xenophon, mit nicht nachlassender Faszination.

Wie ist diese Wirkung zu erklären? Zunächst damit, dass sich Sokrates’ philosophisches System niemals erschöpfte, denn es war ständige Bewegung. Der Philosoph stand an Straßenecken, auf dem Marktplatz, irgendwo im Gewirr der Gassen, und debattierte. Er soll mit Jungen und Alten, Frauen und Männern, Gebildeten und Ungebildeten gesprochen und sie alle gleich respektiert haben. Was er sagte, folgte nicht der korrekten Denkweise seiner Tage, im Gegenteil: Sokrates widersprach aus Prinzip allem, was sich den Anschein des Offiziellen, des wissenschaftlich Fundierten oder allgemein Akzeptierten gab.

Als erwecke ein solcher Konsens immer seinen Verdacht, es handle sich um Schwindel, Gruppeninteresse oder Verfälschung der eigentlichen Idee. Gerade darin lag der ungeheure Eindruck, den er bei seinen Gesprächspartnern hinterließ: Er exerzierte einen zur gedanklichen Perfektion getriebenen Widerspruchsgeist. Wenn man die Dialoge liest, notiert von Platon oder Xenophon (von dem gleichfalls ein Symposion mit Sokrates überliefert ist), erkennt man das in der sokratischen Rhetorik verborgene, die Machthaber seiner Tage erschreckende Denkmuster: grundsätzliche Infragestellung.

Sokrates war ein Populist

Diese Technik des Fragens bedeutete eine Humanisierung der Philosophie. Ein Ausbrechen aus den verfestigten Strukturen autoritärer Einschüchterung durch elitäres „Wissen“. In Sokrates' antipodischem Gerede, im Hin und Her von Apologie und Kritik  wurden die Theoriegebäude der philosophischen Wandelhallen und Institute infrage gestellt, spielerisch demontiert und Wort für Wort geprüft. Dadurch wurde zugleich, was für wenige gedacht war, praktikabel und alltäglich gemacht. Die erhabenen Gedanken der Philosophen eigneten sich plötzlich als Gesprächsstoff beim Trinken und Disputieren auf dem Markt. Sokrates war ein Populist. Ihm lag an einer Popularisierung der Philosophie. Ähnlich wie es etwa zur gleichen Zeit den frühen Rabbinern, den sogenannten Pharisäern, mit dem Buchwissen der Hebräer gelang.

Sokrates wurde vorgehalten, er widerspräche aus Lust am Widersprechen. Doch er ging davon aus, dass jedes Widersprechen – selbst wenn es ein Widersprechen um seiner selbst willen war – die Dialogpartner der Wahrheit näher brachte. Dass jeder Einwand, jeder Zweifel den Redner und Thesenverkünder, den Prediger und Politiker zwang, seine Gedanken zu präzisieren. Seine Vorschläge und Gesetzesentwürfe zu verteidigen, zu begründen, zu erklären. Wodurch sie sich als das erwiesen, was sie wirklich waren: entweder als verborgene Wahrheit oder als Nonsens. Der auch heute wieder als schwerer Makel geltende Anwurf, jemand „polarisiere“ die Gesellschaft durch extreme Meinungen, war nach Sokrates' Vorstellung eine legitime Methode, um im Sinne der Wahrheitssuche einen kreativen Dialog auszulösen.

Hohepriester der Geistesverwirrung

Ohne Frage ist ein obsessiver Fragesteller wie Sokrates zu allen Zeiten der Albtraum der Mächtigen und Moralischen. Daher wurde sein Vorgehen früh als moralisch fragwürdig dargestellt. Auch von hochgeschätzten Zeitgenossen wie Aristophanes, dem berühmten Komödiendichter des antiken Athen, in dessen Komödie Die Wolken. Er zeichnete Sokrates als Inhaber eines Phrontisterion, eines „Gedanken-Geschäfts“, das freie Meinungen lieferte, je nach Bedarf, und als Hohepriester der Geistesverwirrung und Demagogie. Der damals in den Zwanzigern stehende Verfasser des Stückes, das in Anwesenheit der Bürger und Machthaber des Stadtstaates im Jahr 423 vor Christus in Athen uraufgeführt wurde, stieg später in hohe Positionen auf, etwa zur gleichen Zeit, als der ein Vierteljahrhundert ältere Sokrates vor Gericht gestellt wurde – vielleicht hat ihn die Nachrede gegen den umstrittenen Philosophen früh für spätere Verwendung empfohlen.

Sokrates muss unglaublich populär gewesen sein, wenn er zum Protagonisten einer großen, öffentlich aufgeführten Komödie gemacht wurde, zugleich in einflussreichen Kreisen verhasst und viel verleumdet. Die Regierenden der Stadt empfanden den beliebten Lehrer zunehmend als Provokateur und Querulanten. Wenn man will, war Aristophanes' Stück eine Warnung, die Sokrates in den Wind schlug. Im Jahr 399 wurde ihm der Prozess gemacht, wegen Asebeia, Verleugnung der Götter, und Verführung der Jugend. Die Anklagepunkte sind in der Apologie des Platon überliefert, der die Verteidigungsrede seines Lehrers vor dem Athener Geschworenengericht aufgezeichnet hat.

Kratzer im Image

Es ist auffallend, dass auch diese Anklagen bereits Jahre vorher in Aristophanes' Komödie Die Wolken ausgesprochen wurden. Schon in der ersten Szene des Stückes wird Sokrates die Leugnung des Zeus in den Mund gelegt und damit in komödiantischer Form die Anschuldigung vorgetragen, die den siebzigjährigen Philosophen schließlich das Leben kosten sollte.

Nach dem Schuldspruch hatte Sokrates Gelegenheit, seinerseits eine Strafe vorzuschlagen, was angesichts des über ihm schwebenden Todesurteils eine Bitte um Begnadigung nahelegte. Stattdessen verlangte er, ungebrochen in seinem Vergnügen am Widerspruch, die höchste Auszeichnung, die Athen zu vergeben hatte, die Olympiasiegern und anderen Hochgeehrten vorbehaltene lebenslange Speisung im Prytaneion, dem Regierungsgebäude.

Er begründete dieses Ansinnen damit, dass er der Stadt Athen durch seine Revolutionierung der Philosophie nur Ehre gebracht hätte. Für das Ansehen des antiken Athen bei der Nachwelt wäre es tatsächlich klüger gewesen, diesem Vorschlag zu folgen, statt ihn zum Trinken des Schierlingsbechers zu verurteilen. Das Todesurteil gegen den Philosophen bleibt für alle Ewigkeit ein Kratzer im Image eines sich selbst humanistisch, demokratisch und fortschrittlich dünkenden Staates.

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Charles Brûler / 03.02.2022

Dieser Hinweis auf Sokrates soll den Anhängern der öffentlichen Einheitsmeinung eine letzte Warnung vor der Höllenfahrt sein. Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte (Gadamer)

Martin Schott / 03.02.2022

“Zunächst damit, dass sich Sokrates‘ philosophisches System niemals erschöpfte, denn es war ständige Bewegung.” - Meiner Ansicht nach ist die Philosophie des Sokrates ja der Inbegriff des Stillstandes - genau wie bei seinem Schüler Plato. Trifft aber auf alle Philosophen zu, die ein in sich geschlossenes Weltbild erdacht haben.

Heribert Glumener / 03.02.2022

Harald Schmidt wird nun als Gefährder der Jugend gebrandmarkt. Er hat sich über den Dienst im Corona-Tempel auf subtile Weise belustigt. Linientreue, grün, schwarz und rot getupfte Pinscher aus Medien und Politik kläffen wütend. Und je mehr sie kläffen, desto mehr grinst Harald Schmidt. Er wird nicht zu einem Schierlingsbecher greifen, sondern sich ein gutes Pils gönnen.

Angela Seegers / 03.02.2022

Vielleicht war ja auch Xanthippe, seine Ehefrau, an seinen Gedanken schuld. Wer hat sie auf dem Schirm, dieses Weib? Egal, wie es sei, es ist gut zu widersprechen und Menschen dazu aufzufordern, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, fernab jeden Mainstreams, sogar im 21, Jahrhundert zweieinhalb tausend Jahre später, noch hoch aktuell. Es lebe Sokrates und …. später …. Kant.

Holger Kammel / 03.02.2022

Da sage doch noch einmal jemand etwas gegen die Stammtischphilosophen. Sokrates - ein Bruder im Geiste und Weine. Das scheint hier eine ziemlich einseitige Versammlung alter wei(s)er Männer zu sein, natürlich mit Ausnahmen. Frau Wilhelmi, die Unvollkommenheit der athenischen Demokratie ist Gegenstand des Artikels. Zumindest hatten die alten Athener einen unglaublichen Vorteil in der Bewahrung der Demokratie. Es gab kein Frauenwahlrecht! “Schließlich ist Denken energetisch aufwändig und wird daher, entsprechend dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, möglichst vermieden.” Herr Witzke, ich werde mir erlauben, das unter Quellenangabe gelegentlich zu zitieren. Herr Stadler, nach meinem Verständnis ist die Teilnahme an einem grünen Parteitag ein Todesurteil, und zwar ein ziemlich grausames. Bei einem evangelischen Kirchentag dagegen könnten Sie sich in einen amüsanteren Kurs retten (Vulven malen.) Bei Ansprachen von Käsmann und Co gilt die Regel des Odysseus für seine Mannschaft bei den Sirenen, Ohren verstopfen, Augen schließen und an Vulv.., äh, das Vaterland denken. Käsmann und die Sirenen haben zwar nicht das geringste gemeinsam, aber das Abwehrmittel hilft bei beiden. “Die Wolken” muß ich einmal nachlesen, es ist mir nicht mehr präsent, ich kannte auch den Zusammenhang nicht. Meine Favoriten bei Aristophanes sind ohnehin “Die Vögel oder Wolkenkuckucksheim” und das göttliche “Lysistrata oder der Bettstreik.”

Marc Blenk / 03.02.2022

Lieber Herr Noll, ob nun Aristoteles, Kant, Hölderlin, Goethe oder Jesus,  ... keiner von denen hätte heute auch nur den Hauch einer Chance medial Gehör oder gar politischen Einfluss zu erhalten. Auch kein Adorno, Popper, Benjamin, Steiner, Tucholsky, Arendt etc pp.. Eine Agenda, die aus Bürgern Maschinenmenschen machen will,  wäre auch diesen gegenüber unduldsam. Also Scholz, Habeck, Baerbock, Wieler, Drosten, Gates, Fauci und diesen faustischen Schweizer Eierkopp? .... Und grausig gutzt der Golz… Die menschliche Zivilisation, also wir, muss sich da rausbuddeln, den medizinaldigitalen Staub aus den Röcken klopfen, die blassen banalbösen Täter in Politik, Justiz, Medien und Kirchen und ihre eiskalten Blut - und seelenarmen und milliardenschweren Hintermänner und Kontrollfreaks für alle Zeit ihren Einfluss nehmen. Zum mindesten.

Hans-Peter Dollhopf / 03.02.2022

Der Vorwurf gegen “Sokrates als Inhaber eines Phrontisterion, eines „Gedanken-Geschäfts“, das freie Meinungen lieferte, je nach Bedarf, und als Hohepriester der Geistesverwirrung und Demagogie.”  Die Infamie bestand darin, dass ausgerechnet Sokrates damit das von ihm bekämpfte Unwesen des zu seiner Zeit grassierenden und massenweise Opfer fordernden Sophismus vorgeworfen wurde. Wir erleben es heute wieder, wenn fettgefressene, faulige Funktionäre wie Montgomery Störer mit ihrem sprachlichen Ausfluss bespritzen oder der Geheimdienstchef Spaziergänger für Frieden, Freiheit und Demokratie als extremistische Demokratiefeinde verhöhnt. Fair is Foul, Foul is Fair. Erst Platons Schüler Aristoteles gelang eine Formalisierung von Denken mittels seiner “Erfindung” der Logik als mächtiger Waffe in jedem Befreiungskampf gegen die tyrannische Scheinheiligkeit der Willkür.

Thomas Engels / 03.02.2022

Ein hoch interessanter Artikel der zeigt dass das Framing Sokrates als frohe Schlicht Natur ins Abseits zu stellen letztlich doch erfolgreich war auch ich hatte gedacht dass er freiwillig den Schiirlingsbecher genommen habe

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