Jährlich gedenkt der Bundestag der Verbrechen des Nationalsozialismus und der Befreiung von ihm; auch der Befreiung seiner Opfer. Wie passt das zum öffentlichen Nicht-Gedenken an die Opfer anderer, aktueller Morde?
Öffentliche Täter-Empathie hat in Deutschland gewiss eine unrühmliche Tradition; zuweilen löst sie Empörung aus. So erging es dem Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger, der die Täter-Empathie als rhetorische Figur bei seiner Rede zum Jahrestag der Novemberpogrome am 10. November 1988 bediente. Der Ehrengast des Bundestages, die jüdische Schauspielerin, Regisseurin und Intendantin Ida Ehre, schlug fast die ganze Zeit der Rede die Hände vor die Augen, aber nicht aus Bestürzung über die Form, sondern wegen des Inhalts, der ihr die Zeit der Judenverfolgung nur zu lebhaft vor Augen geführt hatte, wie sie selbst später sagte; denn Jenninger nannte schonungslos die Vorurteile und antisemitischen Tendenzen von damals und wertete sie an diesem Tag gar höher als die Trauer selbst.
Die Empörung darüber von Seiten der Linken, der Protest gegen Jenninger, der gerade bei den Grünen losbrach und sich danach tagelang quer durchs deutsche Feuilleton zog, stellte sich später als ein bereits im Vorfeld geplanter und abgesprochener Eklat heraus. Als einen der unangenehmsten Protagonisten dieses Eklats habe ich selbst lebhaft Walter Jens in Erinnerung, der Jenninger scharf verurteilte. Später stellte sich heraus, dass Jens selbst Nationalsozialist gewesen war. Kurz danach äußerte der Kabarettist Wolfgang Neuss ironisch, der Bundespräsident – damals Richard von Weizsäcker – solle Jenningers Rede "noch einmal schön langsam vorlesen". Jenninger selbst aber war bereits am 11. November 1988 zurückgetreten.
Ein neurotischer Umgang mit der Vergangenheit
Für mich als jungen Mann war dieser Umgang mit der Vergangenheit zwiespältig, er wirkte auf mich bereits prima vista in peinlicher Weise ritualisiert, koordiniert, unehrlich, sogar neurotisch. Die Mechanismen des Zusammenbruchs der Demokratie und des Entstehens der Terrorherrschaft schienen niemanden zu interessieren, und es sah so aus, als sollten Trauer, Schuld und Verantwortung zwar einerseits nicht kollektiv, dennoch andererseits ein möglichst allgemeiner und diffuser, dafür aber öffentlich zur Schau gestellter gesellschaftlicher Konsens sein; nur eben keinesfalls persönlich, was gerade an Beispielen wie Walter Jens nur allzu deutlich wird. Ich vermisste sein persönliches Schuldeingeständnis, das beispielsweise mein eigener Vater imstande war zu leisten, allein weil er, der Volkssturm-Mann und Deserteur, zuvor NSDAP-Mitglied gewesen war. Er hatte mir erzählt, wie er als Arbeitsloser 1932 sein Heil in der "Bewegung" gesehen und übrigens 1933 auch wieder Arbeit gefunden und bis 1938 das Reich hatte aufblühen sehen. Den grausamen Rest des Weges war er mitgelaufen, und von Deportationen zunächst Andersdenkender und später von der Verfolgung und Vernichtung der Juden habe er gehört, sich aber nicht getraut, zu widersprechen, aus Angst um sich und seine erste Familie. Und diese oder eine andere Verstrickung zuzugeben sollte einem Walter Jens nicht möglich gewesen sein, obwohl sogar Ralph Giordano sich bemühte, ihn in Schutz zu nehmen?
Weitere Beispiele wie der zunächst literarisch von mir geschätzte Günter Grass verstärkten meine Skepsis gerade gegenüber einer angeblich gewendeten Linken, die sich dabei nur zu gern gegen Israel stellte. Auch der zum Linken gewendete ehemalige Rechtsnationale, der protestantische Pastor Martin Niemöller, ein mutiger Mann des kirchlichen Widerstands gegen die Nationalsozialisten, wich jenem Teil der "Judenfrage", der Deutschlands verbrecherisches Erbe blieb, geflissentlich aus und äußerte sich außerhalb der Öffentlichkeit gar latent antisemitisch. Das widerte mich an, denn mit dem Eingeständnis einer auch persönlichen Verantwortung und dem Erkennen historischer Zusammenhänge hatte das nichts zu tun; es war eher die Fortschreibung eigener schuldhafter Verstrickungen und ihre sogar eher halbherzige Tarnung im Nachhinein. Dass auch Widerstand eine Grauzone sein kann, das wurde mir allerdings klar.
Und so fand ich auch das Verhalten der "Achtundsechziger" zwiespältig; wie konnten die angeblichen Gegner des "Muffs von tausend Jahren" mit solchen Gestalten wie Dieter Kunzelmann oder jener RAF sympathisieren, die sich in Terrorlagern des Nahen Ostens genauso ausbilden ließ wie die rechtsradikale "Wehrsportgruppe Hoffmann"? Und wie konnte mein Land nach dem aufsehenerregenden Auschwitz-Prozess in der angeblich genauso muffigen Adenauer-Periode weiterhin so versagen in der juristischen Verfolgung und Aufarbeitung von NS-Verbrechen? Und sich dabei jedes Jahr zu einer angeblich im allgemeinen Konsens fest verankerten gemeinsamen Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus bekennen? Irgendetwas daran passte nicht zusammen, es stimmte einfach nicht. Doch was war es und woran lag es?
Die Täter-Empathie deutlicher sehen
Heute sehe ich sie deutlicher als damals, die heimliche Täter-Empathie, das Ignorieren der Opfer: erst die Unfähigkeit zu Trauern der Angela Merkel nach dem Terroranschlag vom Breitscheidplatz, jetzt das grenzdebil wirkende Grinsen und Lachen von Mitgliedern der Grünen bei einer aktuellen Demonstration gegen Rechts nach migrantischen Gewalttaten. Ich sehe auch das grölende Marschieren zugewanderter Judenhasser durch deutsche Städte.
Ich sehe das als eine Folge jener diffusen "Erinnerungskultur", die mir seit den 1980er Jahren vertraut ist. Diese "Erinnerungskultur" kollektiviert die Verantwortung in durchaus ungebrochener Kausalität und Tradition der Tätertoleranz des Nationalsozialismus. Zuweilen erinnern mich solche Verhaltensweisen sogar an eine der Posener Reden Heinrich Himmlers, in denen er die Empathie für seine eigenen Mörder in dem Prädikat gipfeln lässt, "anständig geblieben" zu sein. Ein solcher "Anstand" ist nur denkbar im Rahmen einer Kollektivierung, einer Ideologie der - in moderner Terminologie - gruppenbezogenen Menschenverachtung.
Kann es sein, dass nur die verachtete Gruppe sich im Sinne der Ideologie mit der Zeit verändert hat? Für weite Teile der deutschen Linken sind auch Juden weiterhin Teil dieser Gruppe, gerade dann, wenn sie sich mit dem Staat Israel identifizieren, dessen Existenz doch angeblich deutsche "Staatsraison" ist; mit dem Finger auf die Juden zeigen zu können, das erleichtert der deutschen Linken die Täterempathie, in Teilen bis hin zu deren Introjektion und dem geistigen Schulterschluss mit radikalen, judenfeindlichen Muslimen, die heute weitgehend ungehindert durch deutsche Straßen marschieren, während die offiziöse Phrase wiederholt, dafür sei in Deutschland kein Platz, und man wehre den Anfängen.
Aus der Vergangenheit gelernte Verächtlichmachung der Kritik
Teil der verachteten Gruppe sind längst offensichtlich auch autochthone Deutsche, die einer unkontrollierten Einwanderung in ihr Land widersprechen, obwohl deren negative Folgen offen zutage liegen, nicht nur in Gestalt von Sprechchören gegen Juden, sondern sogar von Angriffen auf Juden, Gewaltverbrechen und Morden an Deutschen und Migranten. Und ausgerechnet die Kritiker dieser Tollheiten und Verbrechen werden von den Protagonisten der offiziellen "Erinnerungskultur" mit Faschisten in Verbindung gebracht oder gar gleichgesetzt.
Wieder erinnere ich mich an den seltsamen Umgang Deutschlands mit öffentlicher Trauer, Schuld und Verantwortung. Er erfüllt eine paradoxe Funktion. Er soll die historische Erkenntnis und die politische Verantwortung ersetzen durch eine folgenlose, ritualisierte Kollektivierung des Gedenkens im Sinne der Abwehr von persönlicher Trauer, Schuld und Verantwortung. Dabei hegt und pflegt Deutschland zugleich seinen Ruf als ein Land, das in geradezu beispielhafter und führender Position weltweit aus seiner Vergangenheit "gelernt" habe, was allein angesichts des politisch neurotischen und juristisch verschleppten Umgangs mit dieser Vergangenheit unglaubwürdig ist. Der globale Anspruch jedoch ist den Ideologien, der nationalsozialistischen ebenso wie der sozialistischen - und der islamisch begründeten - gemeinsam, und störende Elemente, die eine andere als eine aufs Große, Ganze, Gleichgeschaltete zielende Identität geltend machen, müssen als Opfer am Rande dieses Wegs gebracht, d.h. zu Opfern gemacht und sogar als solche begrüßt werden, begrüßt im Sinne der Verächtlichmachung.
Dies gilt auch und gerade im Sinne des "Antifaschismus". Der plakativ zur Schau getragene Antifaschismus ist ein Kennzeichen der totalitären politischen Linken. Hier muss man allerdings m.E. streng unterscheiden zwischen jenen inzwischen nahezu ausgestorbenen Antifaschisten, die zur Zeit des Nationalsozialismus aus eigener Erfahrung und Überzeugung heraus Widerstand leisteten, und jenen epigonalen Erscheinungen, für die der heutige „Antifaschismus“ zu einer seines ursprünglichen Inhalts entleerten, doppelten Chiffre geworden ist: erstens einer der maximalen Absetzbewegung von der Tätergeneration der Eltern und Großeltern im Sinne der Abwehr von Schuld und Verantwortung und zweitens einer des selbstgefälligen Machtkalküls. Bereits Jens und Grass und sogar Niemöller ging es offensichtlich weniger um ihre persönliche Stellung und Verantwortung im Kontext der Geschichte als vielmehr um die Wahrung ihres Rufes und ihrer öffentlichen Deutungshoheit.
Auf den ersten Blick hat sich die Erinnerungs- und Gedenkkultur Deutschlands Blick inhaltlich zwar kaum verändert, aber intentionell verschoben und eine Zielrichtung erhalten, die de facto sogar eher in der Tradition der DDR steht als in jener der alten Bundesrepublik. Es kann schon aus demographischen Gründen heute nicht mehr darum gehen, alte Nationalsozialisten am Wiedererlangen der Macht zu hindern und die aktiv oder passiv mitschuldig gewordenen Deutschen an ihre Mitschuld und Verantwortung für die verlorengegangene Rechtsstaatlichkeit und Demokratie der Weimarer Republik zu erinnern. Um diese politische Ethik mag es der Intention nach vor allem der Gedenkkultur der alten Bundesrepublik bis 1988 gegangen sein, wenn sie sich an die Verbrechen der Nationalsozialisten und die erfolglosen Bemühungen des deutschen Widerstands erinnerte, verbunden mit der durchaus peinlichen Erinnerung, nur durch die Alliierten von der mörderischen Diktatur befreit worden zu sein. In der DDR dagegen hatte der "Antifaschismus" von vornherein nicht den geringsten Anstrich von Schuld oder Verantwortung; er diente vielmehr allein zu deren Abwehr und Verschiebung auf den politischen Gegner, wie auch die Mauer, die Deutsche am Verlassen der DDR hinderte, als "antifaschistischer" Schutzwall nach außen plakatiert wurde. Juristisch genau hierzu deckungsgleich begriff nur die alte Bundesrepublik sich als rechtsidentisch mit dem Deutschen Reich, während die DDR darauf beharrte, das fortschrittliche, sozialistische Gegenstück dazu zu repräsentieren, das schon allein deshalb als von aller historischen Verantwortung befreit zu betrachten wäre.
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie: Opfer des "Antifaschismus"
Man muss konstatieren, dass der neuen Bundesrepublik, dem wiedervereinigten Deutschland, die Traditionslinie der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Verantwortung im Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus und den Widerstand gegen ihn auf paradoxe Weise genau in dem Maße immer weiter abhandengekommen ist, je stärker der "Antifaschismus" an seine Stelle getreten ist. Mein Eindruck ist, dass das nicht ohne politische Absicht geschieht, sondern dass der Kampf gegen Rechts vielmehr das Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus für ganz andere Zwecke instrumentalisiert.
Das "antifaschistische" Gedenken dient, nach dem biologischen Ende der allermeisten Zeitzeugen, nur noch einer neurotisch-manipulativen Schuldabwehr und Verlagerung der Verantwortung auf Dritte, wie es sich bereits in dem geradezu reaktionären Umgang mit der Jenninger-Rede manifestierte, mit dem von vornherein erwünschten Effekt des eigenen Machterhalts. Dass die Linke als jahrzehntelange Autorin dieser Kontextualisierung geradezu gezwungen ist, unfähig zur Trauer zu bleiben und an ihre Stelle die quasi-unschuldige Selbstdarstellung zu setzen, manifestiert sich im jüngsten Wahlkampfauftritt Robert Habecks in Auschwitz genauso wie in den feixenden Grünen-Gesichtern auf einer Demonstration gegen Rechts und in deren zur Schau gestellten Empörung über die aktuelle Initiative zur Begrenzung illegaler Einwanderung im deutschen Bundestag. Wie jede Ideologie folgt die reduzierte Leitkultur der Linken dem manichäischen Gedanken, nach dem aus der Perspektive des Antifaschisten jeder andere Faschist sein muss.
Es ist nicht die öffentliche, es ist die heimliche Täter-Empathie, die in Deutschland geschätzt wird. Die Stoßrichtung der Linken ist in Deutschland tatsächlich nicht anders als jene frühere der extremen Rechten: Sie zielt vor allem auf die eigene Entlastung, sogar auf jene von aktueller Schuld. Vielleicht fiel es aus ähnlichen Motiven einst so relativ leicht, sich auf die offiziellen Formen deutschen Gedenkens zu einigen? Ihr gemeinsames Kennzeichen ist jedenfalls mindestens seit 1988 die nur noch simulierte Trauer, die Selbstdarstellung und zuletzt sogar die Schuldzuweisung an Dritte, die Opfer zuweilen durchaus eingeschlossen. Ihr politisches Ziel sind die Zurschaustellung der eigenen Orthodoxie und Makellosigkeit, die Schuldzuweisung an Dritte, die öffentliche Beteuerung, aber implizite Verweigerung der Verantwortung sowie das Bewahren der Macht.
Dr. med. Jesko Matthes war Alumnus der Studienstiftung des Deutschen Volkes, immunologische Promotion über Tumornekrosefaktor- und Lymphotoxin-Messung, auch in virustransfizierten Zelllinien maligner Lymphome. Notarzt mit LNA-Qualifikation. Er ist Arzt und lebt in Deutsch-Evern.