Dirk Maxeiner / 11.04.2016 / 12:29 / Foto: USDE / 19 / Seite ausdrucken

Der Zauberlehrling Jan Böhmermann

Vor unser aller Augen entfaltet sich derzeit ein schönes Beispiel dafür, wie sich ein scheinbar kleiner Anlass plötzlich zu einer Staatsaffäre ausweitet. Da war zunächst ein harmloses, satirisches Liedchen, das der NDR ausstrahlte – und das Herrn Erdogan und seine Entourage offenbar bis aufs Messer reizte (altes deutsches Sprachbild, insofern unschuldig). Der deutsche Botschafter wurde einbestellt, was dieser unvorsichtigerweise nach außen kommunizierte. Der Fall machte eine Menge Radau und inspirierte  Jan Böhmermann dazu noch eine Schippe draufzulegen. Mit seinem Brutalo-Gedicht griff er maximal ins Gemächt des Sultans vom Bosperus, aber gleichsam mit Ansage. Eine Satire auf die Satire sozusagen.

Doch dann passierte etwas, womit auch Böhmermann, der vielleicht auch nur ein bisschen Aufmerksamkeit abgreifen wollte, wohl nicht gerechnet hatte. Er ist ja eigentlich einer von den „Guten“ - und bislang eher auf wohlfeilen Widerstand gegen das meist rechtsdrehende „Böse“ abonniert. Kostet nix und man hat die Lacher des politisch korrekten Betriebes zuverlässig auf seiner Seite. Das ist diesmal anders.

Die Türkei fordert jetzt die Bestrafung des Fernseh-Menschen. Die Lacher von der politisch korrekten Seite sind eher verhalten. Und Böhmermann selbst weiß offenbar auch nicht so richtig, wie er mit der Sache umgehen soll, jedenfalls schweigt er. Statt dessen solidarisieren sich Persönlichkeiten wie Springer-Chef Mathias-Döpfner mit ihm – und zwar Wort für Wort. 

Frau Merkel, die sich bislang stets auf ihre Öffentlich-Rechtlichen verlassen konnte, hat jetzt ein veritables Problem. Der vorauseilende Gehorsam, mit dem der Böhmermann-Beitrag entfernt wurde, brachte die Sache ja erst richtig in Schwung. Und die Erdogan-Truppe fordert gewissermaßen die Abschaffung  der deutsche Presse- und Meinungsfreiheit – wobei Böhmermann die Rolle der Musterleiche spielen soll.

Stößt die Bundeskanzlerin jetzt Erdogan vor den Kopf oder Böhmermann - und mit ihm einen Großteil der deutschen Medien-Landschaft, das größte Verlagshaus der Republik eingeschlossen? Das wird ein lustiger Eiertanz. Sogar die „Lügenpresse“-Skandierer sind ob der Berichterstattung der Medien quer über alle politischen Lager verunsichert. Zeigt sich hier in einer verminten Auseinandersetzung um das künftige Deutschland womöglich ein bisschen "common ground"? So nach dem Motto: Bis hierher und nicht weiter?

Böhmermann ist in kürzester Zeit zu einem Symbol geworden. Und er ist als solches nicht mehr hilfreich. Eine Tretmine für Frau Merkel. Dass ausgerechnet er derjenige sein würde, der die Verlogenheit der deutschen Türkei-Politik  (und damit auch der deutschen Flüchtlings-Politik) so offenkundig machen würde, hat er wohl selbst nicht geahnt. Und vielleicht auch nicht gewollt.

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Lara Berger / 11.04.2016

Der Text des Gedichts von Böhmermann ist, meiner Meinung nach, durchaus sehr beleidigend. Aber er hat es sehr raffiniert in eine Demonstration dessen, was streng verboten ist, gekleidet. “So etwas” dürfe man niemals und unter keinen Umständen sagen oder sonstwie verbreiten. Der Inhalt war zweifellos purer Gossenjargon. Es war eine Provokation. Und der Sultan vom Bosporus ist promt darauf angesprungen wie der Pawlowsche Hund. Böhmermann hat Erdogan vorgeführt wie einen Stier am Nasenring. Und Böhmermann hat Merkel gleich mit vorgeführt, die sich aufführte als wollte sie angstvoll jammern “mein Gott, was sollen bloß die Leute sagen?” Böhmermanns “verbotenes Gedicht” hat Merkel in eine Zwickmühle lanciert. Egal, was sie tut, es wird Nachteile haben. Ein “loose-loose” Situation gewissermaßen. Trotzdem ist die Freiheit der Meinung eine Voraussetzung für eine echte Demokratie. Und weil diese in letzter Zeit viel zu viel gerupft wurde, muß sie, besonders gegenüber dem türkischen Autokraten verteidigt werden. Deswegen erkläre ich mich auch solidarisch mit Böhmermann.

Jakob Rerich / 11.04.2016

Danke für diese Analyse, die meines Erachtens einige Dinge gerade rückt und vor allem auch Böhmermanns plötzlichen Wandel vom großmäuligen arroganten Rotzlöffel zum wehleidigen Weichei erklärt. Mit so viel Gegenwind und Problemen hat dieser staatsfinanzierte Schreihals sicher nicht gerechnet. Es ist eine merkwürdige Ironie, dass ausgerechnet dieser bislang unantastbare Besser-Mensch diese Regierung in solche Schwierigkeiten bringt.

Waldemar Undig / 11.04.2016

Es sollte jede Woche ein neues Lied oder Gedicht über Erdogan rauskommen!

Werner Geiselhart / 11.04.2016

Sehr amüsant, das Ganze. Ein Jan Böhmermann, dem es eigentlich Herzenssache ist, die sogenannten Rechten vorzuführen, bewegt sich derzeit im Nirgendwo. Rechts sind für ihn auch Leute, die vor Typen wie Erdogan gewarnt haben. Einem Erdogan, der sich Einmischung in innere Angelegenheiten der Türkei verbietet, bei seinen Propagandashows in Deutschland aber seine (Ex)-Landsleute zur “Assimilations”-verweigerung auffordert. Ich selbst halte Böhmermann für einen selbstgerechten Verarschertypen, der selbst nicht genau weiss, wass seine Aktionen eigentlich sollen, sondern vielmehr auf Interpretationen durch die Internet-Gemeinde wartet. Das “Niveau” von Böhmermanns Gedicht erreicht nicht einmal dasjenige von Kritzeleinträgen auf Kneipen-Pissoirs, auch hier warten wir auf Interpretationen von Wissenden aus dem Internet. Nichtsdestotrotz ist es ein unglaublicher Vorgang, wenn sich die Regierungschefin eines freiheitlichen Rechtsstaats ans Anschwärzen macht und die Meinungsfreiheit in bestimmten Bereichen nicht mehr als vorhanden betrachtet. Beginnend mit dem Energiewende-Desaster von 2011 erinnert mich diese Frau immer mehr an einen Kapitän auf einem Seelenverkäufer, der beim Anblick von 15m-Wellen die Parole “Wir schaffen das” ausgibt, wobei die halbe Mannschaft trotz Erkennen der Gefahr mitzieht.

Frank Schöpe / 11.04.2016

Man muß diesem untauglichen und dämlichen Ablenkungsmanöver ( Beweis: Döpfners Solidarisierung) zur Ablnekung von der Unterstützung Von Daesh/ IS durch die Türkei, Saudies, Quatar keine wietre Aufmerkssmkeit geben. Weshalb wird die Unterstützung des IS, Öllieferungen, Korruptionsvorwürfe gegen Bilal Erdogan (Ausweisung aus Italien wg. mutmaßlichen Geldwäscheverdacht etc.) nicht thematisiert. Diese Böhmermann- Nummer erscheint doch reichlich inszeniert, um den antiziperten und tasächlichen gegenwärtigen udn künftigen Druck im Kessel der “sog. Volksseele” zu ventilieren. Frei nach dem Motto: “Wir decken auf, was die bösen Reichen mit euch machen. Wir sind keine Lügenpresse!” Man schaue sich diese schwache, unkritsich ängstliche “sog. Moderation” einer Frau Will zu diesem Thema an. Wenn das Journalismus sein soll, heiße ich Heinz. Panama ebenda!

Eberhard Franzke / 11.04.2016

Fräulein M´s Einlassung, das “Gedicht” sei “bewusst verletzend”, erinnert fatal an ihre Vorabbewertung von Herrn Sarazzins Buch als “nicht hilfreich”. Privat mag sie dies meinetwegen äußern, aber nicht in ihrer Funktion als BK. Was mich darüber hinaus irritiert: zahlreiche Journalisten, Kollegen usw. haben die Qualität des Schmähgedichts als bescheiden bewertet - Herr Böhmermann habe schon bessere Texte abgeliefert. Meiner Meinung nach verkennt diese Beurteilung, daß das Gedicht bewußt (wie angesagt) als Beispiel einer unerlaubten, reinen Schmähung innerhalb des Zwiegesprächs gedacht war. Es _mußte_ derart überzogen, dümmlich und sprachhandwerklich dilletantisch formuliert sein -  als Karikatur einer echten Schmähkritik. Herr Böhmermann als “Musterleiche” - hoffentlich nicht: mutige Satiriker, Kabarettisten, Komiker und passende Sendeformate brauchen wir heute und künftig mehr denn je!

Peter Bereit / 11.04.2016

Man könnte durchaus der Meinung sein, der türkische Staatspräsident hätte alle möglichen Schmähungen verdient, betrachtet man seine Politik nach innen und außen. Doch muss es derart primitiv sein? Es grenzt an Lächerlichkeit, dieses “Werk” zur Satire oder gar zum Kunstwerk hochstilisieren zu wollen. Es lässt sich eigentlich mit wenigen Worten sagen. Aus Kacke wird keine Schokolade. Im Öffentlich rechtlichen Fernsehen, das ich mitfinanziere, erwarte ich mehr Intellektualität. Jede Talk-Show über diesen Mist ist überflüssig.

Martin Wolff / 11.04.2016

Ja, genau so ist es! Merkel befindet sich in einer lose-lose Situation. Ein Dilemma, das genau auf den wunden Punkt abzielt. Es ist wunderbar, ich werde durchströmt von tiefer Schadenfreude.

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