Die Deutschen fallen oft durch ein gestörtes Verhältnis zu ihrem eigenen Land auf. Warum es uns an Selbstachtung mangelt und die Geschichte keine Ausrede sein darf, den eigenen Landsleuten, die Opfer zweier unmenschlicher Ideologien wurden, unser Mitgefühl zu versagen. Zum Tag der Deutschen Einheit.
„Als Deutschland durch seine Zwietracht nichts mehr war, umfaßte mein Herz seine Einheit und Einigkeit“
Ernst Moritz Arndt, deutsche Dichter (* 1769 auf Rügen – Ϯ 1860 in Bonn)
Heute ist unser Nationalfeiertag. Ganz gleich, wie man zum 3. Oktober stehen mag: Wenigstens an diesem einen Tag im Jahr sollten die Deutschen exklusiv über sich und ihr Land nachdenken dürfen. Erst recht, wo Deutschlands Zukunft ungewiss ist wie seit langem nicht. Es hat etwas Bestechendes und Beklemmendes zugleich, mit welcher Präzision Franz Josef Strauß 1986, zu einem Zeitpunkt, wo es für ihn politisch nichts mehr zu gewinnen gab (er ist zwei Jahre später, heute vor genau 34 Jahren, gestorben), in einer für heutige Verhältnisse ungewohnt kämpferischen Rede, die natürlich nicht frei von Spitzen gegen den politischen Gegner war, Punkt für Punkt die Gefahren und Folgen einer utopischen Politik klar benannt hatte.
Im Jahr davor, 1985, sagte Strauß übrigens diesen denkwürdigen Satz: „Das deutsche Vaterland ist trotz seiner Teilung unzerstörbar und unvernichtbar und kann auf die Dauer nicht gespalten bleiben.“ Auch mit dieser Voraussage behielt er recht. Dass Deutschland heute wieder auf andere Weise gespalten ist, ist Strauß nicht vorzuwerfen. Das haben andere zu verantworten. Den Niedergang dieses einst geachteten, geschätzten, prosperierenden und nicht zuletzt – doch, doch! – liebenswerten Landes mit ansehen zu müssen, weckt in mir allerdings weder Verachtung noch Hass. Bedenken Sie: gerade jede pauschale Verdammnis von Land und Leuten träfe am Ende auch Sie mit voller Wucht. Zumindest als Deutschen.
Ein seltsamer „Stolz“ als Zwilling des Hasses
Einiges aber widert mich an. So der Hass auf das eigene Land. Er scheint etwas sehr Deutsches zu sein. Darauf bin ich wahrlich nicht stolz. Zumal: dunkle, ja tiefschwarze Flecken finden sich überall. Nur reduziert man die Geschichte anderer Länder nicht weitgehend darauf und macht auch kein anderes Volk in Gänze dafür verantwortlich, sondern ihre Führung und ihre willigen Handlanger. Ferner wird anerkannt, dass grundsätzlich die wenigsten Menschen dem Druck eines Terrorregimes gewachsen sind; man erkennt die unausweichlichen seelischen Nöte, sieht und akzeptiert die Grautöne, wo bei uns nur Schwarz-Weiß-Denken erlaubt ist. Dass andere Nationen ihre Verfehlungen nicht mit Monstranz vor sich hertragen und darauf auch noch „stolz“ sind, unterscheidet sie von uns.
Über die Fehler anderer sehen wir gerne großzügig hinweg. Dies ist nobel, gewiss. Nicht aber, sobald die Fehler anderer zu unseren erklärt werden. Bekanntlich ist man als Deutscher für jedes Übel dieser Welt verantwortlich. Und das, obwohl es kaum ein hilfsbereiteres Volk geben dürfe als das deutsche. Selbst in Zeiten wie diesen, wo viele den Gürtel deutlich enger schnallen müssen und manche finanziell kaum noch über die Runden kommen, befindet sich die deutsche Spendenbereitschaft auf Rekordhöhe. Trotzdem werfen sich in vorauseilendem Gehorsam nicht wenige Deutsche untertänigst in den Staub, wenn am anderen Ende der Welt ein Unglück oder Unrecht geschieht und geben sich die Schuld daran. Wofür sie außerhalb Deutschlands, vorsichtig ausgedrückt, eher Kopfschütteln denn Bewunderung ernten.
Ausdruck einer verwirrten und verletzten Nation
Der Wunsch nach Selbsterhöhung durch Selbsterniedrigung ist eine uralte Geschichte. Nur dass dieses Begehren häufig einem angeknacksten Selbstwertgefühl entspringt. Ein gesundes Selbstwertgefühl verbietet nicht die Einsicht in eigene Fehler und ihre Korrektur – ganz im Gegenteil! – sehr wohl aber verbietet es eine Selbstherabsetzung zum einzigen Zwecke der Selbstgeißelung. Sie macht kein einziges Verbrechen ungeschehen, kein Opfer wieder lebendig, sie bietet auch keinen Anreiz zur Läuterung, dazu, etwas besser zu machen oder überhaupt nur darüber nachzudenken, geschweige denn, „aus der Geschichte zu lernen“. Vor allem dann nicht, wenn behauptet wird, diese Schlechtigkeit läge allein schon in unserer „deutschen DNA“ begründet. Diese kann man als Deutscher schließlich nicht abstreifen.
Die Besessenheit, mit der nicht wenige Deutsche an ihrem eigenen Land kein gutes Haar lassen, ist eigentlich Ausdruck einer verwirrten und verletzten Nation. Vor allem aber: Diese beständig negative Selbstwahrnehmung hat Konsequenzen. Denn, so der deutsch-jüdische Historiker Michael Wolffsohn: „Wer sich selbst innerlich nicht annimmt, kann andere erst recht nicht annehmen. Frieden nach außen kann nur bewahren, wer inneren Frieden gefunden hat. Wenn ich mich selbst nicht liebe, kann ich auch andere nicht lieben. Deshalb heißt es in der Hebräischen Bibel (nicht unbedingt ein Dokument des deutschen Patriotismus): ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‘ “ Eigentlich eine Binse.
Doch selbst der Begriff der Nächstenliebe wird gerne missverstanden. Gemeint ist in Wahrheit oft: „Fernstenliebe“. Ich erinnere mich da dunkel an die Aussage eines westdeutschen Politikers in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, er wolle lieber „einem bedrohten Afrikaner“ Platz machen als einem Flüchtling aus der „DDR“. Wie sehr hatte mich desgleichen schon als junge Westdeutsche beschämt, jene Forderungen, wozu auch gehörte, die eigenen, von der SED bedrängten, unterdrückten und in Not gebrachten Landsleute quasi in ihr Gefängnis zurückzuschicken. Wäre Deutschland noch geteilt, möchte ich gar nicht wissen, wieviele diese – übrigens grundgesetzwidrige! – Idee heute noch unterstützen würden.
Es mangelt den Deutschen an Selbstachtung
Auch gegenwärtig kann vieles beklagt werden, etwa gewisse Erscheinungen eines Zeitgeistes, welcher in den USA und Großbritannien seinen Ursprung hat – nicht in Deutschland! Man kann zugleich anerkennen, dass etliche unserer Probleme hausgemacht sind. Nur nützt alles Klagen nichts, wenn man den tieferen Ursachen nicht nachgeht. Da landete man am Ende unweigerlich bei der Selbstverachtung. Ihre zerstörerische Wirkung liegt darin, dass sie alles Eigene torpediert und damit die Grundlagen der eigenen Nation gefährdet, was in letzter Konsequenz den Staat in seinen Grundfesten erschüttert.
Es ist ein Grundübel der Bundesrepublik, der Selbstachtung einen geringen Stellenwert einzuräumen, Patriotismus kaum zuzulassen und damit den eigenen Landsleuten oft mit einer Kälte zu begegnen, die einen frösteln lässt. Anders ist kaum erklärbar, warum von ihrem höchsten Repräsentanten vor vier Jahren Auftritte gewisser Bands unterstützt und beworben werden konnten, die das eigene Land und seine Bürger in einer Weise diffamieren, die nicht zitierfähig ist. Und nein, der spezielle deutsche Selbsthass kann nicht (allein) mit Hitler erklärt werden, weil er viel älter ist. Es ist auch nicht jede Äußerung hinnehmbar, vor allem nicht dort, wo der Ton ins Gehässige abgleitet. Es sollte nachdenklich stimmen, dass kaum ein anderes Volk sich ohne nennenswerte Gegenwehr so sehr auf das übelste beschimpfen und buchstäblich in den Dreck ziehen lässt wie das deutsche. Da wird toleriert, was in umgekehrten Fällen schnell als Volksverhetzung gilt. Ein Volk, welches über Selbstachtung verfügte, würde solcherart Ansinnen entschieden zurückweisen.
Aber das ist es eben: wievielen Schülergenerationen hat man hierzulande, teils unterschwellig, teils offen, beigebracht, dass man nur ein „guter Deutscher“ sein kann, wenn man größtmögliche innere Distanz zu Deutschland wahrt oder, auch sehr beliebt, betont, „Europäer“ (und eben nicht Deutscher) zu sein? Habeck ist da nur ein Kind seiner Zeit, wenn er Vaterlandsliebe schlicht „zum Kotzen“ findet. Folgte man Wolffsohns Auffassung, käme man freilich zu einem gänzlich anderen Ergebnis: „Der Einsatz freier Bürger für ihr freies Gemeinwesen. Das ist Bürgersinn, und Bürgersinn gehört zu jeglichem Patriotismus. In Deutschland und woanders. Kein Gemeinwesen kann ohne diesen Patriotismus leben und überleben. Das wiederum bedeutet: Jeder Staat braucht den Patriotismus seiner Bürger, der deutsche Staat wie jeder andere auch. Wer das Gegenteil behauptet, verkennt die elementaren Voraussetzungen jedes Gemeinwesens.“
Das freundliche Deutschland-Bild der Verbündeten
Ein Land, das sich selbst achtete, würde das, was seine Identität begründet, schon alleine aus Gründen des Selbsterhalts schützen und verteidigen. Dazu gehören unsere Sprache und Kultur, unsere Lebensart mitsamt ihren Wertvorstellungen, unsere Naturschätze, aber auch unsere technische Errungenschaften, welche uns – und anderen! – überhaupt erst Freiheit und Wohlstand ermöglicht haben. Deutschland hat sehr lange als Land der Dichter, Denker und Musiker, der Tüftler, Erfinder und Entdecker die ganze Welt bereichert. Kein Geringerer als Ronald Reagan bescheinigte den Deutschen 1985 in Hambach: „Kein Land der Welt ist schöpferischer gewesen als Deutschland.“ Was für ein schönes Kompliment! Nur in deutschen Ohren nicht wohlgelitten. Bemerkenswert war damals schon, wie sehr unser negatives Selbstbild mit dem längst sehr viel positiveren Deutschland-Bild unserer Verbündeten oder Nachbarn kollidierte.
Hier ein Beispiel aus dem Nachbarland. Francois Mitterrand hatte im Oktober 1987 in Bonn einen Appell an die deutsche Jugend gerichtet: „Sucht Eure Identität nicht woanders, sondern in Eurer eigenen Kultur.“ Auf die Frage der WELT im Interview vom 18. Januar 1988, ob das denn nicht ein Schritt zurück in den Nationalismus bedeute, antwortete der französische Präsident: „Warum? Man kann stolz sein auf seine eigene kulturelle Identität, ohne dabei Nationalist zu sein. Es wäre ein Fehler, wenn die Deutschen nicht stolz wären auf ihre Sprache, auf ihre Kultur. […] Und dann gibt es auch noch andere Weltsprachen, die Sie meisterlich beherrschen, zum Beispiel die Musik und die Bildenden Künste, die großen geistigen und philosophischen Themen. Deutschland hat einen außerordentlichen Beitrag zur Weltkultur geleistet. Es ist eine unumstößliche Tatsache“, so der Präsident, „Ihr seid ein großes Volk. Ein großes Volk für eine große Kultur.“ Er forderte die Deutschen ausdrücklich auf, ihre Identität zu bewahren und ihre Geschichte nicht zu vergessen. Muss Mitterrand, der französische Sozialist, jetzt posthum gesteinigt werden? (Dass er die Wiedervereinigung im entscheidenden Moment zu hintertreiben suchte, steht auf einem anderen Blatt.)
Ein Interview der WELT mit dem estnischen Staatspräsidenten Lennart Meri am 22. Juli 1996 offenbart ähnlich Erstaunliches, vor allem aber eine gänzlich andere Geisteshaltung, als von einem Opfer des Hitler-Stalin-Paktes erwartet würde. Auf sehr liebenswürdige Weise erinnerte er an die Deutschbalten, „unsere Landsleute“, wie Meri sie nannte, die „Estlands Vergangenheit und Zukunft noch immer in ihrem Herzen“ tragen würden. Und weiter: „In dieser Hinsicht ist Deutschland für uns einmalig.“ Es gebe noch immer eine sehr aktive Schicht von Deutschen, die sich Estland verbunden fühle, so Meri damals: „Wir möchten diesen Menschen tiefen Dank aussprechen, denn die Tatsache, daß ein so kleines Volk wie die Esten – knapp eine Million Menschen – über viele Jahrhunderte fortbestehen konnte, verdanken wir dem römisch-germanischen Recht. Dieses europäische Rechtssystem war wie heutzutage ein Nato-Schirm über Estland aufgespannt. Mehr noch: Das war ein Beweis für die frühzeitige Integration Estlands in die westliche Kultur.“ Hätten Sie's gewusst? Man muss nur mal auch das Positive unserer Geschichte zur Kenntnis nehmen wollen. Da würde sicher mancher staunen, was er alles nicht weiß. Oder was ihm alles an Wissen vorenthalten wird.
Kommunismus als Ikone
Damit aber ist zum heutigen Tage noch nicht alles gesagt. Zur Selbstachtung gehört, und zwar keineswegs unter „ferner liefen“, den eigenen, vom Schicksal gebeutelten Landsleuten das Mitgefühl gerade am Tag der Deutschen Einheit nicht zu versagen. Womit wir beim Thema wären, obwohl – oder gerade weil – es an einem 3. Oktober, einem einschneidenden Datum der deutschen Geschichte, so gut wie nie eine Rolle spielte. Jörg Schönbohm war da eine rühmliche Ausnahme.
Im August hatte Vera Lengsfeld dankenswerterweise ausführlich an das Schicksal Peter Fechters erinnert und geschildert, dass in Berlin Gedenkorte der Mauertoten immer wieder geschändet und zerstört werden. Dies geschieht in einer Stadt, die am schlimmsten unter der Teilung Deutschlands gelitten hatte. Wie gleichgültig und geschichtsvergessen ihre Verantwortlichen mit einer Epoche umgehen, welche viele der Heutigen – unter ihnen nicht wenige Opfer der SED-Diktatur – noch miterlebt haben, dass hierzulande ungestraft Werbung für den Kommunismus oder seine Embleme, gerne auch im „Retro-Look“, gemacht werden darf, all das ist für jemanden wie mich, die ich nicht vergessen habe, wie das SED-Regime mit seinen Gegnern umging (siehe z.B. hier und hier), ein ohnehin unfassbarer Vorgang.
Dies wiederum führt mich zu der Frage, warum Opfer der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED-Diktatur nicht nur mit schöner Regelmäßigkeit hochmütig übergangen, sondern oftmals geradezu verhöhnt werden. Ein nicht unwesentlicher Grund ist darin zu suchen, dass im Gegensatz zum Nationalsozialismus der Kommunismus seit langem beschönigt wird und vielen noch immer als eine edle Idee gilt, die nur von den Falschen ausgeführt worden sei. Auch wenn diese Ideologie überall dort, wo sie umgesetzt wurde, stets krachend gescheitert ist und eine Spur der Verwüstung hinterlassen hat.
An deutschen Schulen wiederum ist im Unterricht kaum je über die Verbrechen des Kommunismus gelehrt worden. Im Gegenteil: Karl Marx, der Vater dieser Idee, wurde häufig als eine wichtige, in gnädiges Licht getauchte Figur der „sozialen Bewegung“ in Deutschland dargestellt, gar bis hin zur „Ikone“ hochstilisiert. Selbst heute baut man ihm noch Denkmäler. Das Adjektiv „sozialistisch“ im Zusammenhang mit Marx' Ideologie wird in der Regel vermieden. Erst recht wurde und wird nicht thematisiert, zu welch unvorstellbar verbrecherischen Ausmaßen seine Ideologie weltweit führte – in der Sowjetunion und dem gesamten ehemaligen Ostblock, in China, in Nordkorea, im Kambodscha, in Vietnam, in Kuba, in allen Ländern der Welt, in denen die Kommunisten an die Macht gelangten. Schlimmer noch: Mao, Che Guevara und Ho-Chi-Minh wurden zu Säulenheiligen der 68er-Bewegung. Über die Opfer ihrer Gräueltaten verloren sie kein Wort. Dass passte nicht ins Welt-Bild der Selbst-Gerechten.
Verdrängte Verbrechen, vergessene Opfer
Einen weiteren Grund für die verzerrte Geschichtswahrnehmung hatte US-Präsident Ronald Reagan einmal indirekt benannt: „Die ganze Welt weiß alles über die Verbrechen der Deutschen, aber nichts über die Verbrechen an Deutschen.“ Über diese zu berichten ist hierzulande nicht nur verpönt, es ist geradezu ein Sakrileg. Doch wer darüber wenig bis nichts weiß, dem entzieht sich jede Möglichkeit einer Einordnung. Allein das Ausmaß der Verbrechen an deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen aus den Ostgebieten zum Ende des Zweiten Weltkrieges und darüber hinaus ist, obwohl gut dokumentiert, den wenigsten bekannt; es gibt in der Gegenwart auch nur ganz wenige Autoren, die sich dieses Themas empathisch annehmen, etwa Andreas H. Apelt auf fast 500 Seiten mit seinem jüngsten Roman „Hannahs Verlies“.
Prof. Dr. Anton Sterbling, Mitglied im Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Begegnung, Integration – Stiftung der Vertriebenen im Freistaat Sachsen“ bescheinigt Apelt eine sehr realistische Schilderung der Leiden und Schicksale der Deutschen östlich der Elbe und schreibt in seiner Rezension: „Diese stimmen vielfach mit entsprechenden Zeitzeugenberichten (*siehe dazu auch Anm. v. S.D.) über die Gräuel der Roten Armee, die Verfolgungen und Repressionen gegenüber den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg wie auch über die Deportationen in die Sowjetunion überein.“
Sterbling nennt als „besonders hervorzuhebendes Anliegen“ des Autors, „doch auch das unermessliche Leiden vieler in die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges mehr oder weniger unschuldig hineingeratener Deutscher und damit gleichsam die deutsche Opferperspektive überzeugend erinnerlich zu machen. Bei ständiger Thematisierung der deutschen Schuldfrage und der Opferrolle anderer, darf dieser Aspekt des schrecklichen und für Europa so verhängnisvollen Aufstiegs zweier totalitärer Herrschaftssysteme wie auch des Zweiten Weltkrieges und dessen Folgen keineswegs in Vergessenheit geraten, denn er gehört zur millionenfach erlittenen historischen Wahrheit zweifellos wie alles andere dazu.“
Eine doppelte deutsche Amnesie
Allein, die Realität sieht anders aus. Deutsche Opfer sind die am meisten vergessenen. Stimmen wie Apelt sind eher eine Ausnahme. Auch der Historiker Hubertus Knabe ist ein einsamer Rufer in der Wüste, wenn er mahnt und erinnert, dass auch Deutschen schweres Unrecht widerfahren ist – siehe zum Beispiel hier und hier – und dass sie sich unter Hitler längst nicht alle schuldig gemacht hatten. Das belegen nicht zuletzt Aussagen und Dokumente besonders glaubwürdiger Zeitzeugen – nämlich die Stimmen der Opfer. Weshalb es grundsätzlich problematisch ist, pauschal und undifferenziert von „deutschen Verbrechen“ oder „Verbrechen der Deutschen“ zu reden, hat Knabe hier erläutert: „Der Begriff suggeriert, dass die Gewalttaten nicht von konkreten Personen, sondern von einem nationalen Kollektiv begangen wurden. Zudem verdeckt er, dass auch Angehörige anderer Nationen daran mitwirkten.“
Knabe hat überdies nicht nur das Buch „Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland“ verfasst, sondern auch einen tieferen Einblick in das Lagerleben im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands gegeben. Freya Klier wiederum hat über die nach Sibirien deportierten deutschen Frauen ein erschütterndes Buch geschrieben: „Verschleppt ans Ende der Welt“. Und wer noch nie etwas vom grausamen Schicksal der „Wolfskinder“ aus Ostpreußen gehört hat, erhält hier einen ersten Eindruck. Was bis heute fehlt, ist ausschließlich der Wille, sich wirklich mit diesem Kapitel deutscher Geschichte auseinanderzusetzen und anzuerkennen, dass die Frage nach Schuld und Unschuld nicht allein an der Nationalität Betroffener festgemacht werden kann und darf.
Dezidiert zu diesem Thema äußerte sich auch Boris Kotchoubey auf achgut.com: „Die Tradition, russische Massenverbrechen zu ignorieren, gehört zu den schändlichsten Unsitten der europäischen und besonders der deutschen Intellektuellen. […] Die von Moskau angeordnete Massenvergewaltigung und -tötung deutscher Frauen 1944 bis 1945 wird hierzulande kaum flüsternd angesprochen, obwohl es in der UdSSR während der Perestroika ein großes Diskussionsthema war (später unter Putin wieder tabuisiert). Dass das (noch) sowjetische Parlament 1989 offiziell die Mitschuld der UdSSR am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 anerkannte, wird im deutschen Geschichtsunterricht verschwiegen.“
Wenn sowjetische Verbrechen aus unserem Gedächtnis weitestgehend getilgt werden, Verbrechen, ohne die es die SED nie gegeben hätte (es war die sowjetische Besatzungsmacht, die diese Parteigründung 1946 erzwang, um die SED-Diktatur zu etablieren), nimmt es nicht wunder, dass auch die Erinnerung an das Leid, welches die über vierzigjährige Teilung Deutschlands über das ganze Europa gebracht hatte, immer mehr verblasst. Am 13. August 2021, dem 60. Jahrestag des Mauerbaus, bescheinigte Knabe den Deutschen gar eine Amnesie: „Die Erinnerung an das Unrechtsregime in der DDR spielt in Deutschland kaum noch eine Rolle. Das zeigt sich auch am 60. Jahrestag des Mauerbaus. Politik und Gesellschaft wollen die Deutschen lieber als Täter denn als Opfer der Geschichte sehen.“
Wo bleibt der Aufschrei?
Eine Woche später schrieb Knabe auf seinem Blog: „60 Jahre später ist in Berlin vom Schock des Mauerbaus nichts mehr zu spüren. Das Abgeordnetenhaus ist zu keiner Sondersitzung zusammengetreten, um der 140 Menschen zu gedenken, die bis 1989 an der Mauer ums Leben kamen. Kein Plakat der BVG hat darauf hingewiesen, wie es war, als ihr Liniennetz über Nacht gekappt worden war. Und auf der Spree sind keine historischen Ausflugsschiffe gefahren, um mit speziellen Touren die Zeit der Teilung ins Gedächtnis zu rufen. Nichts erinnerte in diesen Tagen in Berlin an den Mauerbau vor 60 Jahren – oder genauer: Niemand hatte die Absicht, an die Mauer zu erinnern.“
Und er konstatierte: „Die Gründe dafür haben viel mit der Berliner Politik zu tun, für die die Erinnerung an die SED-Diktatur fast nur noch ein lästiges Pflichtprogramm ist. Wie einst am 17. Juni, dem Nationalfeiertag der alten Bundesrepublik, ist das Gedenken an die Opfer des DDR-Sozialismus zu einem leidenschaftslosen Ritual erstarrt, an dem die Spitzen der Stadt mit ernstem Gesicht die immer selben gestanzten Formeln hervorbringen – wenn sie sich denn überhaupt noch dazu äußern. Der Aufgabe, die Erinnerung an die Mauer lebendig zu halten, ist Berlin augenscheinlich nicht gerecht geworden.“
Wie wahr. Vor allem aber ist dies ein Schlag ins Gesicht der Opfer; deutscher Opfer wohlgemerkt. Die gibt es bekanntlich nicht. Wie sich das allerdings mit den sonst so hehren Prinzipien unermüdlicher Erinnerer und Mahner verträgt, „Menschlichkeit zu zeigen“, „der Opfer zu gedenken“, „Verbrechen nicht zu vergessen“, „aus der Geschichte zu lernen“, „für Freiheit und Demokratie einzustehen“ usw. bleibt ihr Geheimnis. Merken sie gar nicht, dass dies zulasten ihrer Glaubwürdigkeit geht? Und: Wo bleibt bei so viel Kaltschnäuzigkeit gegenüber den eigenen Opfern, der Aufschrei, die Scham? Zumal, wo es immer heißt, dass alle Menschen gleich seien und ihre Würde unantastbar? Oder sind Deutsche wirklich nur „Kartoffeln“? Nein, sie sind Menschen wie andere auch, mit den gleichen unveräußerlichen Rechten, die die Deutschen aber schon selbst für sich einfordern müssen, andere werden das nicht für sie tun. Darauf zu verzichten, wäre Selbstaufgabe. Zu glauben, dies würde der Welt zum Vorteil gereichen, ist auch eine deutsche Illusion.
*)Literaturempfehlung
Die zu diesem Thema umfangreichste erhältliche Zeitzeugensammlung findet sich in der
„Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“: Gesamtausgabe in 8 Bänden,
herausgegeben vom (ehem.) Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. Zuletzt erschienen im dtv 2004 als Nachdruck der Ausgabe von 1954 – 1961.
Beitragsbild: Andrea Schaufler CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons
Liebe Frau Drewes, danke für den (einzigen?) sehr guten Artikel zum heutigen Feiertag. In meinen Nachgedanken sehe ich Ihre Ausführungen eher als Nachruf, denn angesichts der derzeitigen Zustände im Land sehe ich keine Chance für eine Besserung oder Wendung zum Guten. Trotzdem vielen Dank.
Ein sehr begrüßenswerter und hervorragender Beitrag. Der Hass auf sich selbst und das Land ist den Deutschen jahrzehntelang vom linken und später auch vom links-grünen Geist geradezu einzementiert worden, deshalb glauben sie, jedes Opfer für andere und möglichst die ganze Welt bringen zu müssen. Bei Corona und seinen Maßnahmen war es der Mitmensch, das Gegenüber, das geschützt werden musste und jetzt leiden wir für die Ukraine und nach wie vor für die ganze Welt, die wir retten müssen. Leider ist der Mehrheit der Deutschen dabei auch das Gefühl für Freiheit und Grundrechte völlig abhanden gekommen, dank der Dauerpropaganda der willigen Staatsmedien. Eigenverantwortung und eigenes Denken sind zu unbequem, das übernimmt beides der Staat, und der weiß das genau zu nutzen.
@Thomin Weller - was die Autorin alles soll und muss, wenn es nach Ihnen gehen soll! ... Diese herrische Herumkommandiererei Ihrerseits ist voellig deplaziert. Ich bin entsetzt.
An die Autorin : Vielen Dank fuer diesen tiefgruendigen Artikel, auch die eingefuegten Links geben ein Bild von den grausamen Schrecken der Zeit. All dies sollte nicht verdraengt werden aus machtgeilen Eroerterungen oder nichtgewuenschten Zeitzeichen, damals und heute.
Ich war heute in Frankreich zum Tanken und Einkaufen. Auf dem Rückweg, also beim Überqueren des Rhein wechselt man von Frankreich direkt in die Ukraine. In der ganzen Stadt hier habe ich bisher zwei deutsche Fahnen gesehen: eine an der Polizeistation und eine an meinem Haus, Rathaus muss ich nachher nochmal schauen. Direkt beeindruckend am Nationalfeiertag (oder doch eher beschämend?). So viel zum Thema Nationalstolz, aber wenn selbst Merkel nach der gewonnenen Wahl Schwarzrotgold in die Ecke wirft, braucht man sich nicht zu wundern. Diese Fahnen werden nur rausgeholt, wenn unsere Söldnertruppe vom DFB mal wieder spielt, aber gleich danach wieder versteckt.
@HagenWolff - Kaum zu glauben, dass Sie Marx und Habermas gegen den intellektuellen Pöbel verteidigen. Die Vereinnahmung durch Übersimplifizierung haben diese zwei Falschdenker durchaus verdient. Marx hat sich vollkommen über die Innovationsfähigkeit der Wettbewerbswirtschaft geirrt, und Habermas verfolgte bis an die Grenze des Absurden die Hypothese, dass in den Zeitungen dieselbe Rationalität zu finden wäre wie in den empirischen Wissenschaften. Die Größe des Irrtums ist bei Marx etwas schlimmer als beim Zeitungsnotar Habermas, weil die Spannungen in der kapitalistischen Gesellschaft auf eine Rettung / Auflösung der Interessengegensätze hin interpretiert werden, die zwischen Gut und Böse einen endzeitlichen Austrag finden würden. Self-fulling prophecy, Respekt! Millionen Tote stehen zu Buche. Einmal müssen wir vermutlich noch ran, dann kommt Weihnachten! Die niederen Beweggründe den Unternehmern in die Schuhe zu schieben, war ein Teufelspakt mit dem Resentiment im Bürgertum. - Und Habermas macht sich mit seinem pfarrhaus-säuerlichen finanziellem Interessenbegriff komplett lächerlich. Was für ein Marxismus ist das denn?! Inzwischen haben die "aufgeklärten Zeitungsredaktionen" auf Blindflug geschaltet. Willfull blindness ist das neueste sozialpsychologische Stichwort dazu. Aber Habermas nörgelt nur an den digitalen Medien rum, und übersieht den Elephanten im Raum. Anti-Aufklärer par excellence! Große Denker?! Nein, bestimmt nicht.
Liebe Frau Drewes, auf einen solchen Beitrag habe ich lange gewartet. Herzlichen Dank dafür. Leider wird er wieder nur jene erreichen, die seit langem wissen, was in diesem Land schief läuft. Und dies schon seit den fünfziger Jahren, als man an den Schulen generalstabsmäßig mit der Umerziehung der jungen Deutschen begann und ihnen ein flüsterte, dass ihr Volk an allen Übeln dieser Welt schuld sei. Viele haben dies bis heute zutiefst verinnerlicht und sich nie aus dieser toxischen Umklammerung befreit. Ein eklatantes Beispiel ist unser inkompetenter Wirtschaftsminister Habeck, der offensichtlich auch auf allen anderen Gebieten total ahnungslos ist. Schwafelte er in seiner miserablen und prolligen Rhetorik nicht davon, Patriotismus zum Kotzen zu finden? Der Typ kann offenbar diesen Begriff von Chauvinismus nicht unterscheiden. Patriotismus beinhaltet den Respekt vor dem eigenen Volk unter Anerkennung aller Licht- und Schattenseiten. Dass so ein Mann, der mit Deutschland noch nie etwas anfangen konnte und es bis heute nicht kann. auch noch Bundeskanzler dieses von ihm verachteten Volkes, dem er höchstselbst angehört, werden will, ist nun wirklich der Gipfel der grünen Unverfrorenheit. Aufgrund seiner täglich dokumentierten Inkompetenz ist er gottlob gewaltig abgerutscht auf der politischen Beliebtheitsskala, Warum verdingt er sich nicht beim Nachbarn Dänemark? Wahrscheinlich haben die vernünftigen Nordmänner schon dankend abgelehnt. Leider muss ich Dr. Stef@n Lehnhoff voll zustimmen. Die Würfel sind bereits gefallen. Es gibt aus meiner Sicht kein Zurück mehr. Sehr traurig, aber wahr. Allen einen schönen Abend dieses denkwürdigen Tages mit grandioser Besetzung in Erfurt - vom Bundesuhu bis hin zu jenem einstigen Schuhverkäufer , der bis heute Neuwahlen in Thüringen verhindert. Unverzeihlich!!!
Sie gehen fälschlich davon aus, daß die D mit ihrem Schicksal über das Schicksal des Mitteleuropäischen Siedlungsgebiets bestimmen könnten. Das ist aber dank des Schengener Abkommens und der ständigen Masseneinwanderung nicht mehr so. Hier entsteht in einem lang währenden historischen Prozeß aus vielen Völkern, Sprachen, Kulturen und Religionen eine ganz neue Mischbevölkerung, deren Selbstbestimmung und Schicksal noch gar nicht absehbar ist. Mit D hat das immer weniger zu tun. Scarlett O'Hara bleibt nur die rote Erde von Tara.