Alexander Meschnig / 15.07.2024 / 06:15 / Foto: Pixabay / 66 / Seite ausdrucken

Deutschland: eine hysterische Nation? (1)

Woher kommt die breite Hysterie im sogenannten „Kampf gegen rechts“ oder ganz allgemein gegen Andersmeinende, die mit den realen Verhältnissen in Deutschland nichts zu tun hat? Ein Streifzug durch die historischen Wurzeln.

Ende Mai sangen ein paar offensichtlich betrunkene junge Menschen auf der Nordseeinsel Sylt in einer Nobelbar zur Melodie von L’amour toujours, einem harmlosen Partylied, „Ausländer raus“ und „Deutschland den Deutschen.“ Nachdem kurz danach ein Video der Feier in den sozialen Medien viral ging, gab es kein Halten mehr. Die Tagesschau berichtete zur besten Sendezeit über die, wie es hieß, erschreckende Entgleisung aus der Mitte der Gesellschaft. Innenministerin Faeser, Bundeskanzler Scholz, Präsident Steinmeier, alle äußerten maximalen Ekel vor den Ereignissen in Sylt: rassistisch, ausländerfeindlich, menschenverachtend, eine Schande für Deutschland.

Von verschiedenen Seiten wurden Höchststrafen wegen Volksverhetzung für die Beteiligten gefordert, die Namen der Partygröler wurden, zur Freude all derjenigen, die ansonsten Rot sehen, wenn die Herkunft von ausländischen Straftätern in Polizeiberichten genannt wird, im Internet veröffentlicht. Die Sylter Sänger verloren ihre Arbeitsplätze oder wurden vom Studium ausgeschlossen, ihre Familien und Freunde bedroht, dass alles unter dem Applaus der selbst ernannten Toleranten und Weltoffenen. Schließlich verboten mehrere Betreiber von Volksfesten oder öffentlichen Veranstaltungen das Abspielen des bis dorthin unbescholtenen Liedes um „rechtes Gedankengut“ zu verhindern, was natürlich, wie schon zuvor mit dem als sexistisch eingestuften Partyhit „Layla“, seine Bekanntheit extrem steigerte. 

Nun kann und darf man das Gegröle „Deutschland den Deutschen“ der Wohlstandskinder auf Sylt pubertär und abstoßend finden, ein infantiles Verhalten, das mit den ausländerfeindlichen Parolen offenbar ein Ventil gegen die Auswüchse der „Wokeness“ fand und damit ein Lied europaweit zum Protestsong gegen die verordnete Fernstenliebe machte.

Die darauffolgenden vollkommen überzogenen Reaktionen von Politik und Medien – der Faschismus stand wieder einmal kurz vor der Machtübernahme – verlangen aber nach Antworten auf die möglichen Gründe für diese Überreaktion. Woher stammt diese breite Hysterie, im konkreten Fall im sog. „Kampf gegen rechts“, die mit den realen Verhältnissen in Deutschland nichts zu tun hat? Vergleicht man die hysterischen Reaktionen auf die Sylter Sänger damit, wie Universitätsleitungen in Deutschland etwa auf islamistische „Free Palestine” Aktivisten reagieren oder die öffentlich-rechtlichen Medien auf den Terrorangriff eines Afghanen in Mannheim, der einem Polizisten das Leben kostete, dann steht die Reaktion auf Sylt in keinem Verhältnis zum eigentlichen Anlass. 

Die polit-mediale Klasse hat sich weitgehend von der Normalgesellschaft abgekoppelt

Wo liegen die tieferen Ursachen für diese hysterischen Reaktionen, die in der moralischen Empörung aktuell ihren Ausdruck finden? Auch wenn es auf den ersten Blick problematisch erscheint eine individualpsychologische Diagnose auf gesamtgesellschaftliche Prozesse zu übertragen, geht es mir an dieser Stelle, auch wenn der Begriff der Hysterie seit Freud inhaltliche Veränderungen erfahren hat, um die vorrangigen Merkmale einer Hysterie: der Mangel an realistischer Selbstwahrnehmung, das Ausweichen vor den faktischen Problemen auf ein Symptom und die fehlende Integration von Binnen- und Außenwahrnehmung.

Die hysterische Verarbeitung realer Problemlagen kann aktuell für einen großen Teil der deutschen Gesellschaft behauptet werden und das gilt insbesondere für die polit-mediale Klasse, die sich weitgehend von der Normalgesellschaft abgekoppelt hat. Vernunft, Pragmatismus, Nüchternheit und eine Orientierung an der realen Welt sind in den letzten Jahren zunehmend verschwunden. An ihre Stelle treten stattdessen mehr und mehr Erlösungs- und Weltrettungsphantasien die sich immer weiter von der Wirklichkeit entfernen, zugleich aber auch irreversible Tatsachen, etwa durch die Aufnahme Millionen von Einwanderern oder eine ausgerufene Energiewende, schaffen.

Die Projektion eigener, verdrängter Emotionen auf den politischen Gegner der als das „Böse“ schlechthin gilt, apokalyptische Szenarien wie bei der Klimadebatte („die Welt brennt“), imaginierte Umsturzängste (die „rechte Gefahr“ durch Reichsbürger oder die AfD) und eine wachsende Empörungsindustrie von Lobbyorganisationen, NGOs und millionenschweren Stiftungen, die in bezahlten Studien den kommenden Weltuntergang verkünden oder Fehlmeinungen anprangern, sind seit Jahren im Vormarsch. Schon 2014 hat der Journalist Reinhard Mohr in der WELT die Effekte eines mehr und mehr hysterischen Weltbildes zusammengefasst, das sich nicht mehr an den realen Problemen des Landes orientiert. Seine Beschreibung der Dynamik dieser Abwendung von der Wirklichkeit ist zehn Jahre später aktueller denn je:

Das emotionale Schmiermittel ist eine Hyper-Moralisierung, in der alles zusammengerührt wird, was der Empörungsbereitschaft dient: Die gute alte „Betroffenheit“, vermischt mit realen Problemen, das Ganze untergehoben mit einer Gutmenschen-Mentalität und einer politischen Korrektheit, die ihren Furor bis an den Rand des Wahnsinns treibt. Das Böse, Falsche und Gefährliche soll schon mit semantischen Mitteln porentief ausgetrieben werden.

So entsteht ein neuer Weltverbesserungsobskurantismus, der nicht selten ins Sektenhafte, ja Irre abgleitet, ganz so, als konzentrierte sich dort nun der harte Kern hysterischer Weltbetrachtung. Die wohl doch sehr deutsche Suche nach philosophischer Tiefe und faustischer Wahrheit landet fast immer in der erschütternden Plattheit ideologischer Kurzschlüsse, die schon in den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts für Unheil sorgten.

Man könnte es auch eine Traumwelt nennen

Im Folgenden sollen einige der historischen und psychologischen Gründe für das Abgleiten der deutschen Nation in eine kollektive Hysterie, man könnte sie auch eine Traumwelt nennen, betrachtet werden. Manches wird und muss dabei Spekulation bleiben, dennoch lassen sich einige folgenreiche Ereignisse in der Geschichte der Deutschen rekonstruieren, die mögliche Erklärungen für das Abgleiten in ein hysterisches Weltbild geben können. 

Das Changieren der Deutschen, ich verwende den Begriff hier ungeachtet der Tatsache, dass die Deutschen nie ein gesichertes Identitätsgefühl ausgebildet haben, zwischen einem kosmopolitischen und einem nationalen Pol, zwischen Niedergeschlagenheit und Größenwahn haben aufmerksame Zeitgenossen schon früh wahrgenommen und diese Beobachtung hat eine Menge an kritischen Reflexionen zum deutschen Nationalcharakter erzeugt.

Der ungarische Staats- und Verwaltungsrechtler István Bibó war einer derjenigen Autoren, die sich explizit mit der – wie er es nennt – historischen Genese der deutschen Deformation auseinandersetzte. Seine in Deutschland praktisch unbekannte, aber lesenswerte Schrift: Die deutsche Hysterie, 1942 auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs geschrieben, dient mir nachfolgend als wichtiger Referenzpunkt für eine Interpretation und Einordnung historischer und gegenwärtiger Entwicklungen in Deutschland. Der für Bibo zentrale Begriff der „kollektiven Hysterie“ entstammt zwar der Psychologie, hat aber ursächlich nichts mit individuellen Hysterien zu tun. Er entspricht auch nicht den unbewussten kollektiven Grundeinstellungen, mit denen die Mentalitätsgeschichte methodisch arbeitet. Für Bibo ist die kollektive Hysterieso der ungarische Historiker György Dalos im Nachwort zur Studie,

gebunden an das massenhafte Auftreten gleichförmiger Überzeugungen und Ängste. Diese führen im politischen Raum zu einem Verhalten, das mit "Hysterie" bezeichnet werden kann. Ursachen solcher Massenphänomene können nur einschneidende historische Erfahrungen sein: In Verbindung mit bestimmten Deutungen eines solchen Ereignisses kann der Wunsch entstehen, eine Wiederholung der Katastrophe unter allen Umständen zu vermeiden. Gerade in diesem "unter allen Umständen" besteht nun die neurotische Fixierung. Statt die gegenwärtigen Probleme realistisch zu untersuchen und an ihrer Lösung zu arbeiten, versteift sich die Gesellschaft auf eine Lösung, die eine zukünftige Katastrophe vermeidet und für Wiedergutmachung der vergangenen sorgt. Die Hysterie besteht in dem zunehmenden Realitätsverlust; er geht einher mit einer Neigung zu Minderwertigkeitskomplexen und Allmachtphantasien.

Deutschland als Hauptproblem einer intakten Nachkriegsordnung

Wer war aber dieser Istvan Bibo? 1911 im damaligen Österreich-Ungarn geboren, studierte er Internationales Recht und Rechtsphilosophie, war ab 1938 Mitarbeiter im ungarischen Justizministerium und gleichzeitig Professor an der Universität Szeged. Im Juni 1941 trat Ungarn auf Seite der Achsenmächte in den Zweiten Weltkrieg ein, eine Entscheidung, die Bibo als nationales Verhängnis und schweren politischen Fehler betrachtete. Nachdem Ungarn aufgrund der Niederlagen der deutschen Wehrmacht im Kriegsverlauf Kontakt zu den Alliierten suchte, besetzten deutsche Truppen im März 1944 das Land und installierten eine Marionettenregierung. Zeitnah begannen die Massendeportationen ungarischer Juden nach Auschwitz wo Hunderttausende ermordet wurden. Bibó verhalf in dieser Zeit Juden zur Flucht, indem er ihnen Pässe ausstellte und die Anordnungen der Besatzungsmacht, soweit ihm das möglich war, unterlief. 

Nach Kriegsende war er Mitglied der provisorischen Regierung und wurde schließlich zum Direktor des Osteuropainstituts ernannt. Als Kritiker der kommunistischen Machtübernahme und der Einparteienherrschaft erteilte ihm die neue Regierung 1948 ein Lehrverbot. Nach dem ungarischen Volksaufstand und dem Einmarsch der sowjetischen Truppen 1956 wurde Bibó verhaftet und im August 1958 zu fünf Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Amnestierung war er schließlich bis zu seiner Pensionierung in der Bibliothek des ungarischen Zentralamts für Statistik tätig.

Istvan Bibo sah in seiner, erst 1982 drei Jahre nach seinem Tod, veröffentlichten Studie, Die deutsche Hysterie, in Deutschland das Hauptproblem einer intakten Nachkriegsordnung die den Frieden in Europa auf Dauer sichern sollte. Bereits bei Abfassung seiner Studie 1942 war dem Autor klar, dass das Dritte Reich den Krieg verlieren wird und die Frage nach der Zukunft Deutschlands den Schlüssel für eine Friedensordnung in Europa bildet. Deutschland charakterisiert der Autor als eine über Jahrhunderte entstandene Gemeinschaft deren historische Erfahrung stets zwischen nationaler Unterlegenheit und einem metaphysischen, alles Nationale transzendierenden, Überlegenheitsrausch wechselt.

"Mensch ist der Deutsche allein“

Der Grundgedanke des deutschen Humanismus war denn auch „Weltbürgerlichkeit“, eine Nation im klassischen Sinne, so die Überzeugung seiner Protagonisten, können die Deutschen nicht sein, da sie eine allgemein-menschliche Mission zu erfüllen haben. Der jüdisch-deutsche Autor Ludwig Börne schrieb Anfang des 19. Jahrhunderts in diesem Sinne: „Der Brite ist nur Brite, der Spanier nur Spanier, der Franzose nur Franzose; Mensch ist der Deutsche allein.“ 

Seit dem späten 18. Jahrhundert wurde das Deutschsein in maßgeblichen Kreisen über allen politischen und partikularen Interessen stehend definiert, als Synonym für die Menschheit als Ganzes. Richard Wagners berühmtes Zitat: „Deutsch sei, eine Sache um ihrer selbst willen treiben“ spricht diese abstrakte Auffassung des Deutschen unmissverständlich aus. Diese Verschiebung des Deutschen auf das Feld des Geistigen und Übernationalen kann man als eine psychische Reaktion auf das Fehlen einer nationalen Einheit betrachten, die eine politische Identität verunmöglichte und so die eigene Größe und Bedeutung im Bereich des Ideellen findet. In Deutschland, ein Wintermärchen spottet der Dichter Heinrich Heine 1844 über diese Verschiebung des Deutschen in eine Traumwelt:

Franzosen und Russen gehört das Land
Das Meer gehört den Briten
Wir aber besitzen im Luftraum des Traums
Die Herrschaft unbestritten

In der Deutschen Ideologie, in Teilen erstmals 1845/46 veröffentlicht, machen sich Marx und Engels über den, wie es heißt, „vorgeblichen Universalismus und Kosmopolitismus“ der Deutschen lustig, der aus ihrer Sicht nichts Anderes als – Zitat – „Überheblichkeit aus Schwäche“ ist. Diese Schwäche kann man als ein Produkt des Fehlens einer politischen Einheit als Staat interpretieren der die Macht der Nation repräsentiert. Die Anrufung einer Kulturnation und einer universellen Aufgabe des Deutschen ist folglich eine Art psychische Kompensation, eine Verabsolutierung und ein Ausweichen auf das Geistige, das aber auch positive und großartige Effekte zeitigte, wie etwa die wegweisenden deutschen Inhalte in Musik, Literatur, Philosophie oder Theologie und so die Idee einer Überlegenheit der Deutschen über alle anderen Nationen für seine Vertreter deutlich sichtbar machte.

Die verheerende Niederlage Preußens gegen das Frankreich Napoleons machte zu Beginn des 19. Jahrhunderts dann schlagartig das Fehlen eines einheitlichen und mächtigen deutschen Staates deutlich. Die deutsche Nationalbewegung hat ihren Ursprung wesentlich im Widerstand gegen die französische Fremdherrschaft, sie bleibt zunächst aber noch ambivalent in Bezug auf die zukünftige Aufgabe des Deutschen in Europa und der Welt. In den berühmten Reden Fichtes an die deutsche Nation, 1808 im Druck erschienen, wird noch von einer heilsgeschichtlichen Mission der Deutschen ausgegangen, die das Nationale transzendiert. Fichte, ganz der Aufklärung verhaftet, sieht ausschließlich eine kulturelle – keine imperiale – Mission des Deutschen als Aufgabe, überhöht aber den Charakter der Deutschen, die ihm zum Retter der Menschheit werden. 

Die Idee einer deutschen Überlegenheit

Das Paradoxon und die Unheimlichkeit dieser Überhöhung, so der Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer, 

liegen darin, dass sie (…) ausgerechnet im Moment der tiefsten politischen Erniedrigung der Nation erfolgt, die sich doch soeben zu schönster geistiger Blüte entfaltet hat. Die Nation wird sich ihrer selbst, ihrer Identität in dem Moment empathisch bewusst, da sie dieser verlustig zu gehen droht. Diese Selbstüberhebung aufgrund des drohenden Selbstverlusts wird sich mit und nach dem Ersten Weltkrieg wiederholen und in die Superioritätsraserei des Nationalsozialismus hineinsteigern.

Generell lässt sich an dieser Stelle bereits sagen, dass die Idee einer deutschen Überlegenheit, die sich im Dritten Reich im Rassegedanken manifestiert, 1945 zwar machtpolitisch und militärisch katastrophal endet, das Überlegenheitsgefühl nach einer Phase der Ernüchterung aber spätestens nach dem Herbst 2015 im Moralismus und Universalismus seinen gegenwärtigen Ausdruck gefunden hat. Der derzeit herrschende Hypermoralismus – eine Parallele zu 1945 – trägt dabei aktuell auch alle Züge einer Selbstzerstörung in sich.

Das Schwanken zwischen Selbsterniedrigung und Größenwahn in der deutschen Geschichte erklärt Istvan Bibo über den Begriff der politischen Hysterie. Der Ausgangspunkt einer politischen Hysterie, so die Grundthese seines Buches, ist „immer irgendeine erschütternde historische Erfahrung der Gemeinschaft. Und zwar, eine Erschütterung, die die Belastbarkeit einer Gemeinschaft übersteigt und die daraus resultierenden Probleme unlösbar macht.“

Eine Gemeinschaft die eine solche, nicht zu verarbeitende Katastrophe erfährt – und für Deutschland sieht Bibó mehrere solcher Schlüsselerlebnisse – gerät in der Folge, wenn politische Ernüchterung und dadurch eine Genesung nicht gelingt, in ein wachsendes Missverhältnis zur Realität. Sie neigt dazu, neu entstehende Probleme in einen gedanklichen Rahmen zu stellen, der nicht das Mögliche oder Bestehende in den Mittelpunkt stellt, sondern Phantasien und Wunschträume, herbeigesehnte Szenarien der Erlösung und der Katharsis. Damit geht der Glaube an die magische Kraft der Beschwörung von Wunsch- und Traumbildern einher, die massive Abwehr aller Kritiker und Zweifler, bei gleichzeitiger Zunahme einer völlig falschen Selbsteinschätzung der eigenen Kräfte und Möglichkeiten. 

Eine exakte Replik auf das Deutschland der Gegenwart

Bibó kennzeichnet die politische Hysterie insgesamt – und seine Beschreibung liest sich wie eine exakte Replik auf das Deutschland der Gegenwart – als das stetige Abgleiten der Politik in eine Art von Traumwelt, heute würde man wohl sagen, ins Postfaktische:

„Lossagung der Gemeinschaft von den Realitäten, Unfähigkeit zur Lösung der vom Leben aufgegebenen Probleme, unsichere und überdimensionierte Selbsteinschätzung, sowie irreale und unverhältnismäßige Reaktion auf die Einflüsse der Außenwelt.“

Das Schicksal der Deutschen wird in Bibos Studie weniger über psychologische Dynamiken als durch eine konkrete historisch-politische Ausgangssituation erklärt. Wenn auch der Dreißigjährige Krieg 1618 bis 48 bei vielen Historikern als die Urkatastrophe der Deutschen gilt – das 17.Jahrhundert war im Kontrast dazu eine Blütezeit in England und Frankreich – verortet Bibo den Beginn der deutschen Hysterie auf das Jahr 1806 und hier auf ein einzelnes Ereignis: die Auflösung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation.

Das Heilige Römische Reich, seit dem Ende des 15. Jahrhunderts mit dem Zusatz „Deutscher Nation“ versehen, konnte aufgrund seines übernationalen Charakters nicht zu einem modernen Nationalstaat werden, es blieb ein monarchisch geführter Verband mit unzähligen Reichsständen, das zu offensiver Expansion, sprich: Machtpolitik, nicht in der Lage war. Seit dem Westfälischen Frieden von 1648 erfüllte das Heilige Römischen Reich Deutscher Nation vor allem eine friedenssichernde Funktion in Europa. Trotz der politischen Zerrissenheit und der Verselbständigung der territorialen Fürstentümer gelangen den Deutschen vom 18. Jahrhundert an bedeutende Leistungen auf den Gebieten der Kultur und der Wissenschaft. 

Ab Mitte des 18. Jahrhunderts war das Reich aber nicht mehr in der Lage sich gegen innere und äußere Mächte zu schützen. Die napoleonischen Armeen und ihre militärische Dominanz machten schließlich die vollkommene Hilflosigkeit und Ohnmacht des politischen Korpus des Reiches schlagartig klar. Die aus der Niederlage resultierende Gründung des Rheinbunds, dessen Mitglieder aus dem Reich austraten, machten es praktisch handlungsunfähig. Damit war der Untergang des Heiligen Römischen Reiches nach Jahrhunderten besiegelt. Symbolisch endete seine lange Geschichte endgültig mit der Niederlegung der Reichskrone im August 1806 durch Kaiser Franz II.

In der Niederlage Preußens und der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches sieht Bibo die grundlegende Belastung der deutschen Nationalidee. Ging das moderne Nationalgefühl, etwa Frankreichs, mit Ideen einer Demokratisierung einher, war die Verbreitung und Etablierung demokratischer Ideen in Deutschland mit dem Erlebnis einer militärischen Niederlage und einer fremden Invasion verbunden. Belastend für die Geburt des Nationalgedankens in Deutschland war also, dass dieser Gedanke direkt aus dem Widerstand und dem Kampf gegen eine fremde Herrschaft hervorging. Das heißt, dass Demokratie und Nationalismus als unversöhnliche Antagonisten auftraten, der nationalen Einheit in diesem Konflikt von Beginn an eine stärkere emotionale Bedeutung zukam als den demokratischen Prinzipien.

Unerfüllte Sehnsucht nach einem starken und geeinten Staat

Dasselbe – und das ist wohl kein Zufall - gilt auch für die späteren faschistischen Staaten Spanien und Italien, in denen eine Demokratisierung lange Zeit misslang. Die nationalen Bewegungen konnten hier nicht einfach an einen bereits vorhandenen Staat andocken, dieser musste erst gegen fremde Besatzungsmächte oder gegen die feudalen Überreste der Fürstentümer erkämpft werden. Da dies, wie in Deutschland erfolgreich 1870/71 der Fall, vor allem mit Hilfe militärischer Mittel, aber unter Einbezug der alten Eliten erreicht wurden, gerieten, so Bibos Schluss, Nationalismus und Demokratie in Deutschland in einen unversöhnlichen Gegensatz. 

In der verfehlten Einheit der deutschen Nation Anfang des 19. Jahrhunderts, in der unerfüllten Sehnsucht nach einem starken und geeinten Staat, der Weiterexistenz der territorialen Fürstentümer, sieht Bibó das eigentliche historische Verhängnis Deutschlands. Die Hegelsche Staatsphilosophie, unter dem Eindruck des Vormärz entstanden, kann beispielhaft als Ausdruck für den ersehnten Zentralstaat, die politische Einheit der Nation betrachtet werden, obwohl sie im Eigentlichen der Verteidigung des preußischen Territorialstaates diente. Zugleich steht der hegelsche Staat aber auch für die reine Idee, eine Abstraktion, ein absolutes Prinzip und für die Sehnsucht nach einem Nichtexistenten. 

Das Abdriften Deutschlands in eine hysterische Politik ist für Bibo deshalb „an jenem kritischen Punkt zu suchen, als die deutsche Nation begann, mangels realistischer Ziele in Scheinlösungen, in erstarrten politischen Formeln, in Symbolen und in Phantasmagorien zu denken.“ 

Nach 1806 markiert Bibo in seiner Studie noch vier weitere verhängnisvolle Entwicklungen in der deutschen Geschichte die jeweils mit einer, wie er es nennt: Scheinlösung, auf die Frage nach der Einheit der Nation enden: 1. der Deutsche Bund, 1815 entstanden, erwies sich auf dem Schlachtfeld von Königgrätz als substanzlos und war keine adäquate Antwort auf die deutschen Einheitsbestrebungen; 2. das deutsche Kaiserreich, mit der unter Wilhelm II. ins Theatralisch-Opernhafte auswuchernden Inszenierung von Reich und Nation, das in die Katastrophe des Ersten Weltkrieges führte; 3. die Weimarer Republik die, für Bibo durch den Versailler Vertrag und hier insbesondere durch das Anschlussverbot Österreichs schwer belastet, von radikalen Kräften von innen zerstört wurde und schließlich das Dritte Reich, das unter der Führung des Weltkriegsgefreiten Adolf Hitler versprach die Zeit der Demütigung der Deutschen endgültig zu beseitigen und Österreich „heim ins Reich“ zu holen, was 1938 mit dem Anschluss Österreichs Wirklichkeit wurde. 

Ein universeller Überlegenheitsrausch

Die großen historischen Erschütterungen, für Bibo bis zur Abfassung seiner Studie 1942, der Untergang des Heiligen Römischen Reiches 1806, die Niederlage der deutschen Revolution 1848 und die Kapitulation der kaiserlichen Armee im November 1918, haben im Bewusstsein der Deutschen Unsicherheit und Angst erzeugt und gleichzeitig die Bereitschaft gefördert sich in Scheinlösungen und Trostformeln zu flüchten. Innerhalb von zwei Jahrhunderten herrschten fünf politische Systeme, die auf Dauer kein gesellschaftliches und politisches Gleichgewicht schaffen konnten.

Diese innere Labilität führte in der Anrufung der Nation zu äußeren Machtdemonstrationen und der Idee einer Verewigung politischer Umstände die in der Rückschau als historische Sackgassen zu betrachten sind. Die Erfahrungen der Deutschen blieb über alle Systeme hinweg ambivalent: man fühlte sich schwach und war mächtig zugleich, man suchte nach historischer Gerechtigkeit für erlittenes Unrecht und war bei anderen Nationen verhasst, man war in vielen Bereichen, ob Technik oder Kultur, führend und fühlte sich dennoch nicht respektiert. 

Die moralische Genugtuung, eine Art Wiedergutmachung, die Befreiung vom seelischen Ballast vergangener Ereignisse, stand und steht dabei als Wunsch stets im Mittelpunkt. Heute sind nur die Mittel diese Ziele zu erreichen andere geworden. Gegenwärtig und in der Politik der Ampelregierung deutlich sichtbar, dominiert ein nicht mehr nationaler, sondern universeller Überlegenheitsrausch, eine von allen realen Friktionen abgelöste Hypermoral, die der von Bibo beschriebenen politischen Hysterie seit Anfang des 19. Jahrhunderts entspricht.

 Auch wenn andere Nationen ebenso Niederlagen erlitten und ähnliche Symptome in ihrer Geschichte zeigen, der Gesamtkomplex aus Schuld, Versagen und Wiedergutmachung hat wohl nur in Deutschland diese pathologische Wirkung erzeugt. Der Versuch der Verwirklichung der Nationalstaatsidee ist politisch unter katastrophalen Folgen gescheitert, was sie nach 1945 endgültig diskreditiert hat. Vielleicht findet die Idee der Nation aber erst seit einer, in Bibos Worten, weiteren Scheinlösung, der Wiedervereinigung 1989 ein paradoxes Ende: im Wunsch einer Auflösung der Nation und dem Aufgehen in einem supranationalen Europa.

 

Dieser Text ist ein Vortrag, den der Autor am 30. Juni 2024 für die Reihe Audimax des Radiosenders „Kontrafunk“gehalten hat. Wir veröffentlichen ihn in zwei Teilen und bedanken uns bei Kontrafunk. Den zweiten Teil des Vortrags lesen Sie in den nächsten Tagen auf Achgut.com.

Dr. Alexander Meschnig studierte Psychologie und Pädagogik in Innsbruck und promovierte in Politikwissenschaften an der HU Berlin. Auf Achgut.com analysiert er unter mentalitätsgeschichtlicher und psychologischer Perspektive die politische Situation Deutschlands.

 

Foto: Pixabay

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Leserpost

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Bernd Fendt / 15.07.2024

Ich möchte mich nicht an der Ursachenforschung beteiligen sondern nur den Status quo aus meiner Sicht konstatieren und der lautet: Deuschland24, ehrlos, mutlos, wehrlos.

H. Berger / 15.07.2024

Danke für den Hinweis auf Bibo, sehr interessant. Zwei ergänzende Aspekte: die stets überzogenen Nationalidentitäten die nach 1800 fingiert wurden hatten neben allgemeiner Realitätsferne meistens auch wenig Bezug zu den realen politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Verhältnissen der durchaus sehr verschiedenen deutschsprachigen Bevölkerungen selbst und sie waren stets um paranoide Verschwörungsmythen, um Feindbilder und den masslosen Hass auf diese konstruiert. Positive Substanz war immer wenig, ob real oder bloss geträumt. Die gegenwärtige Konstellation ist nicht zuletzt deshalb so gefährlich, weil die Deutschen mehrheitlich die dank üppiger Anreizgewährung scheinbar endlose Karawane aller Zukurzgekommenen und Gescheiterten der Welt als Beleg für den allergössten deutschen Weltberuf verstehen und entsprechend wieder Pläne der Dimension ganzgross wünschen.

Gottfried Köppl / 15.07.2024

Mit einem japanischen Bekannten kam ich einmal auf das Thema “Kriegsschuld” und Vergangenheitsbewältigung zu sprechen. In Erinnerung blieb mir der einzige Satz, den er dazu sagte: “Wir Japaner haben eine lange Geschichte”. Sein Gesichtsausdruck ließ offen, ob er die neurotische Fixierung der Deutschen auf die ominösen zwölf Jahre mit Verwunderung oder mit Mitleid betrachtete. Ein guter Teil der deutschen Geschichtswissenschaft ist mit nichts Anderem beschäftigt, als bei jedem Deutschen der Vergangenheit, mit Luther beginnend, den einen Halbsatz zu finden, den man rassistisch oder sexistisch auslegen kann; schon hat man Gründe, Straßen und Schulen umzubenennen. Auf diese Weise erscheint die Geschichte der Deutschen zwangsläufig auf den Nationalsozialismus zuzulaufen. Diese Obsession ist das genaue Negativ zur eschatologischen Geschichtstheologie des tausendjährigen “Dritten Reiches”, die ihren religiösen Ursprung in der Geschichtstheologie eines Joachim von Fiore nicht verleugnen kann. Bekanntlich entstehen Neurosen dort, wo Religion vom Weg abkommt.

Sabine Drewes / 15.07.2024

Zur vom Autor angesprochenen Hypermoral ein kaum beachtetes Zitat des estnischen Staatspräsidenten Lennart Meri vom 3. Oktober 1995 in Berlin zum Nach- und Weiterdenken: ‚‚Als Este sage ich dies und frage mich, warum zeigen die Deutschen so wenig Respekt vor sich selbst? Deutschland ist eine Art Canossa-Republik geworden, eine Republik der Reue. Aber wenn man die Moral zur Schau trägt, riskiert man, nicht sehr ernst genommen zu werden. Als Nicht-Deutscher erlaube ich mir die Bemerkung: Man kann einem Volk nicht trauen, das rund um die Uhr eine intellektuelle Selbstverachtung ausführt. Diese Haltung wirkt auf mich wie ein Ritual, eine Pflichtübung, die überflüssig und sogar respektlos gegenüber unserem gemeinsamen Europa dasteht. Um glaubwürdig zu sein, muß man auch bereit sein, alle Verbrechen zu verurteilen, überall in der Welt, auch dann, wenn die Opfer Deutsche waren oder sind. Für mich als Este ist es kaum nachzuvollziehen, warum die Deutschen ihre eigene Geschichte so tabuisieren, daß es enorm schwierig ist, über das Unrecht gegen die Deutschen zu publizieren oder zu diskutieren, ohne dabei schief angesehen zu werden – aber nicht etwa von den Esten oder Finnen, sondern von Deutschen selbst? Bevor wir überhaupt an eine ‚neue Weltordnung‛ zu denken beginnen, brauchen wir vor allem historische Aufrichtigkeit und Objektivität.“

Sabine Drewes / 15.07.2024

Ich kann dem Autor nur bedingt folgen. Hysterie ist typisch deutsch? Man muss schon einen Tunnelblick haben, um Hysterien anderswo auf der Welt nur durch einen Schleier wahrzunehmen. +++ Wenn man einen Blick auf die deutsche Geschichte wirft, wird deutlich, dass Deutschland, lange bevor es dieses als Staatsgebilde mit diesem Namen gab, stets eine Konföderation oder Föderation war, kein Zentralstaat (außer 1933-1945). Das muss aber keineswegs grundsätzlich negativ bewertet werden. Demokratie und der Nationalstaat schließen sich auch in Deutschland keineswegs aus. +++ Zur vielzitierten „German Angst“: Deutschland ist meines Wissens nach seit jeher das Land mit den weltweit meisten Nachbarstaaten, ohne geografisch besonders geschützt vor Begehrlichkeiten der anderen zu liegen. Da haben es etwa die Briten oder Franzosen mit dem sie ganz bzw. in weiten Teilen schützend umgebenden Atlantik sehr viel einfacher. Und schließlich sind die Deutschen um ihren sprichwörtlichen Fleiß, der für sie schlicht überlebenswichtig war und bis heute wäre, zwar vielfach bewundert, noch viel mehr aber zu allen Zeiten beneidet worden. Ihren Erfolg hat man ihnen selten gegönnt. Daraus resultieren historisch bedingt tiefsitzende Ängste, die man man den Deutschen aus dieser Erfahrung heraus schwer zu Vorwurf machen kann. Wer sich darüber lustig macht, und das machen viele, der hat bisher das Glück der späten Geburt gehabt. Nicht mehr und nicht weniger.

Thomin Weller / 15.07.2024

Viele Deutsche definieren sich einzig durch ihre Arbeit und Geld. Gib einem Deutschen Macht und er wird sie pflugs missbrauchen. Auch darin erkennbar wie in der Vergangenheit und Gegenwart mit den Randgruppen umgegangen wird. Kinder, Rentner, Behinderte wurden in der Vergangenheit massiv geoutet, sie kosten Geld. So sehr das die Presse darüber schrieb z.B. über kinderreiche Familien und die Wohnungssuche. Die protestantischer Arbeitsethik ist ein Ursprung. Siehe SPD Laienprediger Müntefering der Gruppen verhungern lassen wollte. “Arbeit macht frei. Von Luther bis Hitler: Deutscher Arbeitswahn und Judenhass” von Klaus Thörner die nächste Darstellung.

PeterBernhardt / 15.07.2024

Massenpsychologisch betrachtet neigt seit Ende des WK II wohl kein Volk so sehr zur Hysterie wie das Westdeutsche. Das macht es nach drei Generationen Umerziehung (Gehirnwäsche) zu einem nicht gerade zurechnungsfähigem kolonialem, entwurzeltem Helotenvolk mit einer histrionischen Persönlichkeitsstörung.Nazi-Propagandaminister Josef Goebbels hat es in seinem privatem Tagebuch herablassend und abfällig prognostiziert.

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