Uran war gestern, jetzt wird aus Urin Strom gemacht. „Pee Power“ nennt sich das und ist keine ganz neue Idee: Man wartet schon seit fünf Jahren auf den großen Durchbruch der Pipi-Power-Revolution.
Zuerst glaubte ich an ein Wunder. „Auf der Bundesgartenschau wird Uran in Strom umgewandelt“, hatte mein Unterbewusstsein in einem Freudschen Verleser aus einem Focus-Artikel mir mitgeteilt. Wie jetzt? Ein Uran-Reaktor auf der Bundesgartenschau? In Deutschland? Ist womöglich die Vernunft zurückgekehrt?
Doch nein, natürlich nicht. In der Bundesgartenschau ging kein Uran-Reaktor in Betrieb, sondern ein Urin-Reaktor. Man muss eben richtig lesen:
„Auf dem Gelände der Bundesgartenschau in Mannheim befindet sich eine Spezialtoilette. Die Toilettenanlage für die Besucher heißt „Pee Power“ und ist ein wissenschaftlicher Großversuch, der mit 300.000 Euro Förderung vom Umweltministerium Baden-Württemberg unterstützt wird. Entwickelt wurde die innovative Anlage vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) in Zusammenarbeit mit der Universität Hamburg, wofür sie fünf Jahre lang geforscht haben.“, schreibt der Focus.
Die Anlage trennt zuerst den Urin von festen Fäkalien. Der gesondert aufgefangene Urin wird dann zum eigentlichen Reaktor transportiert. Der Urin, der eine elektrische Leitfähigkeit und einen hohen Anteil an organischen Kohlenstoffen hat, wird mittels mikrobieller Elektrolyse in Wasserstoff umgewandelt. Der wird dann per Brennstoffzelle in Strom umgewandelt. Maximal 50 Watt sind möglich. Damit kann man dann „das Handy laden“, so der „Forschende“ im Interview. Und dann geht das Fabulieren über die Rettung der Energiewende durch die „Focus-Klimahelden“ los: Einsatz bei „Großveranstaltungen“ oder bei „Neubauprojekten von öffentlichen Gebäuden“, immer dann, wenn eine größere Menge von Urin zu erwarten ist. Pinkeln fürs Klima, „ein Baustein in dem großen komplexen System Energiewende“, sagt der sympathische „Forschende“. „Die verantwortlichen Wissenschaftler leisten mit ihrem Projekt „Pee-Power“ einen Beitrag (50 Watt für 300.000 Euro – Anmerkung des Verfassers) zum Schutz unserer Umwelt und sind damit Klimahelden“.
Der Focus wärmt da einen uralten Hut von 2018 wieder auf, wo auch schon das Pee-Power-Projekt durch den Hauptstrom-Medienwald geisterte.
Licht aus Urin, zum Schutz der Frauen auf dem Klo
T-Online berichtete damals über die bahnbrechende Erfindung:
„,Pee Power‘, also ,Pinkel Strom‘, heißt das Projekt von Professor Ioannis Ieropoulos und seinem Team, bei dem ein Abfallprodukt des Körpers als Energiequelle für die Produktion von Elektrizität verwendet wird. Bereits seit 17 Jahren arbeiten die Wissenschaftler an der Technologie, mithilfe von Urin Strom herzustellen. Die mikrobiellen Brennstoffzellen liefern aber in ihrem derzeitigen Entwicklungsstadium noch nicht sehr viel Strom. Zum Laden eines Handys braucht es beispielsweise noch 24 Stunden.“ T-Online versteigt sich sogar zu der abenteuerlichen Behauptung: „Mit dem Urinstrom können aber auch LED-Lampen zum Leuchten gebracht werden. Das ist besonders für Entwicklungsländer interessant, wo Strom keine Selbstverständlichkeit ist. So wird die "Pee Power"-Technologie bereits in Uganda in einer Mädchenschule eingesetzt und damit der Weg zu den Toiletten sowie die Toiletten selbst beleuchtet. Weitere Projekte dieser Art sind bereits geplant.“
Wenn da mal nicht der Fernsehapparat, der Strom erzeugt, oder der stromerzeugende Fußweg – beides deutsch-afrikanische Erfindungen – zwischengeschaltet ist.
Bei solch revolutionärem „Durchbruch“ durfte natürlich auch ein Bericht der ARD nicht fehlen: „Unverdünntes Urin erzeugte aber dreimal so viel Energie. Das war der Durchbruch.” Offenbar wurden der Fantasie der Autorin vom WDR keine Redaktionsgrenzen gesetzt. Sie kam schon 2018, also lange vor unserer Außenministerin (ab Minute 2:15), mit einer feministischen Politik auf dem Klo daher – Licht aus Urin, zum Schutz der Frauen auf dem Klo.
„In Zukunft könnte die Technologie zum Beispiel Strom für ganze Slums erzeugen. Die Forscher hatten noch eine viel weitreichende Idee. Die Technologie ist hervorragend geeignet für Flüchtlingscamps und Entwicklungsländer. Strom ist dort nicht selbstverständlich, Toiletten häufig nicht beleuchtet. Immer wieder kommt es an solchen Orten zu Übergriffen auf Frauen. Aber auch potentiell gefährliche Insekten und Reptilien können im Dunkeln nicht gesehen werden. Die Technologie der Briten könnte hier helfen. Und sie tut es auch: In einer Mädchenschule in Uganda konnte schon mit großem Erfolg ein Prototyp installiert werden. Im Juni 2018 kam noch eine Schule, in einem Slum in Nairobi in Kenia hinzu. Weitere Projekte sind schon in Planung.
Ein Toilettengang, also circa 200 Milliliter, mehr braucht es nicht, um genug Strom für eine Handyladung zu produzieren. In Zukunft reicht vielleicht sogar weniger. Das "Pee-Project" konnte über die Jahre schon viele Unterstützer, wie zum Beispiel Oxfam, hinter sich versammeln. Trotzdem ist die Installation eines Systems im Ausland sehr kostenaufwändig. Die Materialien allein kosten rund 4.500 Euro. Weitere Aufwendungen wie Reisekosten, Unterkunft und Transport der Materialien lassen die Kosten für eine Installation auf bis zu 9.000 Euro ansteigen.
Ioannis Ieropoulos wünscht sich, dass die Kosten für ein System bald bei nicht mehr als etwa 560 Euro liegen. Er träumt von einer Zukunft, in der jeder Haushalt auf der Welt diese Technologie nutzt und damit seinen eigenen Strom erzeugt – egal ob in den Entwicklungsländern oder in den westlichen Industriestaaten.“
Dies schrieb „W wie Wissen“ vom Ersten bereits im Jahre 2018, auch ein Video zum Thema wurde produziert. BR 24 berichtete damals ausführlich, natürlich auch mit Video. Allerdings haben die Autoren der Artikel und Videos fleißig den Unfug, den sie verbreiten, voneinander abgekupfert.
Wenn eine wertvolle Energiequelle den Abfluss runtergeht
Um mit der fortschrittlichen Pinkelenergie ein Mobiltelefon aufzuladen, brauchte es nach den Angaben des Ersten und des BR etwa 24 Stunden – nach 17 Jahren intensiver Forschung. Ob das seit 2018 besser geworden ist, davon spricht der Focus-Artikel nicht. Offenbar warten die Energiewender nun seit weiteren fünf Jahren auf den großen Pi-Power-Durchbruch. Schließlich soll im Rahmen der Energiewende die ganze Wirtschaft voll elektrifiziert werden. Nur so als Denkanstoß – zum Ersatz des kürzlich stillgelegten Kernkraftwerks ISAR2 benötigt man 28 Millionen Pee-Power Anlagen, von den 6 Millionen Litern Rohstoff pro Tag gar nicht zu reden. Und es würden bei 300.000 Euro Fördermittel pro Stück 8,4 Billionen Euro Fördergeld benötigt. Und das Ganze nur zum Handyaufladen? Doch Spaß beiseite.
Denn da kommt mir noch eine ganz andere bange Frage in den Sinn: Was wird denn aus der Pipi-Power-Revolution im nächsten Winter? Wie soll das beim Energiesparen denn gehen? Ich erinnere mich nämlich noch an die Empfehlungen der Leitmedien im letzten Winter, doch zur Energieersparnis unter der Dusche zu pinkeln. Da geht doch eine wertvolle Energiequelle buchstäblich den Abfluss runter. Hoffentlich erfinden die „Forschenden“ bis dahin noch eine Methode zur Umwandlung von verpinkeltem Duschwasser in Strom. Vielleicht könnte man ganze Schwimmbäder in Kraftwerke umwandeln? Irgendwo müssen doch im Umweltministerium noch 300.000 Euro Förderung aufzutreiben sein.
Manfred Haferburg wurde 1948 in Querfurt geboren. Er studierte an der TU Dresden Kernenergetik und machte eine Blitzkarriere im damalig größten AKW der DDR in Greifswald. Wegen des frechen Absingens von Biermannliedern sowie einiger unbedachter Äußerungen beim Karneval wurde er zum feindlich-negativen Element der DDR ernannt und verbrachte folgerichtig einige Zeit unter der Obhut der Stasi in Hohenschönhausen. Nach der Wende kümmerte er sich für eine internationale Organisation um die Sicherheitskultur von Atomkraftwerken weltweit und hat so viele AKWs von innen gesehen wie kaum ein anderer. Im KUUUK-Verlag veröffentlichte er seinen auf Tatsachen beruhenden Roman „Wohn-Haft“ mit einem Vorwort von Wolf Biermann.