Herbert Kickl ist mit seiner Partei, der FPÖ, zwar der größte Gewinner der Nationalratswahl, aber er darf nicht Kanzler werden. In Österreich wird die Brandmauer nicht um eine Partei errichtet, sondern um ihren Spitzenmann.
Wie nennt man das eigentlich, wenn man mehr oder weniger offen hämisch darauf hofft, dass ein Hochwasser, das viel Schaden anrichtet und bei dem Menschen zu Tode kommen, eine politische Wahl (doch noch) im gewünschten Sinne beeinflusst? Nicht nur in Österreich gaben die großen Medien im Wahlkampfendspurt deutliche Hinweise darauf, dass man den Freiheitlichen (laut Wikipedia: „eine rechtspopulistische, deutschnationale, EU-skeptische und rechtsextreme Partei“ hierzulande denkt man immer, die AfD sei schon der Goldstandard des Bösen in der „Enzyklopädie aus freien Inhalten“, bringt es die aber nur auf die Einordnung „rechtspopulistische und rechtsextreme Partei“) quasi zutraut, selber die Schleusen geöffnet zu haben (etwa hier). Auch die Qualitätsmedien des wachsamen deutschen Nachbarn liefen zu Hochform auf. Die gute alte FAZ war auf dem ihr seit einigen Jahren eigenen Niveau gar nicht mehr zu bremsen: „Während Österreich absäuft, leugnet die FPÖ den Klimawandel“.
Indes: Der österreichische Wähler, an den hier appelliert werden sollte, gab sich arg harthörig und bescherte der FPÖ bei der gestrigen Nationalratswahl das schon länger vorausgesagte Ergebnis. 29 Prozent, was einem Plus von sage und schreibe 13 Prozentpunkten entspricht. Damit ist die FPÖ stärkste Partei, aufgrund der bekannten Konstellationen ist dies aber nur bedingt als Sieg zu bezeichnen. Der durch das Ergebnis sichtlich angespannte und angeschlagene Karl Nehammer, der während der letzten Legislatur Kanzleramt und ÖVP-Führung von Sebastian Kurz (Was genau ist aus dem geworden? Warum hatte der ehrgeizige Top-Aufsteiger eigentlich so plötzlich alles fallengelassen?) übernahm, versuchte, den zweiten Platz seiner Partei, die am Ende auf 26,5 Prozent kam, als Erfolg zu verkaufen, schließlich habe er das Ganze in einem äußerst schlechten Zustand übernommen. Das überzeugte niemanden so recht.
Nehammers Regierung aus ÖVP und Grünen ist schlicht und einfach abgewählt worden. Die österreichischen Grünen brachten es bei einem satten Minus von 5,9 Punkten gerade mal noch auf 8 Prozent, die SPÖ schaffte es bei leichten Verlusten auf 21 Prozent. Der noch hilfloser als Nehammer wirkende Vorsitzende der Sozialdemokraten „Andi“ Babler sieht sich aber fest im Sattel, auch wenn seine Partei mit dem bisher schlechtesten Wahlergebnis erstmals nur auf Platz drei gelandet ist. Einziger Gewinner neben der FPÖ sind die NEOS („Freiheit, Fortschritt, Gerechtigkeit“), die sich um einen knappen Punkt auf 9 Prozent steigern konnten. Die NEOS verstehen sich als liberale, eher linksliberale Partei. Mit dem Gründungsjahr 2012 ist sie noch recht jung, im Unterschied zu der historisch auch einst aus der liberalen Wurzel gewachsenen deutschen FDP verfügt sie immerhin über klare, etwa sehr EU-freundliche Ziele. Andere Parteien, wie die Kommunisten (die in den Landesparlamenten der Steiermark und von Salzburg vertreten sind), die Bierpartei oder die Liste, die mit dem schönen Namen „Keine von denen“ auf dem Wahlzettel vertreten war, bleiben im Nationalrat außen vor.
Faires Gespräch im Fernsehen?
Fünf Parteien im Parlament, eine davon so böse, dass – eigentlich – niemand mit ihr zusammengehen will. Das kennt man aus Deutschland zu Genüge. Aber der Vergleich trägt nur bedingt. Ausdruck dessen ist bereits die Berichterstattung des ORF (eines öffentlich rechtlichen Senders!), die sich als fair, also schlicht und einfach normal darstellt, sowohl seitens der Moderatoren (die sogar kritisch nachhaken und auf der Beantwortung von Fragen bestehen) als auch im Umgang der – wenn auch mitunter heftig verfeindeten – Politiker untereinander. Die Unterstellung, außerhalb des demokratischen Spektrums zu stehen, scheint hier nicht so recht bekannt zu sein. Jeder darf ausreden und Angriffe parieren (und sich in gutes Licht setzen, natürlich). So etwas gibt es also doch noch, wenn auch – von hier aus gesehen – im Ausland.
Die österreichische Reizfigur heißt Kickl, Herbert Kickl, FPÖ-Spitzenkandidat, in der ersten Regierung Kurz einst österreichischer Innenminister. Vielleicht nicht so ganz aus der Welt, beansprucht er nun aufgrund des Wahlergebnisses das Kanzleramt. In seinen eigenen Kreisen heißt es über Kickl, hier sinngemäß ins Hochdeutsche übertragen: „Der trinkt nicht, der legt keinen Wert auf besondere Kleidung, der läuft Marathon – der meint es ernst!“ Das fürchtet die Gegenseite offenbar auch. Einen Koalitionspartner bräuchte die FPÖ. Da kommt jedoch lediglich die ÖVP infrage, die dafür zumindest in der Vergangenheit nicht abgeneigt war. Die Kanzler Schüssel (im Jahr 2000) und Kurz (im Jahr 2017) haben vorgelegt. Und so ganz verschlossen ist die ÖVP auch dieses Mal nicht, wie der geduldig konkrete Aussagen vermeidende Generalsekretär der „Türkisen“ („schwarz“ ist die ÖVP seit Kurz nicht mehr) Christian Stocker am Wahlabend deutlich zu erkennen gibt. Klangvoll die Tür zuschlagen wollte er nicht. Wenn da eben nicht die leidige Personalie Kickl wäre, auf die man sich eingeschossen hat, mit einem klaren „Mit-dem-nicht!“. Und schon gar nicht als Kanzler. Dass ein anderer FPÖ-Kanzler und vor allem die Juniorrolle für die ÖVP akzeptabel wären – schwer vorstellbar.
Nebenbei: Die FPÖ regiert zur Zeit in drei Bundesländern mit (Niederösterreich, Oberösterreich und Salzburg), seltsamerweise auf eine Art, die man landläufig als „geräuschlos“ bezeichnet.
Für einige Momente sah es am Wahlabend so aus, als ob – erstmals in der „Zweiten Republik“ – nicht einmal ÖVP und SPÖ über die absolute Mehrheit der Sitze verfügen würden. Die Sorge hat sich mit dem Endergebnis erledigt, man verfügt über 93 von 183 Sitzen. Nicht sonderlich komfortabel, aber es reicht für eine Verliererkoalition zu zweit. Auch die Sorge, sich mit den NEOS (so recht mag man die nicht, vielleicht auch, weil sie zu den Gewinnern zählen) oder gar mit den Grünen (das lief in der letzten Regierung nicht sonderlich erfolgreich) einlassen zu müssen, ist man befreit. Alles spricht also für den Klassiker ÖVP-SPÖ, ähnlich zukunftsgerichtet wie die deutsche Große Koalition (zuletzt angeführt von einer Frau, die ihre eigene Partei nicht mehr so recht mag – deutsche Grammatik ist etwas Feines, nach und nach stimmt es in beiden Lesarten).
Wähler als „Brandmelder“
Natürlich wird in Österreich am Wahlabend ähnlicher Unfug geredet wie in Deutschland. SPÖ-Babler (der Versuchung kann man beim Schreiben leider nur schwer widerstehen) sorgt sich angesichts der FPÖ-Stärke vor einer „Entwicklung in Richtung Ungarn“, Kanzler Nehammer will bezüglich seiner Vorwahlaussagen "Haltung zeigen", und der Grünen-Chef Werner Kogler sieht Erfolge im „Klimaschutz“, möchte eine Einheitsfront im Nationalrat schmieden (gegen wen wohl?), erkennt die FPÖ-Wähler aber immerhin als „Brandmelder“, deren Anliegen irgendwie nicht so ganz ignoriert werden können. Allerdings solle das nicht dazu führen, den „Brandbeschleuniger“ an die Spitze zu stellen. Eine schon fast literarisch zu nennende Wendung am Wahlabend.
Es wird bleiben, wie es ist: Kanzler Nehammer schließt eine Koalition mit den ihm im Unterschied zu den Grünen wesentlich angenehmeren SPÖ. Durchaus interessant: Obwohl Sozialthemen laut Umfragen beim Wähler einen äußerst hohen Stellenwert hatten, konnte die Sozialpartei schlechthin davon nicht profitieren.
Noch einmal zurück zum „Brandmelder“. Was hat den nun dazu bewegt, sein Kreuz bei der FPÖ zu machen? Das „Klima“ offenbar weniger. Vielleicht doch die Zuwanderung? Hat das FPÖ-Schlagwort von der „Festung Österreich“ möglicherweise einen Nerv getroffen? Auch Kickls in puncto Appetitlichkeit grenzwertige Plakate wie „Euer Wille geschehe“ scheinen nicht ganz schlecht angekommen zu sein. Mit dem Begriff „Volkskanzler“ ist es wie mit der „Festung“ – gern und reichlich von Gegnern ins Feld geführt, aber wohl eher mit dem Effekt, die Werbung zu verstärken. Und war da nicht noch etwas ganz anderes, das die Menschen – nicht nur in Österreich – gegen die Regierung aufgebracht hat? In den großen Medien seltsam vergessen, bei denen, die sie ertragen mussten, weniger – die „Corona-Maßnahmen“. Die wurden in der Alpenrepublik sogar bis zur kurzzeitigen Impfpflicht getrieben. Aber bei guter Disziplin (ob der knappen Mehrheit) muss sich die zu erwartende Regierung um die „Brandmelder“ vorerst nicht mehr sorgen.
Dr. Erik Lommatzsch ist Historiker und lebt in Leipzig.