Mir ist Deutschlands Schicksal nicht egal. Weil ich dieses Land liebe. Nein, nicht wegen, sondern trotz seiner Irrungen und Wirrungen.
„Heimat ist ein Wort, das unser Sprachgeist geschaffen hat, das in anderen Sprachen nicht zu finden ist und das völlig andere Gefühle weckt, stillere, stetigere, zeit- und geschichtslosere als das leidenschaftliche Wort Vaterland“
Carl Jakob Burckhardt 1954 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels
Da sage einer, die deutsche Sprache sei nicht zu feiner Nuancierung fähig. Doch, gerade sie ist es. Allein dafür schon kann man das Land lieben, welches nach seiner Sprache und seinen Bewohnern, den Deutschen, benannt wurde. Nur mal so zur Erinnerung, bevor auch dieser bisherige Allgemeinplatz im Orkus der Geschichte verschwunden ist.
Neulich hatte ich ein denkwürdiges Gespräch. Das lief so: „Den meisten Deutschen“, sagte ein Bekannter zu mir, „ist völlig egal, wenn Deutschland untergeht.“ Und er setzte noch eins drauf: „Vielen von ihnen wäre das sogar recht.“
Nein, dieser Bekannte erfüllt kein Klischee. Weder ist er ein „Wessi“, noch hasst er Deutschland. Eher leidet er mit mir unter dem Hang nicht ganz weniger unserer Landsleute zur Selbstherabsetzung, Selbstverachtung und zum Selbsthass bis hin zur Selbstzerstörung. Umso stärker trafen mich seine Worte.
Aus der Ferne hörte ich mich erwidern, vielleicht klang es auch ein wenig trotzig: „Mir ist Deutschlands Schicksal aber nicht egal. Weil ich dieses Land liebe.“ Nein, nicht wegen, sondern trotz seiner Irrungen und Wirrungen. Deshalb will ich Deutschland nicht einfach aufgeben.
Verbunden durch gemeinsame Sprache, Kultur und Lebensart
Ich weiß, das können oder wollen nicht alle verstehen. Zumal Deutschland und Liebe, das ist doch der krasseste denkbare Gegensatz, schallt es. Nein, es ist einzig eine Frage der Betrachtungsweise, nämlich ob man bereit ist, die Scheuklappen abzulegen, die den Blick verengen.
Aber was ist mit unserer dunklen, unheilvollen, schuldbeladenen Geschichte? Ich halte es da mit Herbert Kremp, nicht mit der Sichtweise der sogenannten „Frankfurter Schule“, die quasi zur Staatsphilosophie erhoben wurde. Und die zur Folge hat, dass das Schicksal der Deutschen und ihrer (besonders: ihrer verlorenen) Heimat nicht nur in den Hintergrund gedrängt wurde, sondern in weiten Teilen vor allem den Jüngeren schlicht nicht bekannt ist.
Ich kann nur jedem ans Herz legen, zur Abwechslung auch einmal Bücher des Historikers Christian Hardinghaus zur Hand zu nehmen, der über sich selbst sagt: „Meine Leidenschaft gilt faszinierenden menschlichen Schicksalen, die unbedingt erzählt werden müssen.“ Meine frühe Beschäftigung mit deutschen Schicksalen hat mich davor bewahrt, Land und Leute zu hassen. Ich habe so meinen ganz persönlichen Frieden mit meinem Land, mit den Deutschen und ihrer Geschichte machen können.
Die Hartgesottenen wird das nicht überzeugen, da mache ich mir keine Illusionen. Aber sie sollten wenigstens diesen einen Satz von Lord Georg Weidenfeld, Jude, Wiener, Brite, kennen: „Die gedankenlose Verurteilung jeglicher Kollaboration durch Menschen, die selbst nie der Verfolgung ausgesetzt waren und Einschüchterungen, Terror und Tod, die andernfalls gedroht hätten, nicht in ihre Überlegungen einbezogen, hat mich oft geärgert, ja angewidert.“
(Aus Konrad Löw, Felix Dirsch: Die Stimmen der Opfer. Zitatenlexikon der deutschsprachigen jüdischen Zeitzeugen zum Thema: Die Deutschen und Hitlers Judenpolitik. Verlag Inspiration Un Limited 2020, Seite 306. Eine Rezension zu diesem Buch von Josef Kraus mit weiteren Zitaten finden Sie hier.)
Warum kann ich Deutschland nicht hassen? Dafür gibt es neben den oben schon erwähnten weitere gute Gründe. Der wichtigste Grund ist jenseits aller Politik: ich bin in diesem Land tief verwurzelt, fühle mich meinen Landsleuten in allen deutschen Landesteilen verbunden durch die gemeinsame Sprache, Kultur und Lebensart. Das ist für mich ein Stück Heimat, zusammen mit den Landschaften, derer es in Deutschland so viele schöne und zugleich abwechslungsreiche gibt.
Dass diese Landschaften zunehmend einem Zerstörungswahn im Namen der Weltenrettung zum Opfer fallen, empört im übrigen viele Leute, treibt sie sogar auf die Barrikaden. Darunter befinden sich auch seit Jahren oder Jahrzehnten gut integrierte Menschen, die zwar weder ein deutsches Vaterland noch Deutsch als Muttersprache haben, die aber dennoch zuweilen deutscher sind als die Deutschen. Es ist entlarvend, dass ausgerechnet jene, die Deutschland als ihre Heimat tief im Herzen angenommen haben und ein gutes Verhältnis zu den autochthonen Deutschen pflegen, offiziell kaum zur Kenntnis genommen werden.
Wie wär's mit ein bisschen Applaus für deutsche Vielfalt?
Es zeigt sich also, dass der sogenannte Lokalpatriotismus ebenso wie die Heimatverbundenheit in Deutschland weiterhin ein Zuhause haben und zuweilen sogar mit Inbrunst gepflegt und verteidigt werden. Auch die vielen deutschen Traditionen und Bräuche werden allen Unkenrufen zum Trotz weiterhin gepflegt. So mag zwar beispielsweise der Norddeutsche sich übers Dirndlkleid und die Lederhose der Bayern lustig machen, und der Bayer über Echten Hamburger Labskaus die Nase rümpfen. Manchen reicht sogar ein Fischbrötchen, um sich zu ekeln. Sollen sie doch. Mal ganz ehrlich: Für genau solche Besonderheiten in deutschen Landen werben Touristikunternehmen, für diese Besonderheiten werden Land und Leute geliebt, dafür dass sie sich nicht selbst verleugnen, sondern zu sich selbst ebenso wie zur Tradition ihrer Region stehen, die ihnen erkennbar nicht egal ist, und für die sie warme Gefühle hegen. Heimatgefühle eben.
Apropos: Birgit Kelle hat ihre persönlichen Heimatgefühle unter diesem Titel in der WELT vor fast genau auf den Tag sieben Jahren so schön in Worte gefasst und später ihren sehr berührenden Text auch der Achse zur Verfügung gestellt. Auch ihre Geschichte ist eine der vielen Facetten des Deutschseins. Sie schreibt: „Ich bin Deutsche unter Deutschen. Früher war ich eine unter Rumänen. Hätte man mich nachts geweckt und gefragt, was ich bin, ich hätte schon als Kind gesagt: deutsch. Es ist meine Muttersprache, in der ich träume. Preußische Tugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit standen unter den Deutschen in Siebenbürgen hoch im Kurs.“ Mir ergeht es da nicht viel anders, auch wenn ich nicht aus Siebenbürgen stamme, einer Region, die zwar nie zu Deutschland gehörte, aber jahrhundertelang von Deutschen geprägt wurde. Die erste Ansiedlung der Deutschen in diesem mitten im heutigen Rumänien gelegenen Landstrich erfolgte schon im 12. und 13. Jahrhundert.
Deshalb aber, also unterschiedlicher deutscher Herkünfte, Ansichten, Bräuche und nicht zuletzt auch unterschiedlicher politischer Meinungen wegen, muss Deutschland mitnichten erneut zerstückelt und geteilt werden, wie einige Leute nunmehr kundtun, teils ironisch, teils bitterernst gemeint. Denn das ist erstens völlig pietätlos gegenüber den Opfern der deutschen Teilung und zweitens Unsinn, auch wenn er hinter einem kunstvollen Satz versteckt wird, der so klingt: die Deutschen in Nord und Süd, vor allem aber in Ost und West, „gehören zwar zusammen aber passen nicht zusammen“. Der Satz wird vollends absurd, wenn man landauf, landab einer Vielfalt das Wort redet, wo noch weniger zusammenpasst.
Man nehme doch bitte endlich ein für allemal zur Kenntnis: Deutschland hat eine beeindruckende Vielfalt schon allein aus sich selbst heraus, ja immer schon gehabt. Vielfalt ist zwar kein Wert an sich, doch diese Vielfalt ist historisch gewachsen und hat Land und Leute geprägt. Ohne diese Vielfalt könnte man nicht einmal sagen, was Deutschland ist und ausmacht. Wie wär's mit ein bisschen Applaus für deutsche Vielfalt?
Die Jüngeren begehren gegen die Selbstzerstörung auf
Genau wegen des erkennbar ausgeprägten Lokalpatriotismus' in Deutschland hege ich Zweifel, dass mein eingangs erwähnter Bekannter mit seiner Einschätzung richtig liegt. Eher glaube ich, sind zu viele Deutsche sich noch nicht bewusst, dass ein Untergang Deutschlands am Ende sie selbst und ihre unmittelbare Heimat am härtesten treffen würde. Ich kann nicht glauben, dass eine Mehrheit das will. Nicht das gemeine Volk.
Dort bekommen den Ernst der Lage mittlerweile besonders die Jüngeren wie kaum eine andere Altersgruppe zu spüren, da sie die Auswirkungen der „Transformationen von gigantischem historischem Ausmaß“ ganz unmittelbar erfahren. Kein Wunder, dass sich unter ihnen Widerstand regt gegen einen Trend, der Deutschland in einem Maße zu verändern trachtet, dass viele ihre Heimat schon jetzt immer weniger wiedererkennen. Hierin unterscheiden jungen Menschen sich zunehmend von einem Teil ihrer Eltern, Großeltern und Lehrer, die in saturierten Verhältnissen aufgewachsen sind und die dennoch mit ihrem Land seit jeher über Kreuz liegen.
Über Kreuz mit Deutschland lag auch Kurt Tucholsky. Von seinen politischen Affinitäten – er verstand sich als Kommunist, Sozialist, Internationalist – trennen mich zwar Welten, und das Deutschlandlied halte ich in Kenntnis seiner Entstehungsgeschichte im Gegensatz zu ihm mitnichten für ein „großmäuliges Gedicht“. Sei's drum. Dennoch überraschte er mich in einem seiner Werke mit einem leidenschaftlichen Bekenntnis.
Im Jahr 1929 erschien von ihm ein Buch, dem er den ironisch gemeinten Titel „Deutschland, Deutschland über alles“ gab. Dort rechnete Tucholsky auf 255 Seiten mit seinem Land ab. Dann kam die unerwartete Wendung: Eine Liebeserklärung an seine Heimat Deutschland. Die Gründe, die er dort für seine Liebe aufführte, dürften selbst denjenigen, die mit Deutschland bekanntlich nichts anzufangen wissen, ziemlich vertraut sein.
Tucholskys Ja zu Deutschland
Lauschen wir zur Feier des heutigen Tages doch einmal Tucholskys Zeilen und in uns selbst hinein, an welchen Stellen wir uns wiederfinden – es müssen ja nicht für alle dieselben sein:
„Nun haben wir auf vielen Seiten Nein gesagt, Nein aus Mitleid und Nein aus Liebe, Nein aus Haß und Nein aus Leidenschaft – und nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja –: zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland.
Dem Land, in dem wir geboren sind und dessen Sprache wir sprechen.
Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben. Warum grade sie – warum nicht eins von den andern Ländern –? Es gibt so schöne.
Ja, aber unser Herz spricht dort nicht. Und wenn es spricht, dann in einer andern Sprache – wir sagen ›Sie‹ zum Boden; wir bewundern ihn, wir schätzen ihn – aber es ist nicht das.
Es besteht kein Grund, vor jedem Fleck Deutschlands in die Knie zu sinken und zu lügen: wie schön! Aber es ist da etwas allen Gegenden Gemeinsames – und für jeden von uns ist es anders. Dem einen geht das Herz auf in den Bergen, wo Feld und Wiese in die kleinen Straßen sehen, am Rand der Gebirgsseen, wo es nach Wasser und Holz und Felsen riecht, und wo man einsam sein kann; wenn da einer seine Heimat hat, dann hört er dort ihr Herz klopfen. Das ist in schlechten Büchern, in noch dümmeren Versen und in Filmen schon so verfälscht, dass man sich beinah schämt, zu sagen: man liebe seine Heimat. Wer aber weiß, was die Musik der Berge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Landschaft spürt … nein, wer gar nichts andres spürt, als dass er zu Hause ist; dass das da sein Land ist, sein Berg, sein See, auch wenn er nicht einen Fuß des Bodens besitzt… es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik, und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land. Wir lieben es, weil die Luft so durch die Gassen fließt und nicht anders, der uns gewohnten Lichtwirkung wegen – aus tausend Gründen, die man nicht aufzählen kann, die uns nicht einmal bewußt sind und die doch tief im Blut sitzen.
Wir lieben es, trotz der schrecklichen Fehler in der verlogenen und anachronistischen Architektur, um die man einen weiten Bogen schlagen muß; wir versuchen, an solchen Monstrositäten vorbeizusehen; wir lieben das Land, obgleich in den Wäldern und auf den öffentlichen Plätzen manch Konditortortenbild eines Ferschten dräut – laß ihn dräuen, denken wir und wandern fort über die Wege der Heide, die schön ist, trotz alledem.
Manchmal ist diese Schönheit aristokratisch und nicht minder deutsch; ich vergesse nicht, dass um so ein Schloß hundert Bauern im Notstand gelebt haben, damit dieses hier gebaut werden konnte – aber es ist dennoch, dennoch schön. Dies soll hier kein Album werden, das man auf den Geburtstagstisch legt; es gibt so viele. Auch sind sie stets unvollständig – es gibt immer noch einen Fleck Deutschland, immer noch eine Ecke, noch eine Landschaft, die der Fotograf nicht mitgenommen hat… außerdem hat jeder sein Privat-Deutschland. Meines liegt im Norden. Es fängt in Mitteldeutschland an, wo die Luft so klar über den Dächern steht, und je weiter nordwärts man kommt, desto lauter schlägt das Herz, bis man die See wittert. Die See – Wie schon Kilometer vorher jeder Pfahl, jedes Strohdach plötzlich eine tiefere Bedeutung haben… wir stehen nur hier, sagen sie, weil gleich hinter uns das Meer liegt – für das Meer sind wir da. Windumweht steht der Busch, feiner Sand knirscht dir zwischen den Zähnen…
Die See. Unvergeßlich die Kindheitseindrücke; unverwischbar jede Stunde, die du dort verbracht hast – und jedes Jahr wieder die Freude und das »Guten Tag!« und wenn das Mittelländische Meer noch so blau ist… die deutsche See. Und der Buchenwald; und das Moos, auf dem es sich weich geht, dass der Schritt nicht zu hören ist; und der kleine Weiher, mitten im Wald, auf dem die Mücken tanzen – man kann die Bäume anfassen, und wenn der Wind in ihnen saust, verstehen wir seine Sprache. Aus Scherz hat dieses Buch den Titel ›Deutschland, Deutschland über alles‹ bekommen, jenen törichten Vers eines großmäuligen Gedichts. Nein, Deutschland steht nicht über allem und ist nicht über allem – niemals. Aber mit allen soll es sein, unser Land. Und hier stehe das Bekenntnis, in das dieses Buch münden soll:
Ja, wir lieben dieses Land. (...)“
Seine Zeilen beendete Tucholsky schließlich mit diesen Sätzen:
„Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir. Und in allen Gegensätzen steht – unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat.“
Vielleicht ist dies der kleinste gemeinsame Nenner, auf den die Deutschen sich einigen könnten. Und das wäre schon ein großer gemeinsamer Nenner. Ich wünsche es meinem Land aus tiefstem Herzen, zum Wohle Deutschlands und seiner Menschen.
Allerseits einen schönen Nationalfeiertag!
Sabine Drewes ist im freien Teil des damals noch geteilten Deutschlands aufgewachsen und beschäftigt sich seit ihrer Jugend mit diversen Aspekten rund um das Thema Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands.