Cora Stephan / 11.08.2009 / 10:34 / 0 / Seite ausdrucken

Dichter, bleib bei deinen Leisten!

Schriftsteller sind Erfinder, die sich gern am „wirklichen“ Leben bedienen, vor allem dann, wenn es dort dramatisch zugeht. Flutkatastrophen, Liebe und Leidenschaft, Wirtschaftskrisen – all das sind Ausnahmesituationen, in denen Menschen an ihre Grenzen gelangen, im Guten wie im Schlechten. Und das ist Stoff für Literatur.
Also bietet auch die derzeitige Wirtschaftskrise viel Material

für Episches, Dramatisches, Erhebendes und Erschütterndes: da ist die alte Frau Kramer, deren persönlicher Bankberater ihr gesamtes restliches Vermögen in Zertifikate umgerubelt hat, die plötzlich keinen Cent mehr wert sind. Wer schildert ihren Kampf für Gerechtigkeit, der in einem tränentreibenden Sieg mündet, während der junge Bankangestellte an seiner moralischen Schuld zerbricht?
Da ist der hart arbeitende junge Familienvater, nennen wir ihn James, der den Lebensstil seiner verwöhnten Frau, nennen wir sie Jane, mit Hypotheken auf das Haus im Grünen finanziert. Wer schildert das schleichende Grauen, als der Arbeitsplatz in Gefahr gerät? Als sich herausstellt, daß das Haus längst weniger wert ist als die Schulden, die auf ihm liegen? Und wer empfindet nicht mit dem Helden, der erst seinem Arbeitgeber, dann der Bank, schließlich dem Kapitalismus, dann dem Staat, und erst zum Schluß der eigenen Verblendung die Schuld am Drama gibt? Atemlos fragt sich die Leserschaft: bleibt Jane bei ihm und sucht sich endlich eine Stelle als Supermarktkassiererin?
Das ist Stoff – für Sozialkitsch im schlechtesten, für einen Gegenwartsroman im besseren Fall. Und die Leser dürfen in solche Geschichten hineininterpretieren, was sie aus ihnen herauslesen, sie als Lehrstück nehmen, als Spiegel eigener Erfahrungen, ja als handfeste Systemkritik. Doch der Schriftsteller darf das nicht: wer das individuelle Schicksal der Protagonisten ans Allgemeine (oder an ein politisches Programm) verrät, verrät die Literatur. Politprosa ist keine.
Weshalb es meistens schiefgeht, wenn sich deutsche Schriftsteller über ihre „Kernkompetenz“ hinaus als Deuter und Mahner, als Krisenexperten, Psychologen und Kapitalismustheoretiker versuchen – obzwar es der Nimbus will, daß sie aufgrund ihres feinfühligen Verständnisses der menschlichen Natur dafür besonders geeignet wären.
Sie sind es selten. Ein gutes Beispiel für die dürftige Prosa, in die ein Schriftsteller verfällt, wenn man ihm einen Deutungsauftrag erteilt, bot jüngst Ingo Schulze. Sein Essay in der FAZ strotzt nur so vor platten Parolen – und unterbreitet eine Realitätswahrnehmung, die gerade noch in Wahlkampfbroschüren paßt, wo im übrigen auf literarische Qulität selten Wert gelegt wird und auf Wahrheit noch viel weniger.
Daß mit der Wende die Zukunft verlorengegangen sei, daß die Gegenwart schlecht sei und der Kapitalismus an allem schuld: an globaler Armut, wachsendem Elend und nicht zuletzt an der Klimaerwärmung – sicher, das darf man alles denken, sagen, schreiben. Auch wenn man widersprechen möchte: Im Rausch des Sieges über den Sozialismus habe man 1989 die Freiheit gefeiert, aber die soziale Gerechtigkeit vergessen? Nanu. Ganz im Gegenteil: im Namen der sozialen Gerechtigkeit wurde die gewonnene Freiheit schmählich mißachtet. Und eine der ersten Amtshandlungen im Namen der sozialen Gerechtigkeit bestand darin, die Löhne Ost an die im Westen anzugleichen – weil die Westgewerkschaften jedwede Konkurrenz ausschalten wollten. In Wahrheit war das weder sozial noch gerecht.
Und noch ein Einwand. Es sei demagogisch, also falsch, den Staat den schlechteren Unternehmer zu nennen? Aber lieber Herr Schulze, war es nicht der sozial empfindende Mr. Greenspan, der als Präsident der US-Zentralbank durch niedrige Zinsen dafür sorgte, daß sich jeder sein Häuschen im Grünen leisten konnte? Und verdanken wir nicht dieser liebenswürdigen Aufforderung zum Schuldenmachen einen Großteil des darauffolgenden Schlamassels?
In wirklichen Leben ist der Versuch, soziale Gerechtigkeit „herzustellen“, nicht selten der Weg ins Dilemma. Dieses Schicksal teilen die meisten handlichen Thesen über die Welt und den Kapitalismus als solchen. Nur einen Roman stören solche Widersprüche nicht, im Gegenteil: er lebt vom Dilemma, von den Widersprüchen des Lebens nämlich, angesichts deren Menschen ihre Entscheidungen treffen. Und deshalb verdient die Wirtschaftskrise einen ordentlichen Roman und nicht diese und die vielen anderen dünnen Sprüche unserer Dichter und Denker. Denn ihr eigentliches Geschäft, die Literatur, ist weit anspruchsvoller und viel komplexer.
DeutschlandRadio, Politisches Feuilleton, 11. August 2009

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