Die deutsche Gesellschaft steuert auf ein demographisches Desaster zu. Daran ändert auch der aktuelle Flüchtlingszustrom nichts. Er dient vielen im Gegenteil vor allem dazu, dringend nötige Reformen weiter aufzuschieben.
Das Bild von der demografischen Zeitbombe trifft dabei den Nagel nur halb. Bei einer Zeitbombe tickt die Uhr oder brennt die Lunte, und wenn man die nicht austritt, geht die Bombe hoch. Aber die demografische Lunte lässt sich nicht mehr austreten, die Bombe explodiert auf jeden Fall. Die demografische Struktur eines Gemeinwesens ist sozusagen ein Riesentanker, der ändert nur sehr schwer die Richtung. Wenn da einen Kilometer voraus eine lange Klippe auftaucht, da hilft kein Wenden und keine volle Kraft zurück – der Tanker kracht dagegen.
Diese demografische Klippe, oder besser: Der Abgrund, auf den die deutsche Gesellschaft zusteuert, ist das Millionenloch der fehlenden Kinder, die in den letzten Jahrzenten nicht geboren worden sind. Er ist seit Jahren klar zu sehen, aber von Ausnahmen abgesehen war die Wissenschaft zu abgelenkt und vielfach auch zu feige, um laut und deutlich darauf hinzuweisen.
So hat etwa die „Enquête-Kommission Demografischer Wandel“ des Deutschen Bundestags über drei Legislaturperioden hinweg (1992-2002) die wahren Risiken dieses demografischen Wandels konsequent ignoriert. Man hätte ja als Verfechter nazistischen Gedankenguts verunglimpft werden können. Als man also noch hätte gegensteuern können, hat man es nicht gemacht. Jetzt ist es zu spät. Es kann nur darum gehen, den Aufprall abzuschwächen, die Folgen möglichst schmerzfrei aufzufangen.
Wachstumsschmerzen sind schlimm, Schrumpfungsschmerzen viel schlimmer
Jetzt kommt der Club of Rome und fordert Prämien für Nichtkinderkriegen. Je weniger, desto besser. Kein Stau auf den Autobahnen, keine Umweltverschmutzung, mehr Platz für alle, das hätte doch was für sich? Oder in der Formulierung des Physik-Nobelpreisträgers 1971, Dennis Gabor: „Mir ist eine Menschheit von 2 Milliarden, die sich von Steak und Fasan ernähren, lieber als eine von 20 Milliarden, die Algen fressen müssen.“
Könnte man jetzt auf einen Schalter knipsen, und das Land wäre, bei gleicher geografischer Ausdehnung, auf ein Zehntel seines sozialen Umfangs eingeschrumpft - warum nicht. Aber so funktioniert der demografische Kollaps leider nicht. Denn es ist ein großer Irrtum anzunehmen, dass die demographische Struktur so ohne weiteres skalierbar wäre. Klar, wenn man ein Sozialsystem um einen Faktor X verkleinern könnte, das Sozialprodukt, die Bevölkerung, die Staatsverschuldung usw., so dass pro Kopf alles bliebe wie gehabt, darüber ließe sich reden. Aber leider bleibt pro Kopf eben nicht alles wie gehabt. Wer denkt, Wachstumsschmerzen sind schlimm: Schrumpfungsschmerzen sind viel schlimmer.
Es geht hier also nicht um ein Lamento über den Bevölkerungsrückgang an sich. Auch andere Länder wie etwa Japan haben einen vergleichbaren, wenn nicht sogar noch deutlicheren Rückgang zu erwarten. Aber diese haben ihre Alterssicherung nicht so konsequent wie Deutschland auf einer Umlagefinanzierung aufgebaut. Es ist vor allem diese Kombination zwischen Rentenversicherungssystem und Demographie, die den Bevölkerungsrückgang in Deutschland zu einer solch brisanten Affäre werden lässt.
Rentenbeitragssatz 40 Prozent
Seit mehr als 40 Jahren gibt es in Deutschland zu wenig Kinder, um das Rentensystem langfristig stabil zu halten. Das letzte Jahr mit mehr Geburten als Todesfällen war 1971. Auch wenn der leichte Anstieg der Geburten letztes Jahr in vielen Medien als Weltwunder gefeiert wurde, es bleibt dabei: Deutschland ist, wenn nicht gerade Weltmeister, so doch Jahr für Jahr ein verlässlicher Medaillengewinner in der Kindervermeidung auf der Welt. Und dieser über vier Jahrzehnte kumulierte Rückstand ist durch keine Kurzfristpolitik mehr aufzuholen.
Dieser demografische Selbstmod geschieht langsam; er begann schon mit der Bismarck‘sche Rentenversicherung von 1889. Seitdem braucht man, um im Alter nicht zu verhungern, keine Kinder mehr. Erst durch Bismarck ist zum Beispiel das Single-Dasein für den Normalbürger überhaupt zu einer praktikablen Lebensform geworden. Früher war Kinderlosigkeit eine Bedrohung für das eigene Leben, heute macht sie ein Leben in Luxus für viele überhaupt erst möglich. „Der neue Golf und der Urlaub auf den Malediven können mit dem Geld finanziert werden, das bei der Kindererziehung eingespart wurde oder das die Frau hinzuverdienen konnte, weil sie sich statt für Kinder für eine Berufstätigkeit entschied …. Gerade auch die untere Mittelschicht der Gesellschaft, die früher hohe Geburtenraten aufwies, hat in der Kinderlosigkeit einen Weg entdeckt, den materiellen Aufstieg zu schaffen“ (Hans Werner Sinn).
Dazu kommt eine im Vergleich etwa zu Frankreich (dem einzigen größeren Industriestaat mit einer langfristig systemerhaltenden Kinderquote überhaupt) stärker verbreitete Blindheit gegenüber den Sorgen und Nöten von Familien dazu, der Bielefelder Soziologe Franz Xaver Kaufmann spricht hier von „strukturelle Rücksichtslosigkeit“. Als Konsequenz ist Deutschland nach Japan inzwischen das am mittleren Alter seiner Einwohner gemessen zweitälteste Land der Welt: Japan 46,5, Deutschland 46,2. Und wir sind nicht nur alt, wir werden auch immer älter: Bis zum Jahre 2025 steigt das mittlere Alter in Deutschland auf 53 Jahre an, und ist gerade dabei, das Indifferenzalter zu überholen, das Lebensalter, in dem sich die Vor- und Nachteile einer Rentenreform à la Riester gerade aufheben – die jüngeren profitieren, die älteren haben einen versicherungsmathematischen Nachteil davon.
Liegt das Indifferenzalter über dem Medianalter, dann profitiert die Mehrheit der Wahlberechtigten von einer Reform à la Riester. Liegt es darunter, dann profitiert eine Mehrheit von einer weiteren Ausdehnung des umlagefinanzierten Rentensystems, also vom Gegenteil der Riester-Reform. Damit ist bereits ab jetzt eine Mehrheit für Rentenreformen vom Riester-Typ nicht mehr gesichert und sind solche dringend nötigen Reformen kaum noch durchzusetzen. „Dann kippt das politische System Deutschlands um“ (Hans Werner Sinn). Oder anders ausgedrückt: Deutschland wird zu einer Gerontokratie.
Keine Überalterung, sondern Unterjüngung
Viele sprechen hier auch von einer „Überalterung“. Das geht aber am Kern des Problems vorbei. Wir haben nämlich keine Überalterung, wir haben eine Unterjüngung. Dieser Ausdruck geht auf die seinerzeitige Familienministerin Ursula Lehr zurück. Dass die Lebenden im Durchschnitt immer später sterben, ist doch eher schön, darauf sollte man sich freuen. Es sind die fehlenden Kinder, nicht die vielen Alten, die das Boot mit dem Umkippen bedrohen.
Die wichtigste Konsequenz der deutschen Unterjüngung betrifft die Rentenversicherung. So wird sich etwa das Verhältnis der Personen im Renten- zu Personen im Erwerbsalter bei Fortschreibung der aktuellen Entwicklung von derzeit 35 Prozent auf über 65% im Jahr 2060 verdoppeln. Und in einem umlagefinanzierten Rentensystem (wie man es in den Ländern mit noch höherem künftigen Altenquotienten nicht im deutschen Umfang kennt) hat dieser wachsende Altenquotient natürlich dramatische Folgen für die Beitragssätze. Ohne die Reform von 1992 (damals wurden die Renten den Netto- statt den Bruttolöhnen angepasst) und mit Einrechnung versicherungsbezogener Bundeszuschüsse, die ja auch von den Beitragszahlern zu finanzieren sind, hätten wir für die Jahre 2030 bzw. 2060 Beitragssätze von 35 Prozent beziehungsweise 48 Prozent. Nach der Senkung des Nettorentenniveaus in den Reformen 2001/2004 und mit Einrechnung der stufenweisen Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ergeben sich immer noch 28 Prozent beziehungsweise 33 Prozent – zu viel, um wirtschafts- und sozialpolitisch durchsetzbar zu sein.
Wanderungen als Ausweg?
Seit dem Sommer 2015 sind rund eine Million potentielle neue Bürger und damit auch potentielle Rentenbeitrags- und Steuerzahler nach Deutschland eingewandert. Und rund eine weitere Milliarde Menschen weltweit (also nochmal 1000 für jeden, der letztes Jahr gekommen ist) würde gern nach Deutschland kommen, wenn sie könnten und wenn man sie ließe.
Leider wird dieses enorme Potential nicht gut genutzt. Wie man mit dieser Magnetfunktion optimal umgeht, hat auf der Ebene einer bekannten deutschen Wirtschaftsfakultät einmal ein ebenso bekannter VWL-Kollege vorgemacht: „Herr Krämer“, hat er mir einmal gesagt, nach dem Erfolgsgeheimnis seiner Fakultät gefragt, „meine Devise war immer: Es kommt mir niemand über die Schwelle, der nicht besser ist als ich selbst“.
Das macht Deutschland auf der Makroebene genau umgekehrt. Bei der Pisa-Studie 2003 konnten 44 Prozent aller 15-jährigen Schüler mit Migrationshintergrund nicht richtig lesen, bei den einheimischen waren es nur 13,6 Prozent. In allen anderen Ländern, die an PISA teilgenommen hatten, war diese Kluft viel kleiner: 29 Prozent zu 11 Prozent in der Schweiz, 27 Prozent zu 15 Prozent in Frankreich, 20 Prozent zu 8 Prozent in den Niederlanden. Und in Kanada waren die Migrantenkinder sogar besser als die einheimischen: Nur 5,5 Prozent der Migrantenkinder konnten nicht richtig lesen, verglichen mit 8 Prozent der einheimischen. Damit machen die Migrantenkinder den Durchschnitt klüger. Bei uns machen sie den Durchschnitt dümmer.
Ähnliche Ergebnisse lieferte auch PISA 2012. Hier konnten in Deutschland 31 Prozent der 15-jährigen Schüler mit Migrationshintergrund nicht richtig rechnen, verglichen mit 14 Prozent der einheimischen.
Bei den Migranten selbst ist das Bild je nach Ursprungsland verschieden. Es gibt hier die drei großen Quellen (i) EU-Osterweiterung, (ii) EU-Schuldenkrise und (iii) Fluchtmigration. Letztere dominiert zur Zeit, wobei eine gewisse Bimodalität der Qualifikation erkennbar ist: Einem großen Prozentsatz gut ausgebildeter steht ein ebenso großer Prozentsatz überhaupt nicht ausgebildeter Flüchtlinge gegenüber. Sofern überhaupt beschäftigt, arbeiteten etwa im Juni 2015 42 Prozent aller Flüchtlinge aus nichteuropäischen Herkunftsländern als Hilfsarbeiter, nur 10 Prozent als Akademiker, so dass die aktuelle Wanderung das durchschnittliche Qualifikationsniveau nicht hebt, sondern senkt.
Die Reise wird rau, bitte anschnallen
Unter anderem auch deshalb täuscht die reine Höhe des aktuellen Wanderungssaldos über dessen fragwürdiges ökonomisches Potential hinweg. So kommt etwa das Institut der Deutschen Wirtschaft, ausgehend von einer weiteren jährlichen Nettozuwanderung von 200.000 bis 300.000 Personen pro Jahr, zu einer Bevölkerungsprognose von 83 Millionen bis 2035. Aber diese Zahlen sagen nichts zur Qualifikation und vor allem: nichts über die Struktur, wie auch vom IDW selbst angemerkt. Was nützen der Gesellschaft als ganzer 83 Mio. Menschen, wenn die Hälfte davon Rentner sind? Die Geburtsjahrgänge 1960 bis 1965 waren die stärksten in der Geschichte der Bundesrepublik, 7,9 Mio. Neugeborene insgesamt in Ost und West. Davon werden rund 6,6 Mio. das Rentenalter erreichen, dieser Block tritt also bei einer Rente mit 67 zwischen 2027 und 2032 gemeinsam in den Ruhestand.
Mit anderen Worten, die großen Probleme fangen dann erst an, Wanderungen hin oder her. Nach einer mittleren Variante der 13. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes müssen im Jahr 2060 40 Millionen Menschen zwischen 20 und 67 für 33 Millionen Abhängige sorgen. Aktuell ist das Verhältnis 51:30. Aber selbst 40:33 ist noch optimistisch: Älter als 20 ist nicht gleichbedeutend mit erwerbstätig, man denke nur an die Studenten. Und auch die Rente mit 67 wird ja immer wieder infrage gestellt.
Diese Prognose basiert auf einer Erhöhung der Lebenserwartung auf 87 Jahre für Männer und 90 Jahre für Frauen, einer Nettozuwanderung von jährlich 200.000 Menschen, und einer Geburtenziffer von 1,4 Kinder pro Frau. Und daran ändert sich auch dann nicht viel, wenn die Geburtenziffer wieder steigt: Bei 1,6 statt 1,4 leben dann statt 73 Millonen eben 79 Millionen Menschen hier, aber der Abhängigenquotient ändert sich nur minimal. Das Rentenproblem wird also durch Zuwanderung und mehr Geburten nur leicht entschärft, es geht nicht weg. Die Reise wird rau, bitte anschnallen.