Das Weltwirtschaftsforum (WEF) eröffnet in Kiew das weltweit zweite Global Government Technology Centre. Die Ukraine soll unter anderem der EU als Versuchslabor für die Einführung der Europäischen digitalen Identität und digitalen Brieftasche dienen.
Rund 20 Minuten dauert ein sehenswertes Video, das das Ministerium für digitale Transformation der Ukraine am 18. Dezember auf seinem YouTube-Kanal veröffentlicht hat. Anlass dafür war, dass das Weltwirtschaftsforum (WEF) gerade das weltweit zweite Global Government Technology Centre (GGTC) in Kiew eröffnet hatte. Das erste seiner Art wurde vom WEF, das sich als Sprachrohr der 1.000 führenden Unternehmen der Welt versteht, bereits im Oktober 2024 in Berlin eingerichtet – mit Unterstützung der Stadt Berlin und der deutschen Bundesregierung. Das Berliner Zentrum verbindet laut WEF „systematisch ein nationales GovTech-Innovationsökosystem mit einem globalen Netzwerk von Experten und Praktikern, um GovTech-Agenden auf der ganzen Welt zu informieren und zu inspirieren“.
Was heißt dieses Kauderwelsch im Klartext? Das „Global Government Technology Centre“ (zu Deutsch etwa: „Globales Regierungstechnologie-Zentrum“) ist Teil der „Centres for the Fourth Industrial Revolution“ (C4IR), also der „Zentren für die Vierte Industrielle Revolution“. Dieser Begriff ist zugleich auch der Titel eines Buchs von WEF-Gründer Klaus Schwab, in dem er bereits 2016 die „ungeheuer schnelle und systematische Verschmelzung von Technologien“ beschreibt, die „die Grenzen zwischen der physischen, der digitalen und der biologischen Welt immer stärker durchbrechen.“ Es geht dabei zum Beispiel um sogenannte „Wearables“ – also um Computertechnologien, die man am Körper trägt, wie etwa Smartwatches, Datenbrillen oder Fitness-Tracker –, um Künstliche Intelligenz und um das „Internet der Dinge“, in dem physische und virtuelle Objekte miteinander vernetzt werden, um sie durch Informations- und Kommunikationstechniken zusammenarbeiten zu lassen.
Letztlich steht die Idee des Transhumanismus dahinter, also die Optimierung des Menschen durch Verschmelzung mit der digitalen Sphäre. Wörtlich schreibt Schwab: „Wir stehen an der Schwelle einer technologischen Revolution, die die Art und Weise, wie wir leben, arbeiten und miteinander umgehen, grundlegend verändern wird. In ihrem Ausmaß, ihrer Tragweite und ihrer Komplexität wird dieser Wandel alles übertreffen, was die Menschheit bisher erlebt hat.“ Auch das Konzept der „Smart City“ als hypervernetzte Stadt, in der über allgegenwärtige Sensoren, Sicherheitskameras, QR-Codes und Kartenlesegeräte ständig Daten gesammelt, verarbeitet und ausgetauscht werden, gehört zur „Vierten Industriellen Revolution“. Dadurch könnten dann jedoch nicht nur beispielsweise „intelligente“ („smarte“) Beleuchtungen und Heizsysteme gesteuert, sondern auch ein engmaschiges Überwachungs-Netz etabliert werden.
Äußerst lukrative Geschäftsaussichten
Das erste Zentrum für die vierte industrielle Revolution (C4IR) wurde vom WEF übrigens 2017 in San Francisco ins Leben gerufen, kurz darauf folgten Zentren in Japan und Indien. Mittlerweile existieren C4IRs u.a. in Aserbaidschan, Brasilien, Kolumbien, Israel, Kasachstan, Malaysia, Norwegen, Ruanda, Saudi-Arabien, Serbien, Südafrika und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Das Global Government Technology Centre in Berlin wurde vom WEF zusammen mit dem schon 2021 installierten Berliner GovTech Campus eröffnet. Auf dessen Website ist allerdings nur die Rede davon, dass Deutschland Vorreiter bei der Entwicklung und Anwendung digitaler Technologien und Lösungen für die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung werden soll. Dabei soll es aber nun offenbar nicht bleiben. Das neue Zentrum in Deutschland soll künftig nämlich ausdrücklich als Drehscheibe für das globale GovTech-Netzwerk des WEF fungieren.
Dabei winken äußerst lukrative Geschäftsaussichten. So wird erwartet, dass sich die Regierungstechnologie zum größten Softwaremarkt der Welt entwickelt und bis 2028 eine Marktgröße von über 1 Billion US-Dollar erreicht. Und nun also Kiew. Dort sollen künftig ukrainische Startups durch die Zusammenarbeit mit internationalen Partnern Erfahrungen austauschen und digitale Reformen im öffentlichen Sektor weltweit beschleunigen. Außerdem soll das Kiewer Zentrum das „GovTech Observatory“ beherbergen: eine Plattform zur Verfolgung globaler und nationaler GovTech-Trends. Und durch die Schulungsplattform „FutureGov Education“ sollen Führungskräfte des öffentlichen Sektors aus aller Welt auf die Anpassung an die neuesten Technologien wie „digitale Zwillinge“ (digitale Repräsentanz eines Objekts aus der realen Welt in der digitalen Welt) und künstliche Intelligenz vorbereitet werden. Die Ukraine, die durch ein „Innovation Gateway“ globale Investitionen anziehen will, beabsichtigt, sich als internationaler Vorreiter für GovTech-Innovation und integrative digitale Transformation zu positionieren.
Die Videobeschreibung auf der YouTube-Seite des Ministeriums für digitale Transformation der Ukraine lautet denn auch entsprechend:
„Das Global Government Technology Centre in Kiew ist eine GovTech-Plattform für Innovation, digitale Reformen und globale Partnerschaften. Wir bringen Regierungen, Unternehmen und Start-ups zusammen, um den Wandel im öffentlichen Sektor voranzutreiben.“
Zunächst ist der WEF-Managing Director Mirek Dušek im Video zu sehen, der der Ukraine zur Eröffnung des GGTC Kiew gratuliert. Dann kommt der stellvertretende Ministerpräsident der Ukraine und Minister für digitale Transformation Mychajlo Albertowytsch Fedorow zu Wort, der jugendlich im T-Shirt auftritt und ein Loblied auf die Super-App Diia singt: Die mobile Anwendung Diia ermöglicht den Ukrainern schon jetzt den Zugang zu 14 digitalen Dokumenten (u.a. Personalausweis, biometrischer Reisepass, Studentenausweis, Führerschein, Kfz-Zulassungsbescheinigung, Kfz-Versicherungspolice, Steuernummer und Geburtsurkunde) sowie insgesamt 21 Dienstleistungen. Zum Beispiel können mit der Diia-App auch Schulden oder Bußgelder bezahlt werden.
Digitale Identität und digitale Brieftasche
Die Ukraine ist somit das erste Land, das einen digitalen Personalausweis ausstellt. Sie realisiert also bereits das, was die EU in den kommenden Jahren flächendeckend einführen will: eine digitale Identität und eine digitale Brieftasche, in der sämtliche Dokumente wie etwa auch Impfpässe und Reisepässe in digitaler Form zusammengeführt werden können (achgut berichtete). In Erinnerung an die Corona-Zeit bedarf es nur wenig Fantasie, um sich auszumalen, was zum Beispiel die digitale Kombination von Impf- und Reisepass im Zuge einer „gesundheitlichen Notlage internationaler Tragweite“ für die Reisefreiheit bedeuten könnte. Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass die Ukraine der EU als Versuchslabor für die Einführung ihrer Europäischen digitalen Identität und digitalen Brieftasche dienen soll.
Nach Fedorow beteuert die stellvertretende Ministerin für digitale Transformation der Ukraine Valeriya Ionan, die ebenfalls betont jugendlich im Sweatshirt daher kommt, überschwänglich, dass die Ukraine sehr stolz auf die neue Innovations-Plattform sei. Danach ist Zoya Litvin, die künftige Leiterein des GGTC Kiew, an der Reihe: Die Unternehmerin bekräftigt, dass das Zentrum die nächste Generation der digitalen Führungskräfte („digital leaders“) ausbilden will. Félix Baumann – der Schweizer Botschafter in der Ukraine – hebt daraufhin die digitale Expertise der Ukraine zum Beispiel auch im Bildungsbereich hervor.
Die Schweiz unterstütze bereits seit nahezu 10 Jahren die digitale Transformation der Ukraine. Mit dem EGAP-Programm wurden zum Beispiel Dutzende von elektronischen Diensten eingerichtet, darunter die automatische Registrierung von Einzelunternehmern, die Beantragung von Wohngeld und die Registrierung für humanitäre Hilfe. Und über das DEZA-Programm sollen im Zeitraum 2024 bis 2028 insgesamt 58,7 Millionen Franken für die Digitalisierung der Ukraine bereitgestellt werden, beispielsweise für die Digitalisierung des Gesundheitswesens, der Bildung, der humanitären Minenräumung und des elektronischen Notariats.
Zeichen, dass Hoffnung auf Ende des Krieges besteht?
Betreut wird das neue Global Government Technology Centre von der East Europe Foundation, einer Stiftung mit Sitz in Kiew, deren Geschäftsführer Victor Liakh ebenfalls ein Grußwort sprechen darf. Die Stiftung, zu deren Partnern u.a. Microsoft Ukraine zählt, unterstützt u.a. auch die Initiative „Digital Transformation Activity“ (DTA), die mit einer Investition von 150 Millionen US-Dollar auf die umfassende digitale Transformation der Ukraine abzielt. Das Projekt wird u.a. von der US-Behörde für internationale Entwicklung (USAID) finanziert. Das Video schließt mit einer Videobotschaft von Manuel Kilian, Managing Director des GGTC Berlin, der sich nicht nur darüber freut, nun ein Partner-Zentrum in Kiew zu haben, sondern der auch betont, dass digitale Technologien genutzt werden sollten, um Demokratien besser zu machen im Sinne sowohl der Gesellschaft als auch der Unternehmen.
Schaut man sich das Video unvoreingenommen an, gewinnt man unweigerlich den Eindruck, dass gerade alles bestens läuft in der Ukraine. Und so merkt ein Kommentator auf dem YouTube-Kanal des Ministeriums für digitale Transformation der Ukraine punktgenau an: „Müsst ihr nicht erst Frieden schließen? Ihr redet so, als gäbe es keinen Krieg.“ („Don't you need to make peace first? You're talking like there is no war.”) Vielleicht ist die Eröffnung des Global Government Technology Centre (GGTC) in Kiew aber tatsächlich ein Zeichen dafür, dass Hoffnung auf Ende des Krieges besteht. Denn das WEF geht offenbar davon aus, dass der Zeitpunkt gekommen ist, um Investoren für den digitalen Neuaufbau der Ukraine nach Kiew zu locken.
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.