Angeblich fügen vier Prozent der deutschen Jugendlichen sich selber öfters kleine Wunden zu. Kinderkram. Parteien und deren Gefolge, die ihrem Land immer wieder Pein bereiten, schafften es bei der letzten Bundestagswahl auf immerhin 81 Prozent Zustimmung. Über eine Gesellschaft im Modus der Autoaggression.
Medien zitieren Studien, nach denen immer mehr… ach nee, so kann das Stück unmöglich beginnen. Bei zeitgenössischen Studien handelt es sich ja überwiegend um Dienstleistungen für Lobbygruppen, mit dem einzigen Ziel, eine vorgegebene Botschaft scheinbar zu fundieren. Und immer mehr, das ist bloß heißer Dampf aus der Waschküche des Journalismus. Wie scherzte man in der Redaktion, in der mein Berufsleben begann? „Ein Fall ist ein Fall, zwei Fälle sind ein Trend, drei Fälle sind eine Massenhysterie.“
Also noch mal von vorn: Immer wieder mal stößt der Medienkonsument auf Berichte, in denen es um kleinere Verletzungen geht, etwa durch Schnitte oder Einstiche, die sich meist junge Menschen vorsätzlich beibringen. Jeder vierte Jugendliche tut das angeblich einmal im Leben, vier Prozent sogar öfter. Stücke über das Phänomen „selbstverletzendes Verhalten“ (SVV) erscheinen mit der Regelmäßigkeit von Nessie-Sichtungen.
Über die Motive des landläufig Ritzen genannten Treibens kursieren allerhand Erklärungsmuster. Selbstkasteiung für eingebildete oder reale Sünden? Sexueller Missbrauch im Kindesalter? Neid auf Geschwister? Borderline-Störung? Natürlich darf der „stumme Schrei nach Liebe“ nicht fehlen, den praktisch alle Welt emittiert, vom Ladendieb bis zum Messerattentäter. Ob den von Medien und Instituten gestreuten Zahlen mehr zugrunde liegt als freihändige Schätzungen, darf man bezweifeln. Kleinere Selbstverletzungen werden in der Regel nirgendwo registriert. Und was davon im Social Media vorgezeigt wird, kann teilweise getürkt sein, als Heischen nach Klicks und Aufmerksamkeit verstanden werden.
Dämpfe aus der Uhu-Tube eingeatmet
Da ich mich mit heutigen Jugendlichen nicht so gut auskenne, habe ich nachgeschaut, was Ellen Kositza zu dem Thema sagt. Diese rechte Publizistin und versierte Literaturfreundin, deren erfreulich breit gefächerten Lesetipps ich gelegentlich folge, hat immerhin sieben Kinder hochgezogen. Für sie ist Ritzen ein „Übergangssyndrom“, ein „Surrogat für Initiationsriten, die heute und seit langem fehlen.“ Ferner glaubt Kositza, auch die längste Friedensperiode in der deutschen Geschichte spiele dabei eine Rolle: „Man/frau will sich austesten. Grenzen spüren. Schmerz erleben in einer allseits abgefederten Welt. Etwas herausschreien, ohne laut werden zu müssen.“
Ja, goldene Zeit der Jugend! Wahrlich ein seltsames Spiel. Als meine Kumpels und ich so vierzehn, fünfzehn waren, zogen wir uns in Ermangelung ordentlicher Drogen manchmal Tüten über den Kopf und atmeten Dämpfe aus der Uhu-Tube ein. Leimen nannten wir das. Die Gase dröhnten einem die Birne wundersam zu. Es hieß, mancher passionierte Leimer habe sich dabei einen leichten Dachschaden eingefangen. Eine Art von Selbstbeschädigung auch das, wie Ritzen.
Mit den Pulverplättchen von ausgebuddelten Zwei-Zentimeter-Flakpatronen kleine Bomben gebastelt und zur Detonation gebracht. Nächtliche Ritte auf der Rasierklinge, mit schrottreifen Lambretta-Rollern ohne Licht und Bremsbacken, kein Führerschein Ehrensache. Geballer mit Kleinkalibergewehren auf Schrottplätzen, bis jemand einen Querschläger abkriegte. Was von der Sorte.
Warum? Weil es in unserer plattdeutschen Kleinstadt so nachkriegslangweilig zuging; dermaßen öde, dass man immerzu nach dem nächsten Jahrmarkt jibberte, nach seinen piefigen Karussells, den betrügerischen Schießbuden und der Raketenbahn, wo Pat Boones Hit „Speedy Gonzales“ aus knarzenden Lautsprechern eins ums andere Mal heulte? Wollten wir inmitten all der tumben und tauben Grottenlangweiligkeit einfach mal was ganz stark fühlen, wie der Protagonist in Davids Finchers „Fight Club“? In dieser Filmikone der Neunziger entdeckt ein junger Lebenssinnentleerter den Reiz, bei blutigen Kellerkloppereien was auf die Fresse zu kriegen.
Wo unablässig das Lied vom Hitzetod gespielt wird
Oder lag es einfach daran, dass Adoleszenten nun mal Kicks ausprobieren müssen, je krasser desto besser? Boys will be boys? Sicher bin ich mir nur in einem: Was uns definitiv nicht antrieb, war der Wunsch nach Selbstbestrafung.
Wären wir Jungs damals durch einen Zeittransmitter in die 2020er gebeamt worden, wir hätten geglaubt, auf einem anderen Planeten zu sein. Ein flächendeckendes Flagellantentum, angestachelt von Klimakirchenkardinälen und ihren Medienpastoren, hat Schland in eine mea-culpa-Echokammer verwandelt. Wo unablässig das Lied vom Hitzetod gespielt wird, den wir erleiden müssen, schwören wir nicht subito unseren Sünden ab. Zu denen dürfte neben Fleisch essen, Fliegen und Autofahren vermutlich bald auch übermäßiges Atmen gehören.
Viele Gutbürger senken beschämt das Haupt, wird ihnen vorgehalten, was sie Mütterlein Erde durch ihr frivoles Wirtschaften und Konsumieren so alles angetan haben. Sie kaufen daher willig Ablasszettel, mal in Form von kapitalen Stromrechnungen, mal als WWF-Patenschaft für einen Oran-Utan in Indonesien (schon ab 15 Euro monatlich).
Daneben singt in höchsten Tönen ein Klagechor derer, denen ein Leids getan wurde. Also praktisch allen Menschen im Erdenrund mit Ausnahme der alten weißen Männer. Die Hamburger Zeit, das Sturmgeschütz der Moralbourgeoisie, führt ihren Lesern wegweisend für den Rest der Medien unablässig vor, wie man sich davor schützt, ein Nazist, Rassist, Sexist, Lookist, Ableist oder sonstiger Schweinehund zu sein.
„Schadet Atmen dem Klima?“
Wie man den Weltzerstörer in sich bändigt, erfährt man in der Stern-Kolumne „Ökobilanz“ unter Headlines wie „Darf man noch Jeans kaufen?“, „Skifahren schadet oft dem Klima. Wie man die Ökobilanz des Vergnügens deutlich verbessern kann“ oder (Bingo!) „Schadet Atmen dem Klima?“
Immer noch ’ne Schippe Schandtat drauf! Für die wir vielleicht nicht so direkt verantwortlich sind, für deren Abbüßung wir aber auf jeden Fall bereitstehen. Übrigens, hatten die Deutschen nicht zwischen den 1880ern und 1914 riesige Teile der Weltbevölkerung im kolonialen Würgegriff? Und wer, wenn nicht dieser Bismarck, war dafür verantwortlich? Hinfort mit seinem Namen! Er war es schließlich, welcher der Welt eine Missgeburt namens Deutschland einbrockte. No nations, no borders! Schleift die Bismarck-Denkmäler!
Ach… Wann hat diese Sucht nach Selbstbezichtigung und Selbstbestrafung, nach Reue und um Verzeihung betteln eigentlich angefangen? Diese ritzerhafte Lust, jedweden Vorwurf sogleich abzunicken, sei er auch noch so abstrus, noch so fadenscheinig.
Tendenz zur Selbstgeißelung, als Kritik am „Konsumterror“ verpackt
Nein, mit den Achtundsechzigern hat das ausnahmsweise nicht zu tun. Die zeigten lieber mit dem Finger auf andere. Auf die Nazieltern, die kriegslüsternen Amis, die machtgeilen Konzerne. Der in der DDR aufgewachsene Rudi Dutschke, Galionsfigur jener kurzlebigen Bürgerkinderrevolte, hatte in seinen sozialistischen Visionen durchaus Platz für nationale Elemente. Obschon in seiner manchmal unfreiwillig komischen Art und Weise ein Asket, war er dennoch alles andere als ein Ritzer.
Dutschke, auch Autor eines Aufsatzes über „Die Linke und die nationale Frage“, in einer Notiz zum Thema „Die Schwierigkeit ein Deutscher zu sein (Warum ich aber dennoch stolz bin): Wie jedes Volk das Recht, die Pflicht und das Bedürfnis hat, auf sein Land stolz zu sein, und mögen noch so viele Rückschläge gewesen sein.“ Ein Buch über „Dutschkes Deutschland“ kommt laut FAZ gar zum Schluss, der charismatische Studentenführer sei ein „linker Patriot“ gewesen. Starker Tobak für Verehrer des stoppelbärtigen Schnellredners, die ihr Idol eher als Internationalisten betrachten.
Doch schon mit den späten 1970ern sickerte die Tendenz zur Selbstgeißelung in die Gesellschaft, zunächst als Kritik am „Konsumterror“ verpackt. Peter Moslers Roman „Die vielen Dinge machen arm“ von 1981 fasst dann bereits sämtlichen Schmus zusammen, der die heutigen grünen Verzichts- und Bußübungen auszeichnet. Im Spiegel, damals noch einigermaßen bei Trost, verriss Christian Schultz-Gerstein Moslers menschen-, lust- und lebensfeindliches Machwerk nach Strich und Faden. Er erkannte darin schon erste Zuckungen einer perversen Sehnsucht nach der „postindustriellen Gesellschaft“, vulgo nach dem Rücksturz in die Massenarmut früherer Jahrhunderte.
Wenn zum Gesinnungsappell geblasen wird
Jahre später formierte sich im ultralinken Lager die Sekte der sogenannten „Antideutschen“. Die wollten Deutschland praktisch jede Schurkerei anhängen, am liebsten wohl noch den Ausbruch des Pinatubo. Doch dieses ideologische Gewese spielte sich hauptsächlich in bedeutungslosen Kleinstmedien wie Bahamas oder Konkret ab; nirgendwo sonst wurde es rezipiert.
Als Ritzer betätigte sich in jenen Tagen allenfalls der Schriftsteller Rainald Goetz. Der schnitt sich während eines Vortrags beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt mit einer Rasierklinge die Stirn auf, ließ Blut über die Hände aufs Manuskript laufen und legte damit den aufmerksamkeitsökonomischen Grundstein für eine beachtliche Karriere.
Erst der Aufstieg der Grünen – in der Wählergunst zunächst eher zögerlich, rasant dagegen von Anbeginn in Medien, Kulturbetrieben, Verwaltungen, Kirchen, Stiftungen – zeitigte den politischen Typus des bußfertigen Ritzers, wie man ihn heute kennt. Immer bereit, sich auf jeden Vorhalt hin in den Staub zu schmeißen. Stramm auf Vordermensch, sobald zum Gesinnungsappell geblasen wird.
Was der Ritzer heute so macht
Paar Beispiele? Der Ritzer warnt sexuell belästigte Frauen davor, die Polizei einzuschalten, weil „Polizeieinsätze für von Rassismus betroffene Menschen grundsätzlich mit einem erhöhten Risiko einhergehen, Polizeigewalt zu erfahren.“
Ein Rassist und Deutschenhasser mit innigem Wunsch nach dem Untergang der „Weißbrote“ erhielt als Chef einer „Flüchtlingshilfsorganisation“ von deutschen Ritzern fast eine halbe Million Euro an Spenden, darunter Gelder der katholischen Kirche.
Der Ritzer schaut sich gegen Eintritt vergnügt die Ausstellung „Hamburg wird bunt“ an, welche das Schmierfinkentum, das Teile des öffentlichen Raums der Freien und Hansestadt seit Jahrzehnten optisch versifft, zur Kunst verklärt.
Der Ritzer kann sich kaum einkriegen vor Begeisterung über die Gabe sogenannter Benin-Bronzen, die deutsche Museen mal von britischen Kolonialisten erworben hatten, an den Staat Nigeria; der Ritzer erhofft sich davon den Beginn der „Aufarbeitung des kolonialen Erbes“.
Den Ritzer stört es nicht, wenn ihn ausgerechnet eine staatlicherseits üppig alimentierte Antidiskriminierungsbeauftrage als „Kartoffel“ schmäht; im Gegenteil, er verteidigt die Dame vehement gegen Kritik.
Der Ritzer kann sich über eklige Hanstwurstiaden von zwei woken TV-Mimen („Jerks“) schwer beömmeln, notiert dazu in einem Mediendienst: „Selten wurde die Toxizität männlicher Emanzipationsverweigerung so qualvoll und zugleich heiter verabreicht“.
Der Ritzer sanktioniert die Aktionen von Klima-Chaoten, welche regelmäßig den Verkehr zusammenbrechen lassen, als „legitim“ und bezeichnet Kritik daran als „oft hysterisch“, weil Autofahrer „Staus in der Regel selbst erzeugen.“
(Himmel. Muss endlich zum Schluss kommen. Mein Kopf, mein Kopf… Ahne langsam, was Michael Klonovsky meinte, als er schrieb: „Ich meinesteils betrachte den Titel ‚Letzte Generation‘ als eine Verheißung.“)
Wolfgang Röhl, geboren 1947 in Stade, studierte Literatur, Romanistik und Anglistik. Ab 1968 Journalist für unterschiedliche Publikationen, unter anderem 30 Jahre Redakteur und Reporter beim „Stern”. Intensive Reisetätigkeit mit Schwerpunkt Südostasien und Lateinamerika. Autor mehrerer Krimis.