Von Wolfgang Münchau.
Der Westen hat mit kurzfristigem Erfolgsdenken seine Strategien verspielt – und damit seine Vormachtstellung. China und Russland können diese Schwäche bereits klug nutzen.
Schachspieler von Weltrang kennen den Unterschied zwischen Strategie und Taktik weit besser als Politiker. Um beim Schach gewinnen zu können, muss man eine Strategie haben – einen langfristigen Plan, der einen in eine überlegene Position bringt. Dann schließt man mit einer Reihe von taktischen Zügen ab. Ganz wie Max Euwe, der niederländische Schachgroßmeister der 1930er Jahre, einmal bemerkte: „Strategie erfordert Denken. Taktik erfordert Beobachtung.“
Im Westen dreht sich alles um Taktik. Im Osten dagegen geht es hauptsächlich um Strategie. Man braucht beides, denn selbst die brillantesten kurzfristigen Züge ergeben noch keine Strategie. Schauen Sie sich einfach die Geschichte der US-Militärinterventionen seit dem Zweiten Weltkrieg an. Jede dieser Interventionen hatte ihre kurzfristigen Gründe, auch die im Irak. Aber haben sie die USA sicherer gemacht? Hat es die Welt sicherer gemacht? Hat das überhaupt Demokratie gebracht? Ist irgendjemand dadurch zivilisierter geworden?
Israels Schlag gegen den Iran ist der klassische Fall eines Kompromisses, bei dem ein kurzfristiges taktisches Manöver auf Kosten einer auf lange Sicht schwächeren strategischen Position erkauft wird. Ich bin nicht der erste Kommentator, der feststellt, dass Israels Angriff auf den Iran taktisch erfolgreich sein wird, möglicherweise sogar mit sensationellem Erfolg, aber er wird das iranische Atomwaffenprogramm nicht nachhaltig aufhalten. Jeder zukünftige iranische Strategieplaner wird aus der letzten Angriffsserie logischerweise den Schluss ziehen, dass der Iran die Bombe unbedingt braucht. Andere Länder in der Region könnten das auch denken. Übrigens bedauert die Ukraine heute am meisten, dass sie einst zugestimmt hat, ihre Atomwaffen aus der Sowjetzeit abzuschaffen. Hätte das Land sie behalten, würde Putin wahrscheinlich nie angegriffen haben.
Unabhängig von westlichen Zwängen
Der Mangel an strategischem Denken spielt eine wichtige Rolle für den Niedergang des Westens. Das größte strategische Eigentor von allen ist, China und Russland näher zusammenzubringen – und zusätzlich den Iran näher an beide. Diese Länder bilden kein Bündnis im westlichen Sinne. Was sie gemeinsam haben, ist ein übergeordnetes strategisches Ziel – unabhängig von westlichen Zwängen zu werden.
Unsere Sanktionen und Verbote, unsere Kriege und Stellvertreterkriege haben das Gegenteil von dem bewirkt, was wir eigentlich beabsichtigt hatten. Einige davon, vor allem die Sanktionen, sind taktisch gescheitert. Russland ist über den Westen hinausgewachsen und hat sich auf eine Kriegswirtschaft verlegt, mit der die Europäer nur schwer Schritt halten können. Der folgenreichste Fehler dieser Politik war jedoch strategischer Natur: Die Finanzsanktionen haben China und Russland dazu veranlasst, ein gemeinsames Zahlungssystem zu entwickeln.
Bis vor einigen Jahren noch hing die Finanzwelt vom US-Dollar und der vom Westen kontrollierten globalen Zahlungsinfrastruktur ab. Ein Teil dieser Infrastruktur war Swift, ein in Brüssel ansässiges Unternehmen, das die wichtigsten Netzwerke bereitstellt, über die internationale Banken kommunizieren. Als Russland in die Ukraine einmarschierte, bestand eine der ersten Maßnahmen der westlichen Regierungen darin, einige russische Banken von Swift abzuschneiden, so dass sie keine Transaktionen mehr durchführen konnten. Der Westen fror auch russische Finanzanlagen ein, von denen ein großer Teil in Tresoren in Belgien lagert. Russland wurde im Wesentlichen von den globalen Finanzmärkten ausgeschlossen.
Brics Pay ist sanktionssicher
Das Ergebnis dieser Sanktionen ist nun, dass Russland, China und andere Länder ihre eigene parallele Finanzinfrastruktur entwickelt haben, deren erster Teil Brics Pay genannt wird. Brics steht für Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Der Name „Brics“ entstand vor 25 Jahren als Abkürzung, um die fünf aufstrebenden Volkswirtschaften zu bezeichnen, die damals das größte Potenzial zum Erfolg hatten. Inzwischen ist die Gruppe auf zehn Länder angewachsen und umfasst nun auch Indonesien, Saudi-Arabien, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und den Iran. Sie sind mit der NATO oder der Europäischen Union nicht zu vergleichen, Indien gilt hier eher als Sonderling. Was sie alle gemeinsam haben, ist der Wunsch, von westlichen Infrastrukturmonopolen unabhängig zu sein.
Zahlungssysteme sind für den Finanzkapitalismus das, was Klempnerarbeiten für die Wasserversorgung sind – etwas, über das wir erst nachdenken, wenn wir ein Problem damit haben. Das westliche Zahlungsmonopol macht es den USA und Europa überhaupt erst möglich, Finanzsanktionen zu verhängen. Aber Finanzsanktionen sind wie der Kuchen, den man entweder haben oder essen kann. Wenn man anfängt, seine Monopolmacht zu missbrauchen und zu viele Länder mit Sanktionen belegt, gibt man auch einen Anreiz, aus dem System auszubrechen.
Brics Pay wurde von Wissenschaftlern der Staatlichen Universität Sankt Petersburg entwickelt. Es funktioniert anders als westliche Zahlungssysteme. Brics Pay ist dezentralisiert. Es hat keinen Knotenpunkt, keinen Eigentümer. Es basiert auf der gleichen Technologie wie Kryptowährungen – auf der Blockchain-Technologie. Brics Pay ist sanktionssicher. Kein Mitglied kann ein anderes Mitglied sanktionieren. Das ist strategisches Denken: Wenn man sich von den USA unabhängig machen will, ist es das Klügste, mit dem Zahlungssystem zu beginnen.
Anderen ihren Willen aufzwingen
Ich habe den Respekt vor nahezu jedem einzelnen Russland- oder China-Experten in renommierten Denkfabriken verloren, weil sie genau dieses Schlüsselelement der Strategie Chinas und Russlands immer wieder falsch eingeschätzt haben. Sie erzählen uns immer noch, dass sich China und Russland niemals verbünden werden oder dass China eingreifen und Putin vom Einsatz einer Atombombe abhalten würde.
Die Fehleinschätzungen setzen sich auf nahezu allen Ebenen fort. Die vorherige US-Regierung hat die Dynamik des Halbleiterverbots falsch eingeschätzt, mit dem sie hoffte, China noch eine Weile im digitalen Mittelalter zu halten. Sie zeigte sich überrascht, als es dem Technologieunternehmen Huawei gelang, einen eigenen hochmodernen Chip in eines seiner neuesten Smartphones einzubauen. Das Halbleiterverbot ist solch ein klassischer Fall für die unbeabsichtigten Folgen von Sanktionen. China hat jetzt gelernt, wie man Halbleiter herstellt, und die Russen haben gelernt, wie man ein Zahlungssystem aufbaut.
Die Beamten im US-Außenministerium betrachten den Dollar als politische Waffe, mit der sie anderen ihren Willen aufzwingen können. Sie wurden von Makroökonomen schlecht beraten, die ihnen immer sagten, dass keine andere Währung der Welt den Dollar jemals herausfordern könnte. Sie erzählen nie die ganze Geschichte: Richtig ist, dass keine andere offizielle Währung den Dollar herausfordern wird. Der Euro war anfangs die zweitgrößte Währung der Welt, was die Devisenreserven angeht, und wurde nun vom Gold auf den dritten Platz verdrängt.
Sie feiern jeden taktischen Sieg – und gewinnen niemals Kriege
Der Fehler bei dieser Betrachtungsweise liegt darin, dass sie die wahre Bedrohung nicht erkennen will. Diese geht von alternativen Zahlungssystemen, Kryptowährungen und Blockchain-Technologien aus, die es anderen Ländern ermöglichen, sich von den USA abzukoppeln, ohne dass sie neue eigene Währungen schaffen müssen. Makroökonomen leben immer noch in der Welt des Fiat-Geldes und der Zentralbanken – alles Schöpfungen der modernen Industriegesellschaft. Aber China und Russland verändern das Spiel. Ab jetzt geht es nicht mehr um Fairplay.
Das Problem mit unseren Fehleinschätzungen ist, dass es keinen Korrekturmechanismus gibt. Wenn Sie ihr Geld an der Börse anlegen, sorgen Ihre Fehleinschätzungen für Verluste. Sie können also nicht ständig alles falsch machen und erwarten, dass sie dabei zahlungsfähig bleiben. Das ist in der Außenpolitik allerdings nicht der Fall. Denn die Leute, die ständig Fehleinschätzungen abgeben, sind nicht dieselben, die am Ende den Preis dafür zahlen. Das ist auch der Grund, warum dysfunktionale Wirtschaftstheorien weiterbestehen bleiben, selbst wenn es keine empirischen Beweise für sie gibt. Ökonomen, Beamte des Außenministeriums und Journalisten leben in einem Raum der sich gegenseitig verstärkenden Fehleinschätzungen. Sie feiern jeden taktischen Sieg – und gewinnen niemals Kriege.
Der Westen hatte einmal eine Strategie, die uns überhaupt erst in die Lage versetzte, eine Überlegenheit zu erlangen. Sie hatte ihren Ursprung in der Wissenschaft und wurde stets durch kluge politische Entscheidungen auf ein höheres Level gehoben. Aber das ist alles schon lange her. Der Zweite Weltkrieg war der Beginn einer atemberaubenden Reihe von Innovationen, die mit dem Manhattan-Projekt begannen und von der US-Armee mitfinanziert wurden: der Transistor, der Halbleiter, der integrierte Schaltkreis, der Personal Computer, das Internet und jetzt die KI. Es waren Technologien, die dem Westen immer einen strategischen Vorteil verschafften. Die europäische Integration gehörte noch zu dieser Kategorie großer strategischer Schritte, bis sie sich mit der EU-Erweiterung schließlich in ein ausuferndes Chaos verwandelte.
China ist dabei, eine Führungsrolle zu übernehmen
China unternahm nacheinander zwei große strategische Schritte. Der erste war die Politik der wirtschaftlichen Modernisierung durch Deng Xiaoping, der 1978 an die Macht kam. Wie der niederländische Historiker Frank Dikötter in seinem Meisterwerk China After Mao erklärt, hat der Westen Dengs Reformen als Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus falsch eingeschätzt. Das eigentliche Ziel bestand darin, den Kommunismus besser funktionieren zu lassen. Dengs Reformen waren ein langfristiges Projekt. Seine Reformen begannen in den 1980er Jahren und wurden von seinen Nachfolgern fortgesetzt. Als er 1997 starb, befand sich China noch in einem frühen Stadium der Industrialisierung. Heute ist das Land eine der fortschrittlichsten Industrienationen der Welt.
Der zweite wichtige strategische Schritt Chinas war Xi Jinpings Entscheidung, kritische Rohstoffe wie Seltene Erden zu nutzen, um China zum unverzichtbaren Produzenten der Welt zu machen. Die USA genießen zwar noch immer die Früchte der digitalen Revolution. Aber sie sind nicht mehr allein. China ist dabei, auch in diesem Bereich eine Führungsrolle zu übernehmen.
Einem Bericht der Stanford University zufolge veröffentlicht China mehr KI-Forschungsarbeiten als jedes andere Land der Welt. Der große Preis im Bereich der KI wird an diejenigen gehen, die sie zur Schaffung einer KI-gestützten Fertigung nutzen können: Fabriken, die von intelligenten Robotern bedient werden und mit großen Datenzentren verbunden sind, die den Produktionsfluss optimieren. Das, was als Industrie 4.0 bekannt ist, benötigt immer noch Rohstoffe als Ausgangspunkt – China ist aber auch in diesem Bereich besser aufgestellt. Das nenne ich eine Strategie.
Wir sind die alternden Großmeister
Man kann sich eine Taktik als ein glänzendes Geschenk vorstellen, und eine Strategie als ein Geschenk, das sich immer wieder selbst erneuert. Wir Westler sind von unserer Neigung her eher taktisch als strategisch. Wir gehen gerne auf Tuchfühlung. Das ist nicht unbedingt etwas Schlechtes, solange man dabei eine zugrunde liegende Strategie hat.
Schachspieler wissen das. Einer der größten Schachgroßmeister aller Zeiten, der Amerikaner Bobby Fischer, sagte einmal: „Taktik ergibt sich aus einer überlegenen Position heraus.“ Der Westen hat diese überlegene Position verloren. Das gilt auch für Israel. Wir sind die alternden Großmeister der Geopolitik, die in Erinnerung an ihre einstige Vormachtstellung unbedingt noch eine letzte Partie spielen wollen.
Dieser Text erschien zuerst auf UnHerd.
Wolfgang Münchau ist UnHerd-Kolumnist und Direktor der Denkfabrik Eurointelligence.