Quentin Quencher / 22.02.2016 / 10:30 / 4 / Seite ausdrucken

Deutschland: Ein Pubertierender, der auch noch Waise geworden ist

Nach wie vor ringen die Deutschen um ihr Selbstbild, sowohl auf individueller Ebene, auch auch auf gesellschaftlicher. Noch immer befindet sich das Land in einem pubertären Zustand, hat weder seine Identität erkannt, noch seinen Platz in der Welt gefunden. Dieses Thema wird auch in Zukunft, zumindest unterschwellig, in allen Diskussionen mitspielen, um so mehr, wenn nicht in eine offene Diskussion darüber eintreten wird.

Vor dieser offenen, intellektuell wie emotional anspruchsvollen Diskussion scheuen sich die Meinungsmacher in den Medien genauso wie die politischen Eliten. Treffend verrät Joschka Fischer in einem Anfang Januar 2016 gesendeten Phönix-Interview den eigentlichen Punkt:

Die Nachkriegswestdeutschen sind es gewöhnt, dass eigentlich recht früh dieses Nachkriegsdeutschland, dass ein furchtbares Erbe zu tragen hatte, [...]. Es gab automatische Stabilisatoren: Westbindung und Europa. Und ich mag mir nicht vorstellen wie sich ein Deutschland entwickeln würde, wenn es dieses Europa nicht mehr gäbe.“

Die Beschreibung Fischers ist in zwei Punkten bemerkenswert, er spricht explizit von "Westdeutschen" und nennt Stabilisatoren in dem Sinne, dass er Deutschland nicht als fähig erachtet, selbstständig zu sein. Westbindung und Europa sind Voraussetzung für sein Deutschlandbild. Und genau das ist den Deutschen über die Jahrzehnte in pädagogisierender Weise vorgekaut worden.

Nun aber, mit dem Wegfall des bisherigen Ost-West-Konflikts, fallen auch die Stabilisatoren weg. Ohne diese Orientierungshilfen wirken die bisherigen politischen Eliten hilflos . Zu sehr haben sie sich auf ihr Bild von Europa als Verbund von Ländern verlassen, welches aus einer Wertegemeinschaft eine gemeinsame Identität entwickelt, aus der heraus wiederum gemeinsame Lösungen für Probleme erwachsen. Nun wird aber immer deutlicher, die Krise Europas zeigt es klar, dass ein solches Bild nur Illusion ist. Europa ist eben in erster Linie eine Aushandlungsgemeinschaft von Nationalstaaten, und so funktioniert dann auch ein Miteinander.

Dies setzt aber voraus, dass die jeweiligen Staaten eine Idee von der eigenen Nation haben, und genau hier werden die Defizite des bisherigen Selbstbildes Deutschlands um so deutlicher. Die Stabilisatoren haben sich als Scheuklappen erwiesen, ein begrenztes Sichtfeld entstand und somit ein Selbstverständnis, welches wesentliche Fragen, wie die nach der Identität, ausblendete. Nun bricht aber dieses, durch künstliche Stabilisatoren aufrecht erhaltene Selbstverständnis, in sich zusammen, weil es kein tragfähiges Gerüst aus sich selbst heraus entwickelt hat. Mit anderen Worten, die Identitätsfrage ist ungeklärt, sowohl was die Nation betrifft, als auch beim Individuum.

Westdeutschland blickt nun auf etwas, was die Ostdeutschen schon lange erleben. Die Ostdeutsche Identität »DDRler« löste sich schnell auf, sie wurde sowieso als überwiegend künstlich und verordnet angesehen. Ähnliche Prozesse stehen dem Westdeutschen bevor und diese sind nicht darauf vorbereitet, weil die Identitätsfrage in der Nachkriegszeit entweder von Pädagogisierungen geprägt war, oder gänzlich ausgeblendet wurde. Deutschland befindet sich somit im Zustand eines Pubertierenden, der gerade auch noch Waise geworden ist.

Noch ein Wort zu den »DDRlern«. Diese sind heute als Kulturflüchtlinge und Kulturvertriebene zu sehen, je nach dem wie sie zur Identität der DDR standen. Auch dieses Muster lässt sich nun, wenn die westdeutschen Stabilisatoren wegbrechen, auf Westdeutschland anwenden. Die DDRler sind nur etwas kritischer gegenüber einem Deutschlandbild, welches durch jahrzehntelange Pädagogisierung entstanden ist. Sie bilden nun eine gewisse Avantgarde bei der neuen unmoderierten Identitätssuche. Sie schämen sich nicht ihrer Gedanken, weil eben die erzieherischen Narrative deren sie ausgesetzt waren, andere als die der Westdeutschen waren - und vor allem keine Gültigkeit mehr haben.

Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass ich diese Westbindung oder die sich entwickelte europäische Zusammenarbeit als etwas Falsches betrachten würde, im Gegenteil, politisch gesehen gab es sowieso keine Alternative in Zeiten des Ost-West-Konflikts. Diesem Prozess fehlte nur, dass es nicht gleichzeitig eine offene Diskussion über Selbstbilder und Identitäten gab. Die Angst vor einem wieder erstarkenden Faschismus verhinderte dies. Wie oder was man ist, wurde nicht reflektiert, sondern nur etwas von dem man glaubte, so sein zu wollen. Die Stabilisatoren wurden zur formenden Begrenzung und schufen eine Scheinidentität.

Sind wir also wirklich die die wir zu sein vorgeben?

So wie der Ostdeutsche mit dem Verlust seiner kulturellen Heimat zu kämpfen hatte oder hat, so wird dies auch der Westdeutsche tun müssen, teilweise geschieht dies schon. Die Westbindung lockert sich und die europäische Einigung, in der Form wie sie betrieben wurde, steht ebenfalls immer mehr zur Disposition. Beides sind aber die Stabilisatoren der Westdeutschen Identität, nicht nur der Gesellschaft, sondern bis ins individuelle Selbstbild hinein.

Joshka Fischer nannte es Stabilisatoren, ich nenne es Pädagogisierung. Doch nun ist die Zeit im behüteten Elternhaus oder der Schule vorbei, Deutschland sollte langsam erwachsen werden.

Dieser Text entspricht in wesentlichen Teilen dem Vorwort zu Quentin Quenchers neu erschienenen Buch »Deutschland in der Pubertät«. Auch als Ebook erhältlich, beispielsweise hier oder hier.

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Leserpost

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Josef Kneip / 22.02.2016

Joscka Fischer, ausgerechnet der. Einer der als progressiv Linker alles Konservative verteufelte, wie es Ende der 60er Jahre so “in” war, katapultierte sich bei seinem Marsch durch die Institutionen ins höchste, für ihn früher so verhasste, Establishment. Natürlich waren zu dieser Zeit viele deutsche Politiker noch etwas traumatisiert von den auch selbst erlebten Greuel des Dritten Reiches. Sie steckten in Vielem international zurück und die Brieftasche stand weit offen. Dank der Gnade der späten Geburt war das schlechte Gewissen Fischers bezüglich des “furchtbaren Erbes” Mittel zum Zweck seiner Agitationen und seiner Karriereplanung. Als deutscher Außenminister hätte er die anderen Nationen davon überzeugen müssen, dass von Deutschland keine solchen Untaten mehr ausgehen würden wie die von Hitler. Welche Vorstellungen hat Fischer auch heute noch von seinen deutschen Landsleuten, wenn er sie ohne Europa wieder im Faschismus sieht? Natürlich ist Europa ein sinnvoller Weg, den es zu gehen gilt. Sinnvoll war der Weg aber nur bis zur Einführung des Europa spaltenden Euro. Hier hat man dann die Deutschen wieder als Zahlmeister entdeckt. Für viele wurde das abermals als Sühne für die Sünden des Dritte Reiches deklariert. Man lässt Deutschland tatsächlich nicht seinen eigenen Weg gehen. Es wurde in den Euro getrieben, um es vermeintlich zu zügeln. Jetzt treibt man es in die Immigrationsfalle, um so viel wie möglich deutsche Kultur und Deutsches in Deutschland zu verwässern. Fragen wir doch mal Herrn Fischer, wer dahinter steckt. Er ist doch ein guter Freund der USA. Ich nehme an, auch von Angela Merkel.

Hjalmar Kreutzer / 22.02.2016

Verehrter Herr Quencher, eine “kulturelle Identität DDR” habe ich nie so empfunden. Waren wir nicht im engeren Sinne emotional an den Heimatort, Ort der Kindheit und seine nähere Umgebung gebunden, später an den Ort, wo wir selbst sesshaft wurden, Arbeit, Wohnung, Familie und Freundeskreis fanden? “Meine Heimat DDR” wurde unter uns Jugendlichen nur bitter ironisch gesagt, wenn mal wieder ein Konsumartikel besonders überteuert und misslungen oder eine behördliche Verordnung besonders restriktiv und dämlich und sprachlich daneben war. Schon der Eiertanz mit der deutschen Nationalität aber Staatsbürgerschaft DDR sprach doch Bände. Kurioserweise hieß aber alles mögliche National, wie Front, Volksarmee, Verteidigungsrat, Aufbauwerk usw. Fühlten sich darüber hinaus nicht die Leute doch eher als Sachsen, Thüringer, Berliner, Mecklenburger, Lausitzer,  Anhalter, Vogtländer? Ja gut, Brandenburg als Identität gab es so wohl nicht, irgendwie “Märker”, weil wir keine Berliner sein wollten. Die Ostberliner revanchierten sich dann immer mit dem Spruch, sie hätten einen Garten, eine Datsche “in der DDR”. Seit der Wende bin ich froh, ohne irgendwelche Verrenkungen sagen zu dürfen, ich bin Deutscher, i.S. des Herschel von Ostropol bin ich sogar stolz, weil, wenn ich nicht stolz wäre, wäre ich auch Deutscher, also bin lieber gleich stolz.

Martin Friedland / 22.02.2016

Der neue Stabilisator ist jetzt der “Kampf gegen rechts” - “Antifa” als gemeinsame Identität. Alle anderen sind dann zwangsläufig “FA”.

Andreas Horn / 22.02.2016

Ein entscheidener Fehler : Der “DDR’ler” fühlten sich immer als Deutsche. Ein westdeutscher Identitätsverlust bezùglich Nationalität war nie vorhanden. Das erklärt übrigens auch den Widerstand gegen eine verordnete Regenbogennation. Fischer ist wohl der Letzte, der das Wort Nation ehrlich in den Mund nehmen würde.

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