Klassische Orchesterdirigenten sind eine ganz besondere Spezies, vor allem, wenn sie als „Stardirigenten“ gehandelt werden. Sie gelten als machtbewusst, zuweilen autoritär, wollen anderen ihren Stempel aufdrücken, wissen sich in Szene zu setzen und sind dazu weit überwiegend männlich und weiß. Außerdem widmen sich die meisten von ihnen einer Musik, die ebenfalls überwiegend von hellhäutigen und zu allem Überfluss deutschsprachigen Männern komponiert wurde. Und wenn einer von ihnen auch noch den Antisemiten Richard Wagner zu seinen Repertoire-Favoriten zählt und gar Musik des „Nazi-Komponisten“ Hans Pfitzner dirigiert, ist das eine toxische Kombination, die umgehend die Sittenwächter der Cancel Culture auf den Plan rufen muss.
Einer dieser verdächtigen Pultmatadore ist Christian Thielemann (62). Der gebürtige Berliner, der bei Herbert von Karajan studierte und zu den großen Klangzauberern der mittleren Generation zählt, steht im Ruf, einer der letzten Gralshüter des deutschen Orchesterklanges zu sein, einer in romantischer Tradition stehenden, dunkel grundierten, klangsatten Orchesterbehandlung und Interpretationspraxis, die weniger auf Analyse zielt als auf Überwältigung. Wer einmal von ihm Wagners „Tristan und Isolde“ gehört hat, weiß, wovon die Rede ist.
Doch Thielemann pflegt seine begeisterten Zuhörer nicht nur mit Klangorgien zu überrumpeln. Ihm liegen auch das Durchgehörte, die Zwischentöne, die feinen Abstufungen, wie man etwa seinen Schumann-Interpretationen anhören kann. Mit den Zwölftonkompositionen der klassischen Moderne und den mathematischen Geräuschexperimenten der zeitgenössischen Avantgarde hat Thielemann erklärtermaßen ebenso wenig am Hut wie mit außereuropäischer Musik.
An der Dresdner Semperoper, die lange Zeit als konservatives Flaggschiff des deutschen Opernbetriebs galt, hatte Thielemann am Pult der Sächsischen Staatskapelle, Wagners legendärer „Zauberharfe“ und bis heute eines der besten Orchester der Republik, ein gutes Auskommen. Zudem war er Musikchef der Bayreuther Festspiele, künstlerischer Leiter der Salzburger Osterfestspiele, die er seit 2013 mit seinen Dresdnern als Residenzorchester bestritt, und ist bei den ebenfalls als konservativ geltenden Wiener Philharmonikern ein gern gesehener Gast. Viel weiter kann man nicht kommen in seinem Gewerbe. Gerne wäre Thielemann wohl noch Chef der Berliner Philharmoniker geworden und damit ein später Nachfolger seines Idols Wilhelm Furtwängler, doch zog er 2015 gegen Kirill Petrenko, damals Musikchef der Bayerischen Staatsoper, den Kürzeren. Ein Grund war wohl, neben einer komplizierten Persönlichkeit, seine sehr eindeutige, manche sagen einförmige programmatische Ausrichtung.
Konflikt um die Corona-Maßnahmen an der Semperoper
Die Niederlage dürfte Thielemann mittlerweile verschmerzt haben. Doch es kam noch heftiger für ihn. Zuerst wurde er von Nikolaus Bachler, dem neuen Intendanten der Salzburger Osterfestspiele, ziemlich unsanft ausgebootet. Bachler, ein Mann des modernen Regietheaters, will das einst von Karajan gegründete Festival modernisieren und sah Thielemann dabei wohl als Hindernis. Ende letzten Jahres lief zudem sein Vertrag mit den Bayreuther Festspielen aus, ohne dass bislang von einer Verlängerung die Rede ist. Nun verkündete die sächsische Kulturministerin Barbara Klepsch (CDU), dass man auch in der Semperoper künftig auf Thielemann Dienste zu verzichten gedenke.
Zusammen mit dem Intendanten der Semperoper, Peter Theiler, soll Thielemann 2024 das Renommiertheater verlassen. „Wir sehen dabei das, was heute gut ist und denken trotzdem an das Übermorgen der Oper. Und eine Oper in zehn Jahren wird eine andere Oper als die Oper von heute sein: Sie wird teilweise neue Wege zwischen tradierten Opern- und Konzertaufführungen und zeitgemäßer Interpretation von Musiktheater und konzertanter Kunst gehen müssen.“ Überschrieben ist der angestrebte Kurswechsel mit „Perspektive Semper 2030“.
Erst jüngst hatte sich Thielemann mit Theiler einen Konflikt um die Corona-Maßnahmen an der Semperoper geliefert, was auch ein Grund dafür gewesen sein kann, nun beide zeitgleich in die Wüste zu schicken. Im Januar, als in Sachsen besonders hohe Infektionszahlen gemeldet wurden, wollte Thielemann Richard Strauss „Heldenleben“ in einer Besetzung mit hundert Musikerinnen und Musikern proben. Theiler sagte die Proben ab, worauf sich Thielemann öffentlich beklagte, „dass ein Orchester wie die Staatskapelle nicht spielen darf und dass es bei uns am Haus nicht mehr Anstrengungen gegeben hat, da etwas zu ermöglichen".
Aber hätte man nicht besser einen wenig profilierten Intendanten gehen lassen sollen als einen in aller Welt begehrten Ausnahmedirigenten? Offenbar wirkt sich jetzt in der sächsischen Kulturpolitik die Regierungsbeteiligung der Grünen aus, einer Partei, die mit den sperrigen Solitären besonders wenig anzufangen weiß und die Förderung partizipativer Basisprojekte einer als elitär geschmähten „Hochkultur“ vorzieht. Und die dem ebenso geschmähten Geniekult die schon von Joseph Beuys gepredigte Vision gegenüberstellt, wonach alles Kunst und jeder dazu berufen sei. Thielemann ist gewissermaßen die Antithese zu dieser Behauptung, auch wenn er sich gerne als einfacher „deutscher Kapellmeister“ sehen möchte, wobei hier, wie bei seiner demonstrativen Preußenverehrung, eine Portion Koketterie im Spiel sein mag.
"Weg zu einer dekolonialisierten, antirassistischen klassischen Musik"
Thielemanns verklausulierter Rausschmiss, der in der Musikwelt wie eine Bombe einschlug, kommt zu einem Zeitpunkt, da die Pflege der abendländischen Musiktradition auch in Deutschland, dem Land mit der immer noch bedeutendsten Orchester- und Opernlandschaft der Welt, zunehmend unter Druck der Diversitätsideologen gerät. Gerade erschien in der ZEIT ein langer Artikel, der den Kanon der klassischen Musik als im Kern rassistisch und patriarchalisch charakterisiert und ausführlich den umstrittenen US-Musikwissenschaftler Phil Ewell zu Wort kommen lässt. „Wir müssen anerkennen, dass der Kanon nicht Gott gegeben ist, sondern ein menschliches Konstrukt. (…) Definiert und geschrieben haben all das weiße Männer, die damit die Deutungsmacht ergriffen haben. Was sie definierten, gilt als ästhetischer Standard für die Musik - und er gilt als überlegen.“ White Supremacy in Reinkultur gewissermaßen.
Dabei geht es (noch) nicht in erster Linie darum, Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner und andere große Komponisten des bis in die USA und Südamerika ausgreifenden europäischen Musik-Kulturraums selbst als rassistisch, kolonialistisch oder patriarchalisch zu brandmarken und ihre Musik zu „canceln“. Er habe „kein Problem“ mit Beethoven, wird Ewell zitiert. „Ich habe nur ein Problem mit dem, was nach seinem Tod im Jahr 1827 passiert ist. Damit, so erläutert ZEIT-Autorin Hannah Schmidt, sei die Verschmelzung von Werk und Person zu dem gemeint, „was bis heute als Inbegriff des Genialen gilt und die westliche Kultur tief geprägt hat“.
Doch von der Infragestellung eines angeblich unmoralischen Geniekultes bis zur Eliminierung der betreffenden Werke, ist es nur ein Schritt. Die Herausforderung, so Schmidt, bestehe darin, „den Weg zu einer dekolonialisierten, antirassistischen klassischen Musik zu finden“. Dafür müssten, resümiert die Autorin gnädig, weiße Männer und ihre Werke nicht von den Spielplänen verschwinden. Es gehe vielmehr darum, hier wieder Ewell zitierend, „all denen, die aufgrund diskriminierender Strukturen bis heute weitgehend stumm geblieben sind, eine Bühne zu geben und damit klassische Musik in ihrem eigentlichen Reichtum abzubilden“.
Man muss als Klassik-Liebhaber darauf gefasst sein, dass in nicht allzu ferner Zukunft Beethovens „Fünfte“ von noch nie gehörten Werken eines noch nie gehörten Composers of Color oder namenloser Komponistinnen umrankt, mit aktuellem Hip-Hop gespiegelt oder Stücken des indischen Raga, des indonesischen Gamelan oder des türkischen Maqam kontrastierend gegenübergestellt werden. Bis endlich eine neue Generation von KlangschöpferInnen aus aller Welt diskriminierungsfreie Werke in ausreichender Zahl geschaffen hat, die das alte, Europa zentrierte Gerümpel ablösen können. „Mozarts „Zauberflöte“ wäre dann, so Schmidt, nicht länger die meistinszenierte Oper, „vielleicht bekäme sie endlich eine starke Konkurrenz“. Und, vielleicht, möchte man ergänzen, findet sich sogar ein Publikum dafür. Aber das spielt ja, wie auch wirtschaftliche Erwägungen, in den Betrachtungen der wackeren Gleichheitsfanatiker nur eine untergeordnete Rolle.
Seitenscheitel gegen eine Rastafrisur tauschen
An Theaterkonzepten und Spielplänen, die den neuen Vorgaben entsprechen, wird schon gearbeitet. Die Pariser Oper beispielsweise gab bei einem schwarzen Historiker und einer sozialistischen Schriftstellerin und Aktivistin eine Studie in Auftrag, wie künftig Diversität im Haus an der Bastille zu praktizieren sei. Als erste Konsequenz wurde schon mal das Black- oder Yellowfacing verboten. Immerhin wurde von den Studienautoren zunächst nicht gefordert, die Libretti von Opern wie „Turandot“, „Madame Butterfly“, „Aida“ oder „Otello“ umzuschreiben. Dafür sollen diese Werke nun mit begleitenden Broschüren oder Ausstellungen „kontextualisiert“ werden, um ihr potentiell rassistisches oder kolonialistisches Potential zu entlarven. Hierzulande läuft eine Aktion der Kulturstiftung des Bundes mit dem Titel „Diversität als Zukunftsfaktor“ hinaus. Ein Vorschlag beinhaltet etwa die Etablierung sogenannter Diversitätsagent*innen in Theatern- und Opernhäusern und anderen Kulturinstitutionen „auf Leitungseben“.
Zur Klarstellung sei gesagt: Es ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, wenn immer wieder Werke jenseits des etablierten und manchmal in der Tat fast zu Tode geschundenen Kanons den Weg in die Opern- und Konzertprogramme finden. Mitunter gelingt es tatsächlich, bislang unbekannte Werke aus den Archiven zu zerren, die es infolge ihrer Qualität verdienen, gehört und gesehen zu werden. Doch es steht zu befürchten, dass im Zuge einer musikalischen affirmative action mediokre Kunstwerke nur deshalb aufgeführt, mediokre Künstler nur deshalb engagiert werden, weil sie der gerade herrschenden Doktrin politischer Korrektheit entsprechen.
In der schönen, neuen Klassikwelt, dem von der sächsischen Kulturministerin beschworenen Übermorgen von Oper und Konzert, hätte ein Christian Thielemann natürlich nichts mehr zu suchen, selbst wenn er seinen Seitenscheitel (Achtung: Rechtsextremismusverdacht!) gegen eine Rastafrisur tauschen würde. Dass er bald unterbeschäftigt sein wird, ist allerdings nicht zu befürchten. Vielleicht ist er sogar ganz froh, wenn er sich, den Verpflichtungen eines festen Engagements ledig, nur noch mit dem beschäftigen kann, was ihm liegt und nicht in die Verlegenheit kommt, irgendwann ein „Klimakonzert“ dirigieren zu müssen. Und er hat vielleicht mehr Zeit, um sich gelegentlich in sein geliebtes Ostpreußen zurückzuziehen, das „so wohltuend unmodern ist“.
Sehr gerne übrigens würde man noch einmal hören, wie er Pfitzners Oper „Palestrina“ interpretiert. In seinen frühen Jahren als Dirigent hatte Thielemann zum Einstand als neuer Generalmusikdirektor der Nürnberger Oper das tief bewegende musikalische Porträt des Renaissance-Komponisten wieder ausgegraben und in den Feuilletons eine heftige Debatte darüber entfacht, ob dieses Werk eines für seine nationalistischen und antisemitischen Ausfälle berüchtigten Künstlers überhaupt noch gespielt werden dürfe. „Ist denn C-Dur nach zwölf Jahren Hitler anders zu hören als zuvor?“, hielt er seinen Kritikern entgegen. Doch er ließ nicht locker in seiner Liebe zur „dunkel grüblerischen“ Musik Pfitzners, präsentierte die Oper 1997 mit großem Erfolg im Londoner Opernhaus Covent Garden und später, auszugsweise, bei einem Papstkonzert in Rom. Thielemann trug mit dazu bei, Pfitzners hochwertige Musik zwischen Spätromantik und Moderne wieder hoffähig zu machen.
Ausgrabung funktionieren glücklicherweise auch andersherum.