Jacline Mouraud gehört seit einigen Tagen zu den bekanntesten Frauen Frankreichs. Ihre Wutrede – vier Minuten und 38 Sekunden, aufgenommen mit ihrem Mobiltelefon – klickten innerhalb kürzester Zeit sechs Millionen Franzosen an. “Vor zehn Jahren habt Ihr uns dazu gebracht, Diesel zu kaufen, weil sie als umweltfreundlicher galten”, schleudert die Bretonin dort Präsident Emmanuel Macron entgegen. Und jetzt wolle der Präsident die Dieselfahrer mit einer saftigen Steuererhöhung abkassieren.
Die Wut hunderttausender Franzosen richtet sich nicht nur gegen die hohen Spritpreise – fast 1,90 Euro kostete der Liter Diesel diese Woche an Zapfsäulen in Frankreich, der Liter Super sogar 1,98 Euro. Vor allem Macrons Ankündigung, die Dieselsteuer zum 1. Januar 2019 zu erhöhen, fachte eine landesweite Protestwelle von Fahrern an, die sich mit den Gilets jaunes kleiden – den gelben Warnwesten, wie sie jeder Autobesitzer im Kofferraum mit sich führt.
Offiziell begründet Frankreichs Regierung die Angleichung an die Benzinsteuer mit ökologischen Gründen – und der Abgasaffäre um Volkswagen und andere Hersteller. Mittlerweile springt die Bewegung auch auf Belgien über. Und demnächst auch auf Deutschland? Dort schaffte es die Deutsche Umwelthilfe (DHU) gerade, ein Diesel-Fahrverbot auf der A40 zu erklagen, einer Hauptverkehrsader des Ruhrgebiets. Das trifft Pendler naturgemäß noch viel härter als die Preiserhöhungen jenseits des Rheins. Gut möglich, dass die Dieselfahrer in NRW jetzt auch die Warnwesten aus dem Auto nehmen und vor die Rathäuser und die Staatskanzlei marschieren.
Wenn den Menschen in Frankreich die sozialen Bedingungen unerträglich werden, können daraus schnell Massenproteste werden, wie man sie in Deutschland nicht kennt. Östlich des Rheins wird zwar auch schon mal protestiert, aber in geordneten Bahnen, zudem meist nur mit dem Mund. Dass die Franzosen da anders ticken, hatten sie besonders eindrucksvoll an einem 14. Juli bewiesen. Der Tag ist zwar inzwischen 229 Jahre her, ist aber ganz und gar nicht vergessen.
Erstaunlich objektive Berichterstattung in den Medien
Es geht den Gilets Jaunes um mehr als den Protest gegen die steigenden Preise von Kraftstoffen; auch Gas, Heizöl und Strom haben sich massiv verteuert, ebenso die Dinge des täglichen Bedarfs, und das nicht nur in Frankreich, sondern auch in Belgien. Es verwundert daher nicht, dass die Bewegung innerhalb kurzer Zeit auch beim nördlichen Nachbarn angekommen ist. Auch dort plagen sich die Menschen mit den gleichen Problemen wie die französischen Bürger. Und sie sind nicht mehr bereit, sich weiter den Zuständen zu beugen.
Erstaunlich für deutsche Beobachter wirkt die objektive Berichterstattung in den Medien. Den Protestierenden wird in Zeitungen und TV Sendungen viel Platz eingeräumt; Platz, in dem sie Gelegenheit bekommen, sich und ihre Anliegen zu erklären.
Auch die Belgier, vor allem die französisch sprechenden Wallonen, besitzen das, was man in Deutschland und den ostbelgischen Kantonen gerne „den welschen Schlag“ nennt. Eine gewisse Laissez-faire Mentalität liegt darin, aber auch ein rasch aufflammendes Rebellentum, ganz ähnlich wie beim großen Nachbarn.
Die Bewegung „Gilets Jaunes“ zu nennen, erweist sich als brillante Idee. Zum einen geht der Protest vom Widerstand gegen die massiv steigenden Kraftstoffpreise aus, man verwendet also mit der Weste ein Accessoire des Autofahrers als symbolisches Zeichen. Dank seiner Farbe besitzt es zudem starke Signalwirkung. Und vielleicht spielt sogar die Sicherheit der Protestierenden eine Rolle; in früheren Jahren hat es bei anderen Streik- und Boykottaktionen Opfer gegeben, sie wurden im Getümmel überfahren.
Die Gelben Westen bezeichnen sich als friedlich und überparteilich. Im belgischen Fernsehsender RTBF kann man hören:
„Die Bewegung geht vom Volk aus, für das Volk“. Ein Sprecher der belgischen Gilets Jaunes erklärt: „Wir sind hier, um unsere Grundbedürfnisse zu verteidigen, unser tägliches Leben, unser Portemonnaie. Wenn die Politik uns nicht hören will, müssen wir eben lauter werden. Die Gelben Westen: das ist der unzufriedene Arbeiter, der unzufriedene Städter, der unzufriedene Rentner. Wir sind inzwischen alle unzufrieden! Es gibt Menschen, die einen guten Arbeitsplatz haben, und trotzdem nicht zurecht kommen! Die Gelbe Weste hat kein Gesicht, kein Abbild, sie ist einfach die Gelbe Weste. Sie steht für uns alle.“
Anders ausgedrückt: Es gibt keine offizielle Organisation, keine benennbaren Führungspersonen und keine politischen Bindungen an Parteien und Interessensgruppen. Die gesamte Organisation und Koordination findet in den sozialen Medien wie Facebook und Twitter statt. Dies macht es, so der britische Guardian, der französischen Regierung und den Sicherheitskräften nahezu unmöglich, die Orte der Aktionen vorher zu kennen und einen Überblick darüber zu bekommen, wie viele Menschen hier und dort mobil werden.
Drei Viertel der Franzosen unterstützen die „Gilets Jaunes“
Die Protestierer sind entschlossen, sich durchzusetzen, in Frankreich wie in Belgien. „Ich bin bereit, hier, so lange es sein muss, zu bleiben, ohne zeitliches Limit. Wenn die Regierung nicht bereit ist, sich zu bewegen und den Bürgern zuzuhören, nun, dann bleiben wir eben, bis sie es tun,“ wird einer der Protestierenden in der belgischen Tageszeitung Le Soir zitiert. Wer die Belgier und Franzosen kennt, sollte diese Aussagen ernst nehmen.
Die Tageszeitung Le Parisien zählte am 16.11. inzwischen 713 Aktionspunkte im ganzen Land. Wer die Franzosen kennt weiß, dass es sich dabei nicht um Stuhlkreise handelt. Laut einer Umfrage für den Sender „France“ unterstützen drei Viertel der Franzosen die „Gilets Jaunes“. Für den 17. November sind landesweite Aktionen angekündigt. Dann werden laut Voraussagen in den sozialen Medien auf der Pariser Ringstraße Boulevard Périphérique mehr als 250.000 Menschen unterwegs sein und an zahlreichen Autobahn-Mautstationen zwischen 12.000 und 16.000 Protestierende.
Woher auf einmal diese Wut? In einem Gespräch mit Le Monde erklärt Alexis Spire, Forschungsdirektor am CNRS (Centre national de la recherche scientifique), wieso sich die Gilets Jaunes ausgerechnet in den ländlichen Gebieten zusammengefunden haben:
„Einer der Gründe ist, dass Steuerzahler am unteren Rand der sozialen Leiter nicht mehr das Gegenstück von dem sehen, was sie zahlen. Es ist nicht überraschend, dass die Bewegung in ländlichen Gebieten oder in mittelgroßen Städten entstanden ist: Diese Territorien leiden seit mehr als zehn Jahren unter dem Niedergang und der Verschlechterung öffentlicher Dienstleistungen. […] Das Gegenstück der Steuer ist nicht mehr greifbar. Die Menschen haben das Gefühl, dass sie ausgenommen werden, um den luxuriösen Lebensstil der politischen Eliten aufrechtzuerhalten.“
In ländlichen Gebieten, wo man ohne Kraftfahrzeug verloren ist
Gravierend macht sich in ländlichen Gebieten, also dort, wo man ohne Kraftfahrzeug verloren ist, die Steigerung der Kraftstoffpreise bemerkbar. Alexis Spire dazu: „Kraftstoff ist ein Auslöser für ein allgemeines Gefühl der steuerlichen Unfairness. Die Vorstellung, dass es zu viele Steuern und Abgaben gibt, ist nicht neu, sie existiert seit Jahren und wurde durch die Abfolge von Steuerskandalen gespeist.“
Und nun sind die Gilets Jaunes auch in Belgien da. Vor allem die großen Raffinerien im Land werden blockiert, nur Heizöltransporter dürfen passieren. Am Total-Depot in Wandre bei Lüttich hatten hunderte Personen in der Nacht auf Freitag eine Barriere aus Holzpaletten errichtet. Die französischen Gilets Jaunes versprechen ein „Blockiertes Frankreich“, ein durchaus realistisches Ziel, das auch ihre belgischen Kollegen für ihr Land verfolgen. Jeden Tag kommen neue Aktionen hinzu. So werden inzwischen nicht nur Raffinerien blockiert, sondern auch wichtige Straßen.
Es ist noch nicht abzusehen, welche Auswirkungen die Aktionen in den kommenden Tagen zeigen werden. Und nicht nur die aktiv auf der Straße Protestierenden zeigen ihren Unmut: Unzählige Autofahrer beweisen Solidarität, indem sie ihre Warnwesten gut sichtbar auf dem Armaturenbrett ihres Fahrzeugs platzieren.
„Ich bin gegen die Maßnahmen der Regierung“ kommt ein Streikender aus dem belgischen Charleroi zu Wort. Und er nennt explizit die Erhöhung des Alters für den Vorruhestand, die ständig steigenden Kosten für die Dinge des täglichen Bedarfs, das Problem, selbst als Vollzeit-Doppeltverdiener finanziell kaum über den Monat zu kommen. Etwas unternehmen, ins Kino gehen, ins Restaurant? Das können sich immer weniger Menschen leisten. „In Belgien wird man nur noch vom Staat ausgequetscht.“ Die Steuerlast ist die höchste in der EU. Gleich danach rangiert übrigens Deutschland.
Die Bewegung zeigt bereits nach wenigen Tagen Wirkung. „Die Wut der Gilets Jaunes beunruhigt den Elysée“ titelt Le Soir vorgestern, und inzwischen dürfte die Unruhe deutlich zugenommen haben. Man ahnt, dass da noch einiges kommen kann. So weit man sich auch in Frankreich und Belgien von seinen Untertanen entfernt hat: man kennt sein Volk. Frankreichs Premierminister Edouard Philippe, vermutlich ebenso unbeliebt wie sein Präsident, hat in Richtung der Gilets Jaunes am Freitag erklärt: „Es ist nicht akzeptabel, ein ganzes Land zu blockieren.“ Die Bewegung läuft auf eine Kraftprobe hinaus: Es wird sich zeigen, ob das Kabinett die höhere Dieselsteuer tatsächlich durchsetzt.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Publico
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