Thilo Schneider / 25.10.2018 / 06:27 / Foto: Pixabay / 24 / Seite ausdrucken

Die Leiden eines Straßenwahlkämpfers

Ja, liebe Wähler und Wählerinnen, nicht nur für Euch ist der wochenlange Slalom zwischen den Ständen der einzelnen Parteien ein Spießrutenlauf. Auch für uns Parteimitglieder der Basis der einzelnen Parteien ist das nicht immer einfach mit Euch. Das könnt Ihr glauben. Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis meiner Forschungsgruppe „Rettet die Wahlen“ lassen sich im Straßenwahlkampf folgende Wählergruppen unterscheiden:

1) Der Roadrunner: Hastet am Prospektverteiler vorbei und stiert angestrengt nach vorne, um jeden Blickkontakt zu vermeiden. Spricht man ihn trotzdem an, zischt er ein „Nein“ und hastet weiter. Maßnahme: Ignorieren und nicht weiter ansprechen.

2) Der Fremde: Ist nicht von hier und darf nicht wählen, aber wenn er wählen dürfte, würde er Deine Partei wählen oder nicht wählen. Maßnahme: Prospekt geben und auf die zukünftigen Wahlen verweisen.

3) Der Stadtbekannte: Kommt an Deinen Stand gewackelt und verwickelt Dich in ein wirklich sinnloses und sinnfreies philosophisches Gespräch über Demokratie im Allgemeinen und Wahlen im Besonderen und warum genau Deine Partei die doofste von allen ist. Macht er jedes Mal, jedes Wochenende, und Du weißt, Du hast hier einen pathologischen Fall vor Dir. Maßnahme: Zuerst ihm ein Mitglied aus der Jugendorganisation hinstellen, damit der das Diskutieren üben kann. Anschließend ihn zur Konkurrenz schicken, damit er die dort volltextet, aber die schicken ihn nach einer halben Stunde wieder zu Dir. Die sind ja auch nicht doof, da.

4) Der feindliche Wähler: Er hasst Dich und Deine Partei und das lässt er Dich auch wissen. „Euch braucht keiner“ wird hier sehr gerne genommen, aber auch ein schmackiges „Ihr seid doch alle Betrüger“ wird gerne laut durch die Gegend geschmettert. Maßnahme: Kopfschütteln und Umdrehen.

5) Der freundliche Wähler: Der hat Deine Partei „schon immer gewählt“ und „drückt die Daumen“. Maßnahme: Sich höflich bedanken und Prospekt übergeben.

6) Der Freund: Kennt Dich persönlich und freut sich, Dich zu sehen. Drückt Dir demonstrativ die Hand und umarmt Dich. Teilweise leider auch aus Mitleid. Zumindest, wenn Du für die FDP oder die SPD auf der Straße stehst. Maßnahme: Kurzes Schwätzchen, um sich vor der Standarbeit zu drücken.

7) Der Historiker: Ist schon seit 1949 dabei und kennt Deine Parteigeschichte besser als Du. Besonders gut fand er den Dings, na, wie hieß er doch gleich, aber den fand er richtig gut. Schmidt war auf jeden Fall ein guter Kanzler, guter Mann, aber auch unser, er kommt jetzt nicht auf den Namen, auf jeden Fall, wenn der noch leben würde, den würde er wählen. Maßnahme: Sich bedanken, freuen, einen Veteranen der Demokratie kennenzulernen und Prospekt loswerden.

8) Der Ehemalige: Hat Deine Partei mal früher gewählt, aber seit Ihr die Koalition mit Y eingegangen oder nicht eingegangen seid, seid Ihr für ihn gestorben. Außerdem habt Ihr dieses Jahr den völlig falschen Kandidaten, und der ist sowieso ein Idiot, und den würde er nie wählen. Maßnahme: Mit bedauerndem Lächeln sich entschuldigen und um Gnade winseln.

9) Der Erlediger: Hat schon Briefwahl gemacht und braucht nix. Maßnahme: Seines Weges ziehen lassen.

10) Der uninformierte Bürger: Was bist Du für eine Partei? Oh, hat er schon einmal gehört, das sind doch die mit dem Dingsbums? Ja, nein, doch, findet er gut. Kann er den Kuli behalten? Maßnahme: Kugelschreiber mit untergeklemmtem Wahlprogramm übergeben.

11) Der informierte Bürger: Hat das Wahlprogramm schon gelesen und findet es nicht so gut, dass Deine Partei jetzt so gar kein Statement zur Verbreitung von Bettmilben im Programm stehen hat. Maßnahme: Zwei bis fünf Minuten über Bettmilben und ihren Einfluss auf das globale Ökosystem diskutieren, dann den Kandidaten vom Stand holen, damit der sich weiter herumärgern kann.

12) Der Spezialist: Will Dir mal eines sagen – er vermisst bei jeder Partei, allen, wie sie da stehen, konkrete Aussagen über die String-Theorie und ihre ökologisch-ökonomische Bedeutung für die Volatilität der weltweiten Aktienmärkte unter Berücksichtigung mikroökonomischer Sozialstrukturen bei gleichzeitigem Einfluss willkürlich gesetzter Zufallsparameter kultureller Standards bei Non-Profit- und Non-Government-Organisationen. Maßnahme: Hä?

13) Der harte Hund: Du hast eine Minute Zeit zum Antworten: Wie steht Ihr zu Zuwanderung, Mietpreisbremse, Insektensterben, Impfzwang, Leinenzwang, Rentenversicherung, Stationärer Pflege, Glyphosat, Hambacher Forst, Seehofer, Ministranten, ausgeglichenem Staatshaushalt, Exportwirtschaft, Umgang mit der Türkei, Frauen an den Herd, gleichgeschlechtlichen Ehen und wie man Rotweinflecken rausbekommt. Dalli, los, die Zeit läuft. Maßnahme: Wahlprogramm laut vorlesen.

14) Die Ballonmaschine: Hat bereits schon einen Ballon von Partei A, B, C, D, E und F am Kinderwagen festgeknotet und fragt, ob Lena oder Störfried einen Ballon bekommen können. Nein, lieber einen gelben, er soll nicht sexuell vorgeprägt werden. Maßnahme: Noch zwei Ballons strategisch an den Kinderwagen binden und warten, dass er majestätisch abhebt.   

15) Der Erpresser: Würde Deine Partei ja wählen, aber nur, wenn Du ihm versprichst, dass Du sein persönliches Anliegen nach einem Parkplatz für den Zweitwagen in der Innenstadt auch durchsetzt. Maßnahme: Allgemein über Parkraum in der Innenstadt sprechen und Wahlprogramm übergeben.   

16) Der Wechselwählerbeutegreifer: Kommt freiwillig an jeden Stand und durchforstet neugierig die Auslage, ob er etwas davon brauchen kann. Sehr gerne genommen werden Kugelschreiber und Blöcke und Gummibärchen. Auch Feuerzeuge und Flaschenöffner erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit. Wahlprogramm will er keines, aber könnte er vielleicht noch ein zweites und drittes Feuerzeug für seinen Bruder und seine Enkel haben? Maßnahme: Gib ihm das verdammte dritte Feuerzeug nur, wenn er auch ein Wahlprogramm nimmt. Die Dinger kosten schließlich Geld.

17) Der Parteikollege: Hat verpennt, dass er Standdienst hat und kommt mit Ausreden statt Kaffee. Maßnahme: Ad hoc niederstrecken.

Ich bedanke mich bei jedem Wähler auf der Straße, der nett zu uns Basismitgliedern ist und für alle heiteren Momente und die Diskussionen, die meine Kollegen aus allen Parteien und ich führen dürfen. Demokratie lebt vom Austausch. Sowohl von Meinungen, als auch von Parteien. Und ich hoffe für uns alle, dass sich niemand verwählt. 

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Sabine Heinrich / 25.10.2018

@ W. Arning: Ich stimme Ihnen voll und ganz zu, Herr Arning! Vor der Bundestagswahl im letzten Jahr habe ich in Lübeck von den Wahlhelfern der AfD erfahren, was sie alles aushalten mussten. Da ihr Stand 1 Woche vorher zerstört worden war, brauchten sie Polizeischutz. Schön für die Polizisten, die ja so gar nichts zu tun haben, am Sonntag außerplanmäßigen Dienst schieben zu müssen, weil ein paar Chaoten vor nichts - auch körperlichen Angriffen - zurückschrecken. Der Stand wurde belagert - dass ein gewisser Sicherheitsabstand gewahrt wurde, war nur durch die Polizeipräsenz möglich. Ich habe mir diese Typen angesehen. Es waren überwiegend Punker und Leute, denen wohl das Wort “Arbeit” ein sehr fremdes ist. Erschreckend!

H.Roth / 25.10.2018

Herr Schneider, an einem Stand einer politisch so unbedeutenden Kleinpartei, kann man noch einen beschaulichen Kaffeekränzchenwahlkampf erleben, wie Sie ihn hier so nett beschreiben. Das ist so eine Art Kampf, etwa 50 Kilometer hinter der Frontlinie. Als Wahlkampfhelfer der AfD oder der CDU, könnten sie noch ganz andere Kaliber und Geschosse (auch im wörtlichen Sinn) kennen lernen. Also, immer schön mutig in Deckung bleiben! :-)

Christian Kohler / 25.10.2018

Punkt 18: Und alle Parteien die etwas auf sich halten arbeiten in den Gutmenschenbündnissen zusammen um die AfD mit allen Mitteln zu bekämpfen. Bloß nicht auf dehren Ansichten und Meinungen eingehen, sondern nur das einzige gültige Wort für sie verwenden:NAZIS So funktioniert Demokratie in Merkelland 2018.

Andreas Roller / 25.10.2018

“Noch zwei Ballons strategisch an den Kinderwagen binden und warten, dass er majestätisch abhebt.” hat mir einen lachenden den Start in den Morgen ermöglicht. Danke dafür Herr Schneider

Jörg Themlitz / 25.10.2018

Nach Kurt Tucholsky, ” Ein älterer, aber leicht besoffener Herr” ist es einmal ganz interessant, die Denke der anderen Seite kennen zu lernen.

Werner Arning / 25.10.2018

Ich muss allen AfD-Mitgliedern, die sich an einen AfD-Stand stellen, meinen Respekt bekunden. Das ist mutig. Sie exponieren sich und riskieren regelrecht, angegriffen zu werden. Das nenne ich, für Demokratie einzutreten, für das Recht auf freie Meinungsäußerung. Das ist wahrscheinlich nicht langweilig, sondern Nervenkitzel pur. Ich kann mir die Bemerkungen und Beschimpfungen vorstellen, die sie aushalten müssen. Als Nazi bezeichnet zu werden, ist vermutlich noch die geringste Beleidigung, die ihnen um die Ohren fliegen dürfte. Dass sie sich dieser erniedrigenden Situation aussetzen, weil sie für ihre Meinung eintreten, verdient in meinen Augen höchsten Respekt. Sie treten mit wenigen auf und stellen sich dem wahrscheinlich aggressiv auftretenden politischen Gegner, wie auch den ihnen feindlich gesinnten Medien. Ich hoffe nur, dass es mutige Demokraten geben wird, die, wenn sie eine derartige Situation beobachten, sich für die Beschimpften oder Angegriffenen einsetzen, auch wenn sie deren politische Meinung nicht teilen. Hier geht es jedoch um die Verteidigung der freien Meinungsäußerung und das sollte man den vermutlich linksrotgrünen Aktivisten klar machen.

M. Kulla / 25.10.2018

Sehr geehrter Herr Schneider, ich frage mich immer, was Menschen wie Sie dazu treibt, ihre Zeit im Straßenwahlkampf zu vergeuden. Ist es das schlechte Gewissen darüber, es über die letzten Monate versäumt zu haben, dem potentiellen Wähler deutlich zu machen, was Ihr Standpunkt und der Ihrer Partei zu Themen ist? Wahl für Wahl kann ich mich nur darüber wundern, dass ich jedesmal die Parteiprogramme und/oder einen Wahlomat bemühen muss, um die Standpunkte der Parteien und Vertreter vor anstehenden Wahlentscheidungen herauszufinden. Ach nein, ein Standpunkt ist ja klar: Wir spielen nicht mit Schmuddelkindern. Ansonsten fühle ich mich von lustigen Straßenwahlkämpfern tendenziel genervt. Und wenn jeman meint, mich mit einem Schlüsselanhänger, Feuerzeug oder Luftballon an Stelle von politischer Arbeit und Themen überzeugen zu können, dann weiß ich zumindest, dass derjenige mich für ziemlich einfältig hält. Wenn Sie mich, Herr Schneider, als Straßenwahlkämpfer und Nippesverteiler also davon überzeugen wollen, die FDP nicht zu wählen, haben Sie alles richtig gemacht. Andernfalls hätten Sie auch einen schönen Tag mit Ihrer Familie verbringen können. Hochachtungsvoll, M. Kulla

Peter Meyer / 25.10.2018

Nein, Demokratie braucht keine Parteien. Vor allem keine Parteien, die Lösungen für Probleme anbieten, die sie selbst geschaffen haben.

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