Die Spaltung der westlichen Gesellschaften in Globalisten und Protektionisten hat einen Punkt erreicht, an dem die wechselseitige Ablehnung und die Verneinung der Ängste des Anderen in Hass und Gewalt umschlägt. Höchste Zeit, neue Wege zu suchen.
In der Haltung grenzenloser „Weltoffenheit“ liegt der Kern einer neuen Weltanschauung. Der Weg vom globalen Denken zum lokalen Ruin aber war oft nur kurz, und so hat die Ideologie des Multikulturalismus nahezu in der gesamten Welt Widerstand hervorgerufen und oft schon rekonstruktivistische Kräfte an die Macht gebracht. Deren gemeinsamer Nenner ist der Schutz eigener Interessen.
Die Spaltung der westlichen Gesellschaften in Globalisten und Protektionisten hat einen Punkt erreicht, an dem die wechselseitige Ablehnung und die Verneinung der Ängste des Anderen in Hass und Gewalt umschlägt. Während die einen Klima-Tod und Nazismus heraufkommen sehen, fürchten andere migrantische Invasion und Selbstauflösung der eigenen Kultur. Die eine Form der Sorge scheint die andere zu löschen. Die Polaritäten verfestigen sich, denn der, der meine Angst verleugnet, kann Freund oder Kollege nicht sein. Mit seiner vermeintlichen oder tatsächlichen Ignoranz ist er Teil des drohenden Verhängnisses.
Globales Handeln als lokaler Ruin
Nicht nur Feindschaft verstellt den Ausblick auf dritte Wege, sondern auch die Einseitigkeit der Wahrnehmungen. Die „offene Gesellschaft“ (Karl Popper) zerbricht über dem Ansturm des Gesinnungsfurors. Brandmauern, oft nur zum Schutz vor wirtschaftlichen Konkurrenten hochgezogen, schützen auch vor inhaltlichen Alternativen und Antithesen. In jedem Fall lähmen sie das dialektische Denken. Die eigenen Ideen drohen sich ohne Ergänzung und Einrede zu verabsolutieren. Das Böse, das jeder Christ zunächst in sich selbst zu bekämpfen aufgefordert ist, wird ausgelagert auf Andersdenkende, vorzugsweise auf der politischen „Rechten“, von wo man nicht viel argumentative Gegenwehr zu erwarten hat.
Der ersten Generation ohne nennenswerte religiöse Rückbindung dient die globalistische Ethik des Regenbogens als Religionsersatz. Die Fernstenliebe entlastet zugleich den woke-bewegten Einzelnen von konkretem Engagement gegenüber dem Nächsten, was den kosmopolitischen Eiferern egal zu sein scheint. Die eigene Wohlfühlgesinnung erhebt einen moralisch soweit über Andere, dass man sich nicht einmal zum Gespräch mit ihnen herabbeugen muss. Ohne Hierarchie des Guten, wie sie das Subsidiaritätsprinzip der christlichen Soziallehre postuliert, endet grenzenloser Idealismus in Naivität gegenüber dem Fernen und in Verachtung des Nächsten.
Was mögen Armutsrentner oder Obdachlose angesichts üppiger staatlicher Leistungen selbst für illegale Migranten denken? Besser, man fragt nicht und redet nicht darüber. Wo es früher um die Nöte sozial Benachteiligter oder gesellschaftlich Deklassierter ging, fokussiert die Aufmerksamkeit heute auf die Identitätsprobleme mitunter kleinster Minderheiten.
Im Globalismus wird in widersprüchlicher Weise sowohl die Gleichheit der Kulturen als auch die Universalität westlicher Werte propagiert. Um diesen Widerspruch zu verdecken, werden die hanebüchensten Konstrukte erfunden. Im Rahmen „Postkolonialer Studien“ wird der Westen für alle Übel der Welt in Haftung genommen und der aggressiven Eroberungsreligion des Islam die Rolle eines Ersatzproletariats zugewiesen. Darüber lassen sich dann selbst Gewaltakte entschuldigen.
Der freiwillige Zusammenschluss einzelner Nationalstaaten in der Europäischen Union gilt den dortigen Mehrheiten als Probelauf für globalistische Politik. Tatsächlich gebärdet sich die Europäische Union wie eine globale NGO, die sich am wenigsten für die Interessen der eigenen Bürger zu interessieren scheint. Am deutlichsten trägt dies zum lokalen Ruin durch eine grenzenlose Migrationspolitik bei. Die daraus hervorgehenden Konsequenzen gefährden auf Dauer sowohl die Union als auch die Nationalstaaten. Wer es gleichwohl noch wagt, die Frage nach den Interessen der eigenen Gesellschaft und Nation aufzuwerfen, wird aus dem Diskurs verdrängt.
Rechts ist die notwendige Antithese zu Links
Gemäß der dialektischen Sicht der Geschichte war es nur eine Frage der Zeit, bis sich eine derart einseitig verfochtene These in Widersprüche verstrickt und eine Antithese erzeugt. Der Fokus zurück auf das Eigene bedeutet zunächst einmal die Rückkehr zu einer Normalität, die de facto konservativ ist, aber mit moralischen Argumenten als „rechts“ diskreditiert wurde. Diese „Rechte“ besteht aus sehr unterschiedlichen Kräften. Es handelt sich um heterogene Bewegungen, die sich jedoch all der drohenden kulturellen Selbstauflösung durch kulturelle Selbstbehauptung erwehren wollen. Es sind Local Player, die sich den Global Playern entgegenstellen.
Donald Trump etwa verdankt seinen Aufstieg und sein Comeback dem Sinn für Grenzen, die für niemanden notwendiger sind als für die „kleinen Leute“, die dem weltweiten Wettbewerb nicht standhalten können. Das auch idealistisch begründete Hegenomiestreben hatte die USA nach dem 11. September 2001 bis in den Hindukusch vorrücken lassen. Trump dagegen folgt einer Strategie der Selbstbehauptung, in der nicht globale Anliegen verfolgt, sondern die eigenen Interessen durchgesetzt werden. Je mehr sich der Westen aus ihm kulturell fremden Weltregionen heraushält, desto mehr Mittel stehen ihm für die Sicherheit daheim bereit. Solches bedeutet nicht allein das Ende von abseitigen militärischen Interventionen, sondern auch das Ende von offenen Grenzen für illegale Migration.
Trump verlangt keinen hegemonialen, aber einen starken Platz der USA in einer multipolaren Weltordnung. Darin ist die Unterscheidung nach Autoritarismus und Totalitarismus von größter Bedeutung. Denn der totalitäre Islamismus ist weder für demokratische Systeme noch für autoritäre Regime akzeptabel, woraus sich auch neue Konstellationen einer Zusammenarbeit ergeben.
Synthesen in Sicht
Freilich können auch Bewahrer des Eigenen sich in Extremen wie krankhaften Isolationismus und übersteigerten Nationalismus verrennen. Gleichwohl braucht es dritte Wege jenseits von oder zwischen Fern- und Nah-Interessen und letztlich einen Ausgleich zwischen Offenheit und Eigensinn. Die Entweder-oder-Spaltung zwischen Links und Rechts führt an den realen Problemen vorbei. Die Sicherung des liberalen Rechts- und Sozialstaates etwa liegt sowohl im liberalen als auch im linken und rechten Interesse. Progressive Positionen links der Mitte gelten als normal, aber auch konservative Idee rechts der Mitte stellen im Konzert der Theorien eine unverzichtbare Ergänzung dar.
Die Krönung der Dialektik bestünde in einem Kategorienwechsel, etwa vom idealistischen Wunschdenken zum realpolitischen Denken in Grenzen und Notwendigkeiten. Der Nahe Osten könnte sich nur zum Frieden entwickeln, wenn der dortige Kampf der Kulturen in einen Kampf für eine gemeinsame Zivilisation fortentwickelt wird. Immerhin interessieren sich einige der reichsten und entwickelten Staaten der arabischen Welt mehr für einen Entwicklungsfrieden mit Israel als für eine Fortsetzung des unter dem Deckmantel eines befreiten „Palästina“ geführten Religionskrieges. In den Abraham-Accords deutete sich ein nahöstliche Realität an, in der es um Fortschritt und Entwicklung geht, der sich in Wohlstand und Bildung für die Massen niederschlagen soll.
In der multipolaren Welt relativiert sich auch der weiter fortbestehende Gegensatz von Demokratie und Diktatur. Angesichts dieser Relativierung – oft handelt es sich statt um einen klaren Systemgegensatz um Varianten der Oligarchie – erscheint der Krieg in der Ukraine als besonders anachronistisch. Im Staatenbündnis BRICS-plus spielen die Systemunterschiede der Mitgliedsländer kaum eine Rolle. Während es Russland, China oder auch Brasilien um die geopolitische Abwehr des westlichen Hegemonieanspruches geht, lassen es andere Mitglieder bei der wirtschaftlichen Vernetzung mit Gleichrangigen bewenden.
Wegen seiner auf das nationale Interesse ausgerichteten autoritär ausgeführten Politik gilt Ungarn als das schwarze Schaf Europas. Seit Trumps Amtsantritt weht den Staaten Westeuropas der Wind des Wandels aus den USA wie auch aus Mitteleuropa ins Gesicht. Von Polen über die Slowakei bis Rumänien gilt der Schutz des kollektiven Eigeninteresses heute mehr als globale oder radial individualistische Visionen. Die Brandmauer innerhalb der Europäischen Union gegenüber Viktor Orbán dürfte ins Wanken geraten. Er unterhält beste Beziehungen zu Trump, und auch die jüngste Wahl in Polen unterstreicht, dass die Mitteleuropäer dem westeuropäischen Globalismus immer kritischer gegenüberstehen.
Neugier und Offenheit gegenüber digitalen Entwicklungen wie der Künstlichen Intelligenz sind durchaus gefragt, doch bedürfen sie als humanes Gegengewicht unbedingt der Wertschätzung der kulturellen und geistigen Schätze der Vergangenheit. Im Fundus des alten Wissens und versunkener Weisheit dürften sich viele Schätze finden, die für die Zukunft mobilisiert werden können.
Die christliche Ordnung der Nächstenliebe (ordo amoris) – vom amerikanischen Vizepräsidenten J.D. Vance unlängst in die Debatte geworfen – thematisiert die Notwendigkeit, die Aufmerksamkeit zuerst kleineren Einheiten von der Familie bis zum eigenen Staat zuzuwenden und erst danach den Blick auf die ganze Welt zu werfen. Gerade die Globalität von Wissenschaft, Technik und Ökonomie erfordert zum Ausgleich subsidiäre politische Instanzen. Global gespannte Netzwerke sind nur so gut, wie ihre Knotenpunkte – zumal in der Gestalt von Nationalstaaten – die Maschen zusammenzuhalten vermögen.
Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaften. Zuletzt erschien von ihm zusammen mit Chaim Noll: „Verteidigung der Zivilisation. Israel und Europa in der islamistischen Bedrohung“, Reinbek 2024.
Bei dem Text handelt sich um eine erweiterte Fassung eines Beitrages in der Neuen Zürcher Zeitung vom 26. Mai 2025.
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