Mit gerichtlicher Unterstützung wird jetzt die Verengung des Meinungskorridors gut geheißen, die eine Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen zumindest erschwert. Anmerkung zum Urteil des Landgerichts Berlin II vom 2. Juli 2024, Az. 27 O 270/22.
Das Landgericht Berlin II hatte in einem Fall darüber zu entscheiden, ob das LinkedIn-Profil des Klägers gesperrt und drei Einträge vom 11.01.2022 (Beitrag von Dr. Alexander Zinn in der Berliner Zeitung), 12.03.2022 (Offener Brief von Prof. Dr. jur. Gerd Morgenthaler) sowie 06.04.2022 (Offener Brief des Netzwerks Kritische Richter und Staatsanwälte – KRiStA) gelöscht werden durften. Die Einträge befassen sich u. a. mit Nebenwirkungen der Covid-Impfungen und der Verfassungswidrigkeit der Impfpflicht.
Bei LinkedIn handelt es sich nach dem Urteil um eines der größten sozialen Netzwerke weltweit mit über 774 Millionen Mitgliedern in 200 Ländern, davon in Deutschland 16 Millionen. Auf das Geschäftsgebaren dieser Plattform ist der sog. Digital Services Act (DSA), eine unmittelbar nach Art. 288 AEUV geltende europäische Verordnung, i. V. m. dem deutschen Digitale-Dienste-Gesetz (DDG) anwendbar.
Aus hier nicht weiter interessierenden formalen Gründen wurde die Sperrung des LinkedIn-Profil des Klägers aufgehoben. Die drei genannten Beiträge unterlägen jedoch der Löschung, entschied das Landgericht, weil sie nach seiner Ansicht im Sinne des DSA „irreführende“ (S. 13) und „falsche“ (S. 14) Informationen enthielten.
In Art. 34 DSA wird den Plattformen aufgegeben, bei Eintragungen sorgfältig zu ermitteln, zu analysieren und zu bewerten, ob sich daraus „systemische Risiken in der Union“ entwickeln können. Bei dieser aufgegebenen Bewertung haben sie nach den Erwägungsgründen Nr. 5 und 84 zu beachten, dass diese systemischen Risiken nicht nur durch rechtswidrige Einträge verursacht werden können, sondern auch durch „anderweitig schädliche Informationen und Tätigkeiten“ oder durch „irreführende und täuschende Inhalte, einschließlich Desinformationen“ (Art. 34). Den Plattformen wird nach Art. 34 aufgegeben, „voraussichtlich kritische“, „voraussehbar nachteilige“ oder „absehbar nachteilige Auswirkungen“ auf die „gesellschaftliche Debatte“, auf „Wahlprozesse“, „die öffentliche Sicherheit“ oder den „Schutz der öffentlichen Gesundheit“ zu beachten.
Das Landgericht setzt sich – obwohl sich eine solche Erörterung geradezu aufdrängt – in seinem Urteil mit keinem Wort damit auseinander, ob die genannten, hier entscheidungserheblichen Klauseln des DSA, eventuell Art. 11 der EU-Grundrechtecharta, Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention oder Art. 5 GG widersprechen (hierzu vom Autor Beitrag vom 16.01.2024: „Meinungsfreiheit – ein Auslaufmodell. Der Digital Services Act (DSA)“).
Das gilt auch, wenn sich LinkedIn mit seinen AGB im privatrechtlichen Bereich bewegt. In diesem Fall hat die sich aufdrängende Prüfung im Rahmen der Wirksamkeitskontrolle nach §§ 307 ff. BGB zu erfolgen.
Die Gefahr eines Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot durch die im DSA methodisch angewandte Unschärfe (Anwendung von zunächst inhaltsleeren Generalklauseln) sieht das Gericht nicht. Das Landgericht übergeht, dass die von den Plattformen zu beachtenden gesetzlichen Vorgaben nach Zweck und Ausmaß nicht hinreichend bestimmt sind. Nur bei Beachtung dieser Kriterien wäre das Handeln der Ermächtigten messbar und in erträglichem Ausmaß für den Bürger voraussehbar und berechenbar (vgl. BVerfG, 08.01.1981 – 2 BvL 3/77, 2 BvL 9/77, BVerfGE 56, 1, Rn. 12 bei juris). Verborgen bleibt dem Landgericht auch, dass die Überwachungspflichten der Plattformen präventiv angelegt sind. Daraus ergeben sich besonders gravierende Eingriffe in die von Art. 5 GG, Art. 11 EU-Grundrechtecharta und Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierte Meinungsfreiheit, weil dadurch indirekt jede öffentliche Debatte über den Inhalt von Informationen schon vor deren Verbreitung erschwert oder gar verhindert wird (vgl. beim Autor a. a. O.)
Einerseits ist es Konsens, dass die von den Plattformen zu ca. 90 Prozent angewandten automatischen Inhaltserkennungstechnologien nicht in der Lage sind, im individuellen Fall zutreffende Werturteile über „falsch“ und „irreführend“ zu treffen. Andererseits ist aus Sicht der Plattformen – sei es auch auf Kosten der Meinungsfreiheit des Bürgers – zwingend, eine Lösung zu finden, will man sich nicht Sanktionen von bis zu „6 Prozent des weltweiten Jahresumsatzes des betreffenden Anbieters … im vorangegangenen Geschäftsjahr“ aussetzen (§ 52 Abs. 3 DSA). Dem Urteil ist zu entnehmen, dass nach den Community-Richtlinien genannten Allgemeinen Geschäftsbedingungen von LinkedIn sich das Erkennen von „falsch“ und die Entlarvung als „irreführend“ nach den „Leitlinien führender Gesundheitsorganisationen und Gesundheitsbehörden“ richtet.
Das Landgericht Berlin II hält diese Vorgehensweise der Plattform aus Zweckmäßigkeitsgründen für zulässig. Das Landgericht wörtlich:
„Um Willkür bei der Prüfung zu vermeiden, hat sich die Beklagte mithin zulässigerweise selbst einen mit den Erkenntnissen der weltweit führenden Gesundheitsorganisationen neutralen Maßstab gegeben, an dem sie die Zulässigkeit von Beiträgen im Zusammenhang mit medizinischen Fragestellungen misst … Dass es dennoch – theoretisch – möglich sein könnte, dass die vom Kläger verbreiteten medizinischen Thesen zutreffen, führt nicht zu einer anderen Beurteilung, denn der Beklagten muss eine überschaubare Entscheidungsgrundlage zugebilligt werden, die sich nicht in einer umfangreichen Auseinandersetzung mit umfangreicher Literatur zu befassen hat.“
Mit gerichtlicher Hilfe wird hier LinkedIn eine Generalabsolution erteilt durch Verweisung auf eine „Wahrheitsinstanz“, die für das Landgericht Berlin II, ohne plausibel gemachten Grund, die WHO verkörpert. Dass es sich dabei um einen „neutralen“ Maßstab handeln soll, ist einigermaßen lebensfremd. Unter welchen Kriterien das Landgericht diese Auswahl getroffen hat, hätte nachvollziehbar erläutert werden müssen, ist doch in den AGB von LinkedIn immerhin von Gesundheitsorganisationen im Plural und „Gesundheitsbehörden“ als Wahrheitsgaranten die Rede. Für das Landgericht spielt es keine Rolle, dass sich LinkedIn diese AGB spätestens 2021 gegeben hat. Die Wertung, was 2021 „führende“ Gesundheitsorganisationen und Gesundheitsbehörden waren, kann sich bis zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung, am 02.07.2024, geändert haben. Das entgeht der Aufmerksamkeit des Landgerichts. Welche neuen entscheidungserheblichen Erkenntnisse über die Corona-Maßnahmen innerhalb von ca. 2½ Jahren bis zur Urteilsverkündung gewonnen worden sind, wird von dem Landgericht als irrelevant, als „falsch“ und „irreführend“ abgeschoben.
Mit gerichtlicher Unterstützung wird die Verengung des Meinungskorridors gut geheißen, die eine Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen zumindest erschwert. Wenn die WHO einmal, wie das Landgericht zitiert, dekretiert hat, dass „schwerwiegende oder lang anhaltende Nebenwirkungen (nach Impfung) extrem selten” seien, so hat das unabhängig von neuen Erkenntnissen mit Billigung des Landgerichts Berlin II offensichtlich dauerhaft Bestand.
Das Landgericht Berlin II fügt dem Grundrecht der Meinungsfreiheit mit dieser Entscheidung elementaren Schaden zu.
Das Urteil verkennt, dass nach dem BVerfG nur durch autonome individuelle und öffentliche Meinungsbildungsprozesse eine umfassende Informationsgrundlage hergestellt werden kann, auf der staatliches und privates Handeln kritisch reflektiert werden kann (BVerfG, 05.08.1966 – 1 BvR 586/62, 1 BvR 610/63, 1 BvR 512/64, BVerfGE 20, 162, Rn. 36 bei juris; BVerfG, 19.05.1992 – 1 BvR 126/85, BVerfGE 86, 122, Rn. 19 bei juris). Es schaltet den demokratischen Kernbereich aus, den das BVerfG wie folgt beschreibt: „Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist [das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung] schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist“ (BVerfG, 15.01.1958 – 1 BvR 400/51, BVerfGE 7, 198, Rn. 32 bei juris). Das Urteil des Landgericht Berlin II propagiert betreutes, von einer „Wahrheitsinstanz“ gelenktes Denken.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei KRiStA.
Dr. Manfred Kölsch war 40 Jahre lang Richter und gab im Mai 2021 aus Protest gegen die Corona-Maßnahmen sein Bundesverdienstkreuz zurück.