Gastautor / 28.04.2019 / 11:00 / Foto: Thomas Duffé / 12 / Seite ausdrucken

Deutschland zwischen Panik, Größenwahn und Selbsverzwergung

Von Christian Schüle.

Vor einem halben Jahrhundert war in dem bemerkenswerten Buch eines deutschen Psychiaters und Philosophen Folgendes zu lesen: „Der Bevölkerung der Bundesrepublik geht es wirtschaftlich so gut wie noch nie, mit Ausnahme der Schlechtweggekommenen, von denen man selten spricht. Es herrscht eine Zufriedenheit im Eifer des Lebensgenusses bei ständig geringer werdender Arbeitszeit und Vermehrung der Konsumgüter, der Reisemöglichkeiten und Vergnügungen. Trotzdem gibt es eine Unruhe. Ist dies Leben auch sicher? Man fürchtet. Die Denkenden sehen die politische Faktizität mit Sorgen. Wohin treiben wir? Die Demokratie der Bundesrepublik wandelt sich vor unseren Augen. Es werden Wege beschritten, an deren Ende es weder eine Demokratie noch einen freien Bürger geben würde, vielleicht ohne daß die, die sie gehen, dieses Ende wollen. Diese Wege sind nicht unausweichlich. Aber nur ein zur Freiheit drängendes, seiner selbst darin bewußtes Volk kann die Demokratie in freier republikanischer Verfassung, die bisher nur eine Chance ist, verwirklichen …“ (Karl Jaspers: „Wohin treibt die Bundesrepublik?“, 1966).

Jaspers’ Frage war damals so sinnvoll, wie sie heute nötig ist. 1966 bereitete sich die kulturelle Revolte der 68er vor, die bisher nachhaltigste soziale Zäsur in der Biografie der Bundesrepublik – für die einen überfällige Befreiung vom verspießerten, verknöcherten, reaktionären Konservatismus und seinem in Habitus und Lebenswelt manifestierten Muff, für die anderen die abgeschmackte Ouvertüre zur kommenden Versiffung und Verlotterung von Moral, Recht und Ordnung, deren schlechte Aura bis heute ausstrahlt.

Und heute, ein halbes Jahrhundert später, wohin treibt die Republik heute? Nach drei Generationen BRD, da dieses in den Trümmern der Selbstvernichtung gezeugte Kind erwachsen geworden sein müsste, zeigt sich Deutschland in einem Zustand verblüffender Verwirrung ohne Affektkontrolle. Wie kann es sein, dass der Mensch im vermeintlichen Zenit seiner technologischen Genialität, seiner wissenschaftlichen Brillanz, seiner wirtschaftlichen Höhenflüge und der im historischen Vergleich größtmöglichen Bildung nahezu abstürzt in den Ur-Zustand des Kampfes aller gegen alle?

Jede Ära hat ihre Krankheiten

Was der US-amerikanische Politikwissenschaftler Ken Jowitt bereits 1991 voraussagte, tritt offenbar eine Generation später ein: Dem „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) folgt jetzt das „Zeitalter des Ressentiments“ (Jowitt) durch Wutbewegungen auf dem Grabfeld geschwächter Nationalstaaten. Bedroht wird die repräsentative Demokratie als Staatsform, die die Emanzipation von Minderheiten fördert, durch eine andere Form von Demokratie: der substantialistischen. So entstehen auf demokratisch legale Weise politische Regime, die „die Vorurteile von Mehrheiten“ stärken (Ivan Krastev).

Jedes Land ist auf seine Weise gestört. Jede Ära hat ihre Krankheiten, jede Epoche ihre Neurosen. Neurosen und Psychosen sind Ausdrucksformen der jeweiligen Kultur: eine Reaktion des Individuums auf die Entwicklung der Gesellschaft. Sie sind Persönlichkeitsstörungen auf dem schmalen Grat zwischen Normalität und Pathologie.

Waren zu Sigmund Freuds Zeiten Hysterie und Waschzwang die Antwort auf eine frühkapitalistische Ordnung (fanatischer Arbeitseifer, Habsucht und Unterdrückung der Sexualität), so waren in der kapitalismuskritischen Epoche der 1970er Jahre Borderline und Individualnarzissmus die Antwort auf vage Beschwerden gestörter Selbstachtung. Dieser Tage scheinen es – als Replik auf die neurotisch überreizten Gehirne gestresster Individualisten einer in jeder Hinsicht exzessiven Epoche – Dauer­erregung und die spezifische Form eines kollektiven Narzissmus zu sein. Die Deutschen (nicht als zählbare Gesamtheit, sondern als abstrakter Gattungsbegriff verstanden) oszillieren zwischen Protest und Panik, Größenwahn und Selbstverzwergung.

Aufstieg, Angst, Schuld und Opfermythos

Jedes Land ist das Ergebnis seiner täglichen Übersetzung in die Zukunft, jede Epoche das Resultat der bisherigen Geschichte. Jede Gesellschaft ist permanenter Wandlung und Erneuerung unterworfen. Jede Ära hat ihre Sprache, jede Zeit ihre Resonanzräume, jeder Resonanzraum sein Narrativ. Im Zuge des Metaphernmülls und der Sprachverstopfung des öffentlichen Raums taucht – gedruckt oder gesprochen und meist ohne Sinn und Verstand – immer wieder der Begriff „Narrativ“ auf. Er meint alles Mögliche (Klischee, Storytelling, Programm), nicht aber das, worunter das Narrativ in diesem Buch verstanden wird. Als Narrativ im eigentlichen Sinne verstehe ich eine in sich geschlossene Erzählschablone – die ohne Zweifel rationale Erzählung einer Wirklichkeit, die die Begründung für ihre Rationalität in sich trägt (und bei genauerer Betrachtung kein bisschen rational ist).

Das Narrativ konstruiert Wirklichkeit als einen Zusammenhang, der nicht gegeben ist. Es setzt die Konstruktion dieses Zusammenhangs aber als so plausibel an, dass es sich von selbst versteht. Die List eines Narrativs besteht also darin, dass es – um den Konflikt mit der Wirklichkeit zu vermeiden – die Wirklichkeit selbst vermeidet. Gegenwartsbewältigung (besser: Zukunftsvorbereitung) kann sich weder in einfältiger Deutschlandverachtung erschöpfen, noch darf sich daraus die Selbstermächtigung einer Exklusivitäts-Fantasie schöpfen. Ersteres führt in die Dauerdepression, zweites in den Wahn. Beides ist unerträglich und untragbar.

Ich behaupte, dass die vier Narrative Aufstieg, Angst, Schuld und Opfermythos die geistige Blaupause der Bundesrepublik Deutschland sind. Mehr oder weniger stark prägen sie bis heute die Lebenswelt jedes Deutschen. In unterschiedlicher Erscheinungsweise und Drastik unterliegen sie dem bundesrepublikanischen Sprech- und Denkgestus bewusst wie unbewusst und haben – jedes Narrativ auf seine Weise – zur Erregokratie der Kampfzone geführt. Dieses Buch ist der Versuch, jene Narrative zu identifizieren, ihre Schablonen zu sezieren und mit scharfgestelltem Blick am Detail zu beschreiben, inwieweit sie unser Selbstverständnis verändert haben. Alles beginnt bei mir, bei Ihnen, bei UNS. Ohne phänomenologische Inspektion des Individuums, seiner Täuschungen und Enttäuschungen, ohne Erkenntnis über die Einbettung des Einzelnen in die Resonanzräume der Bundesrepublik sind die Frontstellungen in der Kampfzone meines Erachtens nicht zu verstehen.

Auszug aus dem neu erschienenen Buch „In der Kampfzone. Deutschland zwischen Panik, Größenwahn und Selbstverzwergung“ von Christian Schüle, 2019, Penguin Verlag: München, hier bestellbar.

 

Christian Schüle, geb. 1970, ist Philosoph, freier Autor und Publizist. Seine Essays, Feuilletons und Reportagen erscheinen u.a. in ZEIT, „mare“, Deutschlandfunk, DeutschlandRadio und Bayerischer Rundfunk und wurden vielfach ausgezeichnet. Seit 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Foto: Thomas Duffé

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Cornelius Angermann / 28.04.2019

Der Kardinalfehler ist und war, dass man es Schulabbrechern, Nichtskönnern und intellektuellen Tieffliegern gestattet hat, die Führung unseres Landes zu übernehmen. Die haben sich nämlich auf das einzige Feld geflüchtet, bei dem es auf Wissen, Bildung und Kenntnisse oder andere Fähigkeiten nicht ankommt: Moral.

Dr. Inge Frigge-Hagemann / 28.04.2019

Zu Wolfgang Kaufmann: Bravo - kurz und prägnant sehr gut erklärt. Ich fürchte, die infantile Haltung bei der Mehrheit von Politikern und Medien hat sich nicht ausgewachsen. Anders sind die zahlreichen Fehlentwicklungen in vielen Bereichen nicht zu erklären, eine Wohlstandsverwahrlosung ist doch deutlich sichtbar. Statt vorwärts geht es immer weiter zurück (hierzu auch ein lesenswerter Artikel von Lara Trump zum Untergang Deutschlands).

Volker Derouaux / 28.04.2019

Es ist immer wieder bezeichnend das von “den Deutschen” geredet wird und die meisten “Denker” und “Philosophen” sowie die immer nur selbst ernannten “Eliten” verweisen dabei auf eine breite gesellschaftliche Gedankenstruktur die aber meiner Ansicht nach niemals beweis - oder nachweisbar existieren kann?  Jedes Individuum unter dem Begriff der Zugehörigkeit eines Volkes erfährt und bildet ja immer eine eigene Gedankenstruktur im Bezug zu seinen sehr speziellen Umgebungs - also Rahmenbedingungen die durch seine familiere Bindung und den dann weiter gehenden sozialen und zwischenmenschlichen Kontakten geprägt wird also immer unterschiedliche Ausprägungen bekommt. Sätze wie “Die Deutschen sind so und so…”. sind immer falsch. Der wirklich freie Mensch kann nur ein gelebter Gedanke von Freiheit sein denn seinen Körper mit Energie am Leben zu halten und seinen Geist durch Wissen und Bildung zu erweitern ist eine zwangsläufige Tatsache. Wenn die Rahmenbedingungen für ein weitestgehend “freies” Leben also wenige unnötige Einschränkungen durch Regeln, Gesetze und so weiter herrschten und die nötigsten Konsensfähigkeiten in einer Gesellschaft von ihren Mitmenschen gelebt und angewendet würden, dann kann eine angenehme relative Freiheit für die meisten erreicht werden. Idealbedingungen dafür werden durch Machthunger also Gier danach selbst Schicksal spielen zu können durch Besitz von entscheidenden Ressourcen und vielem anderen wie die Macht Meinungen produzieren zu können durch Manipulation und so weiter immer verhindert. Der aktuelle besonders der moderne in einem Industrieland lebende Mensch kann nur noch eine schon stark beeinflusste gedankliche Freiheit ausleben und nur selten durch freie Kommunikation weiterentwickeln. Deshalb gibt es immer Gewalt als Zwischenlösung die ausschliesslich durch die initiiert wird, die den Machthunger und das unbedingte Monopol zur “Schicksalsbestimmung” in sich tragen.

Donald Adolf Murmelstein / 28.04.2019

Ich befinde mich zum Glück oberhalb der „Deutschen Kampfzone“ und zwar weil ich außer in Deutsch auch noch in zwei weiteren Sprachen leben und denken kann. Ich verfüge sozusagen über mehrere „backdoors“ die es mir ermöglichen unbemerkt sozusagen „inkognito“ die deutsche Kampfzone zu betreten, zu beobachten, zu beurteilen um schnell wieder „das Weite“ zu suchen. Dafür bin ich meinen Eltern dankbar – auch wenn ich sie dafür eine Zeitlang verflucht habe. Deutschland hat sich sicherlich immer wieder neu erfunden. Jetzt ist „Endspiel“ angesagt (siehe Beckett) . In ein paar Jahren wird in Deutschland der Teufel los sein.

jo pabst / 28.04.2019

Bin ich eigentlich Deutscher? Biologisch mit Sicherheit, denn alle meine Vorfahren mutterlicherseits waren Ostpreußen und väterlicherseits Oberharzer. Aber geistig/glaubensmäßig? Ich glaubte/glaube weder der Kirche noch ihren Epigonen und derern Thesen: also nicht an das Ende der Rohstoffe, den Smog , das Waldsterben oder die Klimakathastrophe, den Feinstaub oder Nox. Denn wer im Ruhrgebiet groß geworden ist,der hat auch mitbekommen, daß Wäsche nicht auf die Leine dürfte wenn, bei uns, der Wind von Süden kam, dann zog er über die Kokerei; denn da war die Wäsche auf der Leine genau so dreckig wie vor der Wäsche. Ich bin auch gegen staatliche Besserwisserei und die Behandlung des Bürgers als Untertan oder Leibeigener. Bin ich also eine Deutscher oder was bin ich?

Wolfgang Kaufmann / 28.04.2019

Der Deutsche verhält sich wie ein Pubertierender. Einerseits übt er die Rebellion und entwertet alles, was seinen Eltern heilig war. Andererseits weiß er, dass dies nur das Spiel von Welpen ist, die am Ende des Abenteuers wieder heim zu Mama und Papa (m/w/d) an den gedeckten Tisch kommen, um ihr Smartphone aufzuladen und ihren Geldbeutel. – Fatal ist freilich, wenn diese infantile Haltung sich nicht auswächst, sondern bis zum letzten Atemzug das Lebensgefühl prägt. Wohlstandsverwahrlosung pur.

Volker Kleinophorst / 28.04.2019

Feministisch, sozialistische Politik kriegt doch alles klein. Prinzip Pol Pot: Alles kaputtschlagen, jeden töten, der was im Hirn hat, und hoffen (die Marxisten meinen selbstredend sie wüßten es) nach dem nächsten Regen wächst aus der blutgetränkten Erde wie von selbst ein (höchstwahrscheinlich buntes) Paradies hervor.

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