Bassam Tibi, Gastautor / 13.10.2018 / 12:00 / Foto: Tibi/mena-watch / 19 / Seite ausdrucken

Der Zerfall der politischen Kultur in Deutschland

Seit 56 Jahren lebe ich als muslimischer Syrer in Deutschland, jedoch mit vielen Unterbrechungen im Ausland, da ich als Gastprofessor in den USA, im Nahen Osten, in Afrika und Südostasien tätig war. Diese Gastprofessuren ermöglichten mir, einen Abstand zu Deutschland zu gewinnen sowie eine bessere Urteilsfähigkeit zu erlangen.

Doch zu keinem Zeitpunkt erfuhr ich eine solche Vergiftung und eine derartige Links-Rechts-Polarisierung, wie sie heute unter Angela Merkel zu beobachten ist. Damit korrespondiert die Vorherrschaft eines links-grünen Narrativs. In einem Welt-Kommentar vom 18. Juli 2018 bemängelt Jacques Schuster, dass es in Debatten in Deutschland "nur eine Wahrheit gibt und alle anderen Ansichten zum Schweigen gebracht werden müssen. So verbissen und verbohrt, so gnadenlos und giftig."

In meinem Buch "Europa ohne Identität" schrieb ich vor zwei Jahren ein Kapitel, in dessen Titel meine These schon enthalten ist: "Eine demokratische 'Debating Culture' erfordert ein freies Debattieren über Europa ohne Aufnötigung und ohne innere Zensurinstanz. Daher diese Warnung vor der Tyrannei des herrschenden Narrativs." Die Aufnötigung erfolgt unter Androhung des Einsatzes von Keulen, die existenziell vernichtend wirken können.

Wenn Begriffe vom Inhalt losgelöst werden

In diesem Beitrag möchte ich diese These aufarbeiten und einen Zerfall der demokratischen und politischen Kultur des Debattierens diskutieren. Ich gehe davon aus, dass Rassismus, Nationalsozialismus und Islamophobie drei Bezeichnungen sind, die – wenn sie zutreffen – auf menschenverachtende Barbarei hinweisen. Demokraten und Humanisten können diese nicht dulden. Wenn jedoch diese Begriffe von ihrem Inhalt losgelöst werden, fahrlässig und willkürlich gegen jeden politischen Gegner als Beschimpfung eingesetzt werden, dann werden sie entleert, verlieren ihren Inhalt. Dieser Inhalt der Begriffe besteht aus Folgendem:

  •  Rassismus liegt vor, wenn Menschen als Kollektiv in eine niedriger gestellte Rasse eingeordnet werden und auf dieser Basis nicht nur entwürdigt, sondern auch dehumanisiert werden.
  • Nazi-Ideologie ist ein Totalitarismus, der einen Antisemitismus beinhaltet. Dieser ruft auf oder intendiert einen Massenmord.
  • Islamophobie ist ein umstrittener Begriff, der besser durch Islamfeindlichkeit ersetzt werden soll, weil er in Iran geprägt worden ist, um Islamkritik zu unterbinden. Islamfeindlichkeit ordnet Muslime in die Kategorie des Homo Islamicus, verbunden mit menschenverachtenden Vorurteilen.

Inhaltlich wiegen diese Begriffe schwer, und deshalb ist es höchst problematisch, wenn sie fahrlässig auf einen läppischen Fall, wie jenen eines türkischen Fussballspielers mit deutschem Pass, angewandt werden. Die in der Türkei herrschende islamistische AKP- Partei hat den Fall Mesut Özil für sich instrumentalisiert, um den Europäern "rassistisches und islamophobes Gedankengut in der Mitte der Gesellschaft" vorzuwerfen. Dies berichtet die FAZ vom 2. August 2018 über eine Propaganda-Aktion der AKP-Lobby in Europa.

Die Deutschen ziehen sich diesen Mantel selbst an und unterstellen sich selbst Rassismus und Islamophobie, ja manchmal sogar Nazitum. Der Deutschland-Korrespondent der NZZ, Benedict Neff, entziffert diese Chimäre in seinem Artikel "Deutschland verfällt in eine Rassismus-Hysterie". Was ist denn passiert? Der Fussballer Özil, der in der deutschen Fussballnationalmannschaft gespielt hat, posierte naiv neben dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und ließ sich – unbeabsichtigt – für AKP-Wahlpropaganda missbrauchen. Auf die hierauf erfolgte Kritik reagierte Özil mit dem Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft, verbunden mit dem Vorwurf des Rassismus.

Die Lust an der moralischen Selbsterhöhung

Im zitierten Artikel schreibt Benedict Neff von einem "Sturz in den Rassismus“, der folgendermaßen aussieht: "Die Lust an der moralischen Selbsterhöhung ist in Deutschland zur Selbstanklage, auch zu einer merkwürdigen Überschneidung" geworden. Hierbei "bekommt man den Eindruck, Deutschland sei ein durch und durch rassistisches Land. Es ist dieser Eindruck, der ein Unbehagen auslöst." Im Spiegel vom 28.7.2018 und Focus vom 28.7.2018, die dem Thema Özil gewidmet sind, lässt sich dies gut beobachten. Die Berichte in der Süddeutschen Zeitung vom 30.7.2018 und in der Zeit vom 26.7.2018 stehen dieser Selbstanklage in nichts nach. Die Pro-Erdogan-Union internationaler Demokraten, die die AKP in Europa vertritt, nutzt diese Selbstanklagen, um Europa anzugreifen.

Gegenüber Özil hat es keinen Rassismus gegeben, und trotzdem erfolgte der oben zitierte Aufschrei. In meinem Fall, als es wirklich um Rassismus ging, ist nichts geschehen. Ich erlaube mir, diesen persönlichen Fall mit folgender Frage hier vorzutragen: Wie würde man es beurteilen, wenn über einen jüdischen Wissenschaftler, der an einer deutschen Universität wirkt, gesagt wird, "dass ein Jude seit zwei Jahrzehnten durch das Fach der deutschen Politikwissenschaft irrlichtert"? Kein gesund denkender Mensch würde bestreiten, dies sei Antisemitismus.

Was sagt man nun, wenn Herfried Münkler, der angesehene deutsche Politikwissenschaftler, in der SPD-nahen Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (Heft 11, 2017) schreibt, "zugespitzt gesagt irrlichtert Bassam Tibi seit etwa zwei Jahrzehnten durch das Fach" – gemeint ist die deutsche Politikwissenschaft. Wohlbemerkt, der zitierte deutsche Politikwissenschaftler ist ein Links-Liberaler, und die Zeitschrift, die das veröffentlicht hat, steht nicht der AfD, sondern der SPD nahe. Zudem bin ich kein Deutscher, sondern ein Fremder in Deutschland, der auf diese Weise diskriminiert und entwürdigt wird.

Ich möchte mich auf dieses Niveau nicht einlassen, führe meinen Fall aber deshalb im Kontext der Özil-Affäre an, um das Niveau der deutschen Diskussion zu veranschaulichen. In meinem Fall ist der Rassismus-Vorwurf berechtigt, bei Özil ist das nicht der Fall, und dennoch erfolgte der zitierte Aufschrei. In meinem Fall stieß die zitierte rassistische Verunglimpfung auf totales Schweigen. 

Reine Schimpfworte der billigsten Sorte

Merkwürdig ist es in Deutschland, dass normale politische Äusserungen abqualifiziert werden mit Nazi-Vorwürfen, islamophoben Einstellungen und Rassismus, während wirklich rassistische Äußerungen ungeahndet bleiben. Leider werden die zitierten Begriffe heute in Deutschland zu reinen Schimpfworten der billigsten Sorte herabgestuft. Die deutschen Wortführer setzen an zu moralisierenden "Wort-Wasserfällen" (Michael Wolffsohn). Diese Ideologen erheben sich zu moralischen Weltmeistern, klappern, wo es unnötig ist, schweigen aber, wenn Deutsche mit Andersdenkenden entwürdigend verfahren.

Obwohl ich, genauso wie Benedict Neff, in Deutschland eine Rassismus-Hysterie beobachte, möchte ich nicht bestreiten, dass es tatsächliche Rassisten, Nazis und Islamfeinde gibt. Sie bilden aber nur eine Minderheit. Was ich beanstande, ist die Art und Weise, wie im links-grünen Narrativ diese verabscheuenswürdigen Europäer aufgebauscht werden, dermaßen, dass mancher Idiot vom "präfaschistischen Deutschland" spricht. 

Mein jüdischer Freund und Mitstreiter Michael Wolffsohn hat in seinem sehr bemerkenswerten, in der Welt veröffentlichten, Artikel "Wir schaffen es nicht", eine "neudeutsche Krankheit", die er "Wirklichkeitsschwund" nennt, beobachtet. Der Fall Özil belegt das. Ich, als ein in Deutschland lebender Fremder, staune, wie die deutschen Links-Grünen, die die Deutschen des Rassismus bezichtigen, auf Erdogan aber mit Schweigen reagierten, als dieser Özil medial die Liebeserklärung – "Ich küsse deine Augen" – übermittelte, als Danksagung für AKP-Dienste.

Doch zurück zum Thema des Zerfalls politischer Kultur in Deutschland, ja, generell in Europa. Zu den größten zivilisatorischen Errungenschaften Europas gehört die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, die heute massiv beschnitten wird. Die größten Feinde Europas sind, wie ich in dieser Zeitung bereits einmal schrieb, die Links-Grünen. Eine Reihe seriöser Autoren beobachtet mit Sorge den hier angesprochenen Zerfall des westlichen Liberalismus. Ich möchte zwei Bücher hervorheben: „The Retreat Of Western Liberalism" von Edward Luce und „The Strange Death Of Europe" von Douglas Murray. 

Berliner Verdienstorden für islamistischen Imam

Warum tun das die Links-Grünen, die sich selbst als Progressive zelebrieren? In einem interessanten Essay unter dem Titel „Die totalitäre Versuchung" von Lucien Scherrer in der NZZ vom 6.1.2018 schlägt er folgende Antwort vor: Eine Clique errichte "zwecks Förderung des Fortschritts und der Moral eine Diktatur (…). Die angeblich progressiven Geister (erliegen der) Versuchung, sich zum Weltrichter aufzuschwingen, um politische Gegner in einem Akt berechtigter Notwehr zu erledigen." Der Einsatz der Rassismus-, Nazi- und Islamophobie-Keule gehört zu den Waffen, die dabei eingesetzt werden. Der idealisierte Fremde, Flüchtlinge und Muslime als Opfer der Juden werden bei diesem schmutzigen Geschäft instrumentalisiert.

Als syrischer Muslim, der nach Europa migriert ist, habe ich liberale Demokratie nicht durch die Werke meiner Frankfurter Lehrer Adorno und Horkheimer, sondern durch John Stuart Mill "On Liberty" und Karl Popper „The Open Society And Its Enemies" kennengelernt. Von Mill habe ich gelernt, "gegen Tyrannei der herrschenden Meinung" zu sein, und von Popper übernahm ich die Idee, man dürfe Intoleranz der Feinde der offenen Gesellschaft nicht im Namen der Toleranz dulden.

Mich befremdet, wie heutige europäische Meinungsträger gegen diese liberalen Werte steuern. Das islamische Scharia-Recht ist freiheitsfeindlich, die Opposition dazu wird jedoch in Europa als Rassismus verfemt. Und wer Islamismus kritisiert, riskiert, der Islamophobie bezichtigt zu werden. Es geht sogar so weit, dass radikal-islamische Organisationen in Deutschland ihre Arbeit aus dem Topf der Europäischen Union finanzieren. Hierüber informiert ein Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 18.6.2018. In Berlin verleiht sogar der umstrittene Oberbürgermeister Michael Müller einem islamistischen Imam den Berliner Verdienstorden. Der deutsche Romanautor Timur Vermes belustigt sich in der Welt vom 25.8.2018 über "Plüschtier-Reaktionen der Deutschen" in ihrem Umgang mit geflüchteten Fremden. 

Wer dies nicht tut, gilt als Rassist. Die ganze Welt schaut auf Deutschland und die dort gepflegte Kultur der Selbstanklagen; bestimmte Fremde instrumentalisieren den Kampf gegen Rassismus, um zu erpressen. Die türkische AKP und ihre Anhänger in Deutschland sowie andere Islamisten bieten hierfür ein Paradebeispiel. Das veranlasste einen Leitartikler der FAZ, am 2.8.2018 Folgendes zu fordern: Deutsche Politiker sollten "endlich aufhören, unter den Augen der Weltöffentlichkeit über jedes Rassismus-Stöckchen zu springen, das man ihnen hinhält."

„Andere Meinung nicht ablehnen, sondern ausmerzen“

Zum Schluss möchte ich noch einmal auf das, was Michael Wolffsohn im Titel seines Bild-Artikels vom 25.7.2018 "Özil und der Rassismus-Hammer" nennt, eingehen. Wolffsohn kritisiert jene Politiker, wie oben dargestellt, die über jedes "Rassismus-Stöckchen" springen und wirft ihnen vor, "geradezu fahrlässig" zu handeln. Dann fügt er folgende starke Worte hinzu: "Nicht jede Dummheit ist Rassismus, wenngleich umgekehrt Rassismus Dummheit ist. Gerade als Jude empört es mich, wenn jemand auf das neue Deutschland mit der Auschwitzkeule einschlägt … Gerade als Angehöriger der jüdischen Minderheit verbitte ich mir die Auschwitzkeule ebenso wie den Rassismus-Hammer gegen alle und jeden".

Im Ganzen geht es nicht nur um Meinungsfreiheit, sondern auch um Macht. In dem Essay "Der neue Meinungskrieg" schreibt Jacques Schuster in der Welt vom 21.7.2018, die Links-Grünen pflegen "die Meinung des Anderen nicht nur abzulehnen, sondern sie auszumerzen… mit der Wucht eines Grossinquisitors zu vertilgen".

Jedesmal, wenn ich Links-Grüne höre mit dem Anspruch, gegen Rassismus, Islamophobie kämpfen zu wollen, spüre ich, was dahinter steht: Machtgier. Ich finde hierbei Unterstützung von einer ehemaligen Bundesministerin, Kristina Schröder. In ihrem Welt-Essay vom 24.8.2018, "Der Kampf gegen rechts zielt auf die bürgerliche Mitte", führt sie aus, dass es jenen Linken, "die sich mit staatlicher Unterstützung tummeln, es tatsächlich darum geht, alles zu bekämpfen, was nicht links ist … Es geht darum, politische Überzeugungen der Mitte als illegitim im demokratischen Diskurs zu brandmarken." Die Quintessenz lautet: Bei den links-grünen deutschen moralisierenden Wort-Wasserfällen geht es nicht um einen Kampf gegen Rassismus und Islamophobie, sondern um einen Hegemonialanspruch.

In der New York Times-Rezension (23.6.2017) des zitierten Buches "The Retreat Of Western Liberalis" wird Autor Edward Luce mit diesem Satz zitiert: "Western liberal democracy is not yet dead, but it is far closer to collapse than we may wish to believe." Es wird hinzugefügt "The enemy from within." Mein Kommentar: Europa braucht eine neue Aufklärung.

Bassam Tibi ist emeritierter Professor für Internationale Beziehungen in Göttingen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Basler Zeitung.

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M. Bürgers / 13.10.2018

Lieber Bassam Tibi, ich finde Ihre Ausführungen sehr hellsichtig und möchte fast allem zustimmen. Dafür, dass Sie moralische Totschlagargumente nicht im Sinne der muslimischen Sache verwenden, sondern dies explizit ablehnen, haben Sie meinen vollen Respekt (und auch für Ihre Versuche, den Islam zu reformieren). Widersprechen möchte ich jedoch Ihrer Argumentation bzgl. Islamophobie / Islamfeinde. Man kann alleine auf Basis der Lektüre des Koran mit seinen zahlreichen Mordaufrufen mit Fug und Recht ein Verbot dieser menschenverachtenden Schrift fordern und infolgedessen ebenso ein Verbot des Islam. Moslems, die in diesem Land bleiben möchten, können ja gerne konvertieren – die anderen mögen bitte das Land verlassen und dann woanders Unfrieden stiften. Die meisten Moslems nehmen es ja ohnehin mit dem Islam nicht besonders ernst, dann können sie ja ebensogut konvertieren und eine Menge gesellschaftlicher und persönlicher Probleme auf einmal lösen. Das Wort “Islamismus”, das Sie benutzen, ist lediglich eine manipulative Fiktion, die vorgibt, dass muslimischer Terror, Mord an Andersdenkenden und Welteroberungsgelüste rein gar nichts mit dem Islam und dem Koran zu tun hätten. Es gibt allerdings mittlerweile immer mehr Menschen in diesem Land, die nun einmal den Koran lesen und sich verwundert die Augen reiben. Danach sind sie dann in der Regel “Islamfeinde”. Ich hätte auch eine persönliche Bitte an Sie: Wenn Sie konvertieren könnten (mir ist vollkommen gleichgültig, ob zum Buddhismus, Christentum, Judentum etc.!), könnten Sie mit Ihrem klaren Geist und Ihrem Wissen die politische Entwicklung in Deutschland positiv beeinflussen und ein inspirierendes Beispiel für andere sein. Der Euro-Islam wird die bestehenden Probleme jedenfalls nicht lösen, weil Sie die Macht des Koran nur brechen können, indem Sie ihm abschwören und ihn verbannen und als das brandmarken, was er ist: Das Handbuch für Völkermord, Terror und psychopathische Herrschaft. 

Klaus Metzger / 13.10.2018

Das, was Sie schreiben, findet IN Deutschland statt. Es ist aber nicht Deutschland. Es ist der Versuch Rot-Grüner Politiker, Intellektueller und Medienschaffender die Deutungshoheit über den politischen Diskurs zu erlangen. Es ist eine abgehobene Meinungsblase, mit der die meisten Menschen hier gar nichts anfangen können.

Wolfgang Kaufmann / 13.10.2018

2000 Jahre Herrschaft des Rechts, 500 Jahre Ewiger Landfrieden, 300 Jahre Aufklärung und 200 Jahre Demokratie haben die Menschheit zivilisiert. Nur 50 Jahre feministisches Bauchdenken setzen alles wieder zurück auf Null.

Wolfgang Kaufmann / 13.10.2018

Die Inhalte sind in der Tat austauschbar; es geht um die Diskurshoheit. Gestern war man für Gleichberechtigung und Gewaltfreiheit – und heute? Gestern war man für weniger Wachstum und weniger Konsum – heute fördert man massiven Zustrom aus extrem wachstumsfreundlichen und konsumfreudigen Kulturen. Wer hierin keine Widersprüche sieht, ist entweder iq-negativ oder verfolgt heimlich eine völlig andere Agenda.

Jens Breitenbach / 13.10.2018

Bei Äußerungen im Bezug auf Israel gibt es die - wenn auch etwas unscharfe - 3D-Kriterien, die einen antisemitischen Unterton erkennen lassen: Dämonisierung, Delegitimierung, Doppelstandards. Ist eines von den drei D vorhanden, kann man von einem antisemitischen Vorurteil ausgehen. - Man kann diese drei Kriterien aber auch genauso gut auf andere Äußerungen anwenden, etwa über Özil, um zu überprüfen, ob dort Rassismus oder Islamfeindlichkeit mitschwingt: Dämonisierung fand statt, als man Özil zum allein Verantwortlichen des blamablem WM-Ausscheidens der deutschen Nationalmannschaft machte - nicht etwa den gesamten Angriff, der die schlechteste Torausbeute überhaupt aufwies, nicht den Bundestrainer, dessen taktisches Konzept nicht aufging. Delegitimierung fand sich in jedem Zeitungsartikel, in dem Özil als “Deutschtürke” (und nicht etwa als “Deutscher mit türkischen Wurzeln”) bezeichnet wurde (nebenher: waren Klose und Podolski für die Presse nur “Deutschpolen”?) - Und die Doppelstandards waren wunderbar zu besichtigen, als Podolskis Salutieren vor der türkischen Flagge nur ein kurzes Lüftchen im Blätterwald verursachte und Matthäus’ Fotoshooting mit Putin als offizieller Auftritt verbrämt wurde. - So weit, so Rassismus. Der islamfeindliche Unterton kommt hinzu, wenn man zusätzlich die Kommentare in Betracht zieht, als Özil ein Foto von sich als Pilger ins Netz stellte. Ich kann mich zumindest nicht erinnern, dass es vergleichbare Aufschreie gegeben hatte, als weiland Boris Becker oder Steffi Graf auf Pressefotos zu sehen waren, als sie dem Papst die Hand drückten. (Gut… bei Becker gab es einen leisen Aufschrei, aber nur deshalb, weil das Sponsorenlogo auf seinem Geschenk für den Pontifex zu gut zu sehen war.)

Rüdiger Solf / 13.10.2018

Sehr geehrter Herr Tibi, ich stimme Ihnen zu 100% in den durch Sie abgeleiteten Schlussfolgerungen und Bewertungen zu. In zwei Punkten habe ich jedoch Schwierigkeiten Ihnen zu folgen. Der erste Punkt wäre der Vowurf des Rassimus Herrn Münkler gegenüber der Aussagt, dass Sie durch die Politikwissenschaft “irrlichtern”. Sie selber definieren Rassismus in Ihren Artikel folgendermaßen: “Rassismus liegt vor, wenn Menschen als Kollektiv in eine niedriger gestellte Rasse eingeordnet werden und auf dieser Basis nicht nur entwürdigt, sondern auch dehumanisiert werden.” Weder Herr Münkler noch die Kritik an Özil waren nach dieser Definition rassistisch. Dass Herr Münkler mit der Bewertung des “irrlichtern” falsch liegt, dem vermag ich zuszustimmen und es als undifferenzierte Kritik und Polemik gelten lassen, aber auch in diesem Ihren Fall sollte man die Rassismuskeule nicht schwingen. Im Weiteren kann ich Ihnen nicht zustimmen dass Sie den Begriff Islamophobie durch Islamfeindlichkeit ersetzt sehen möchten, da der zweite die Situation besser beschreibe. Beide Begriffe machen für mich in der Debatte keinen Sinn da sie entstellend genutzt werden. - Islamophobie wird gem. der Definition als Angststörung genutzt, eine krankhafte und unbegründete Ablehnung des Islam, die dann in eine pauschalisierte Ablehnung der Muslime mündet. - Islamfeindlichkeit als eine Kategorisierung von Muslimen zu definieren zielt in die gleiche Richtung. Auch hier wird aus der Ablehnung einer Religion eine Ablehnung des Individuums konstruiert. Beide Begriffe sollten in der Debatte nicht genutz werden, da sie verbrannt sind und darauf abzielen eine notwendige Kritik an einer Religion zu unterbinden und diese in die dann in die Nähe des Rassismus zu bringen (Muslime werden entwürdigt). Ansonsten Danke ich Ìhnen für Ihre Artikel und offenen Worte, die in der jetzigen Situation notwendiger denn je sind. Mit freundlichen Grüßen

Lutz Herzer / 13.10.2018

Ein grundsätzliches Problem besteht darin, dass Begriffe wie “Nation” und “national” von vielen Linken heute noch so verstanden werden, wie deren Bedeutung von den Nationalsozialisten durch die damalige Rassenlehre geprägt worden ist. Mittlerweile sind wir jedoch in der Lage, diese Begriffe frei von Rassismus zu definieren, man braucht sich dazu nur die Fussball-Nationalmannschaften anzuschauen. Ein Nationalbewusstsein ist nicht mehr abhängig von Hautfarbe oder Migrationshintergrund. Eine Nation ist eine Interessengemeinschaft von Staatsbürgern, die über ein Territorium verfügt, innerhalb dessen eine Rechtsordnung gilt. Nur moderne Rechtsordnungen mit territorialem Gültigkeitsbereich sind zur Zeit eine Grundlage für Frieden. Eine weltweit einheiltliche Verwaltung mit gleichen Rechten für Alle kann dies nicht bewirken, da die Ausübung hoheitlicher Gewalt nicht mehr demokratisch legitimierbar wäre und die entstehende Kumulation von unkontrollierbarer Macht unweigerlich zum Missbrauch führen würde. Der Interessenskonflikt zwischen natürlichen Personen und mächtigen juristischen Personen, wie z.B. Banken, Konzernen oder Religionsgemeinschaften, würde noch mehr Schlagseite bekommen als dies ohnehin schon der Fall ist. Ein Teil der Linken scheint diese einfachen Zusammenhänge leider nicht verstehen zu wollen und lässt sich auf dem Feldzug gegen Nationen vor den Karren der Mächtigen spannen.

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