Der Untergang der TITANIC – von Trinkern verschuldet?

Der Autor, früher selbst Seemann, erzählt die letzten Stunden der TITANIC unter dem Aspekt nach, dass die Brücke des stolzen Dampfschiffs voller Trunksüchtiger gewesen sein soll. Damit nicht genug, soll der Wachoffizier an Deck geschlafen haben.

Vor nunmehr 111 Jahren, am Abend des 14. April 1912, wurden im Restaurant der Ersten Klasse auf der TITANIC zehn Gänge angeboten. Man begann mit Austern à la Russe in einer Wodkalache – seit im vergangenen Jahr ein Gastspiel des Russischen Balletts die Londoner begeisterte, war Wodka modisch geworden. Es folgte Consommé Olga, zu der Madeira oder Sherry empfohlen wurden, sodann pochierter Lachs mit einem trockenen Rhein- oder Moselwein, bevor zu Filets Mignons Lili und einem roten Bordeaux übergegangen wurde. Später reichten die Kellner unter anderem Lamm mit Minzesoße und mit Calvados übergossene gebratene junge Ente, dazu roten Burgunder oder Beaujolais, hernach gebratene Jungtaube auf Brunnenkresse. Wer sich dann mit der Taube und einem roten Burgunder bis zu den Pfirsichen in Chartreuse durchschlug, der bekam weiterhin etwas Süßes, nämlich Muskateller, Tokajer oder Sauternes zum Käse mit frischen Früchten und konnte nun endlich zum Champagner übergehen: nahezu immer Heidsieck Gout Americain oder Monopole, aber auch Veuve Cliquot, Pommeroy und andere. Den ebenfalls angebotenen Sekt wird kaum jemand gewählt haben, bevor die Herren den Rauchsalon, die Veranda oder das Café Parisien aufsuchten, wo Portwein oder Cordials – alle Arten von Likören – sowie die von mehreren Barmixern angefertigten Cocktails warteten.

Selbstverständlich mussten nicht alle angebotenen Gerichte gegessen werden, es sind hier ohnehin nur zwei Drittel der Speisen erwähnt. Getrunken wurde jedoch reichlich: An jedem Platz standen drei geschliffene Kristallgläser für roten oder weißen Wein und Champagner, und einer der mehr als sechzig Kellner brachte sofort ein neues Glas, sobald jemand die Weinsorte wechselte. Insbesondere für die Damen, die den gesamten Tag mit dem An- und Auskleiden zum Frühstück, zum Gottesdienst, zu Lunch und Tee sowie für ein paar Schritte an Deck verbracht hatten, waren das Dinner und das vorhergehende Umkleiden recht anstrengend. Aber sie nahmen dergleichen gern auf sich. Viele von ihnen waren in Paris gewesen und hatten sich dort eingekleidet – die Kleider, vom Schmuck nicht zu reden, mussten gezeigt werden bis hin zu den riesigen, mit allerlei Zierat beladenen Hüten, die allerdings nur an Deck und zur Teezeit, aber sogar beim Gottesdienst getragen wurden.

In der Zweiten Klasse ging es ähnlich zu, denn beide Klassen wurden aus derselben Küche bedient. Es gab allerdings keine Tische für zwei Personen, und es wurden Karten ausgegeben, weil nicht alle Reisenden gemeinsam essen konnten. Letzteres galt auch für die zumeist von Auswanderern genutzte Dritte Klasse, die in keiner Hinsicht mit früheren Atlantiküberquerungen im Zwischendeck verglichen werden konnte. Den augenfälligsten Unterschied zu den beiden anderen Klassen bildeten Gemeinschaftsräume mit entsprechend vielen Schlafplätzen, doch konnte man auch Kabinen für vier Personen buchen. Im Gegensatz zu der Zeit, in der Zwischendeckspassagiere ihre Verpflegung noch mitbringen mussten, boten die beiden Messen der Dritten Klasse lange, weiß eingedeckte Tische und bequeme Stühle. Natürlich war es dort enger als im für 150 Personen bestimmten Restaurant der Ersten Klasse, aber dafür kostete die Überfahrt lediglich 36 Dollar, während für eine Luxuskabine der Ersten Klase 4.350 Dollar verlangt wurden. Anstelle einer großen Anzahl von Gängen gab es drei herzhafte Mahlzeiten am Tag. Morgens zum Beispiel gekochte Eier, Bückling und Bratkartoffeln sowie natürlich frisches Brot, Butter und Marmelade, mittags Suppe, Beefsteak oder Frikassee mit Gemüse und zur Teezeit gekochten Hammel, Kabeljau oder Kaninchen. Getränke wurden bis auf Tee und Kaffee nicht gereicht, aber wer wollte, der konnte vor den Hauptmahlzeiten sowie abends, wenn ein Zahlmeister die Ausgabe öffnete, Bier vom Fass oder in Flaschen – davon sollen 20.000 an Bord gewesen sein – kaufen: vornehmlich Bass, English Ale und Stout, auch ein Munich Lager, das jedoch nicht aus Bayern, sondern aus Wales kam. 

Es gab übrigens noch eine Vierte Klasse

Die White Star Line, die Reederei der TITANIC, hatte solchen Luxus – der gemeinhin auf die OLYMPIC und die TITANIC beschränkt blieb – erst allmählich eingeführt. Dazu trug wesentlich die deutsche Konkurrenz bei, insbesondere die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft, kurz Hamburg-Amerika Linie oder Hapag. Dort setzte der Meisterkoch Auguste Escoffier kulinarische Maßstäbe – sein Guide Culinaire ist noch heute Bestandteil höherer Kochausbildung –, und der ebenso legendäre César Ritz bildete das Personal aus. Die Hapag hatte damit zeitweilig Cunard und der White Star einiges voraus. Den Passagieren der TITANIC wurde freilich eine Vielfalt geboten, die jene an Bord der Hapag-Schiffe erheblich übertraf. Es mochte ihnen überdies anziehend erscheinen, dass sie mit dem derzeit größten Schiff der Welt unterwegs waren, von dem behauptet wurde, es sei wegen eines Systems wasserdichter Schotten unsinkbar.

Es gab übrigens noch eine Vierte Klasse, deren Dasein in nahezu allen Darstellungen des Lebens und Sterbens auf der TITANIC seltener erwähnt wird. An den Türen, die zu diesen Menschen führten, stand – und steht auch in unseren Tagen – „Crew only“. Gemeint sind die Stewards, Kellner, Köche, Seeleute, Maschinisten, Schmierer, Heizer, Trimmer, Handwerker aller Art und andere mehr, ohne die das strahlende Schiff ein unbelebter, kalter Haufen von Balken, Blechen und Stahlträgern gewesen wäre. So muss vielleicht zum Beispiel daran erinnert werden, dass die TITANIC ein Dampfschiff war: Der Dampfdruck in 29 Kesseln erforderte täglich mindestens 600 Tonnen Kohle, die von Trimmern aus den Kohlebunkern herbeigeschafft und von Heizern in die Feuerungen geschaufelt wurden. Auch wenn das Schiff nicht am Wettstreit um das Blaue Band teilnahm, war dieser Aufwand erforderlich, um die Hauptmaschinen und eine Turbine mit insgesamt bis zu 60.000 PS anzutreiben, eine Reisegeschwindigkeit von mindestens 21 Knoten zu erzielen sowie Strom für Pumpen und weitere Anschlüsse zu erzeugen. Selbstverständlich war das dafür notwendige technische Personal im Schichtsystem tätig, während Besatzungsmitglieder in anderen Bereichen gemeinhin zwölf Stunden lang arbeiteten.

Das galt auch für den Barkeeper, der am späten Abend des 14. April 1912 die letzten Cocktails für drei bereits angetrunkene Herren zubereitete. Er tat es unwillig, denn er war um sechs Uhr aufgestanden, hatte tagsüber Dienst im Restaurant und im Dining Saloon und hoffte, noch vor Mitternacht in die Koje zu kommen. Dabei verlangten die Herren nur drei recht einfache der derzeit modischen Cocktails: Benz Cocktail (neun Zehntel französischer Wermut, ein Zehntel Absinth, zwei Spritzer Maraschino, mit etwas zerstampftem Eis mischen, schütteln) und Gin Bump (ein Eiswürfel, der Saft einer halben Zitrone in ein halb mit Gin gefülltes Glas, mit Tonicwasser auffüllen). Nur der Dritte bestellte den anspruchsvolleren Roman Punch (zwei Teelöffel Zucker, ein Teelöffel Himbeersirup, der Saft einer halben Zitrone und einer halben Orange, ein halbes Glas zerstampftes Eis, jeweils zwei kräftige Spritzer Jamaikarum und Curacao, mit französischem Kognak auffüllen). Die Uhr über dem Tresen zeigte inzwischen zwanzig Minuten vor Mitternacht an, als der Barmixer bemerkte, dass etwas die Flüssigkeit in den Gläsern kaum merklich erschütterte.

Was nun geschah, ist in vielen Dutzend Büchern, mehreren Filmen und unzähligen Zeitungsartikeln beschrieben worden: Die TITANIC kollidierte mit einem Eisberg, nachdem sieben warnende Berichte – einen davon gab allerdings der Funker nicht weiter – Kapitän Edward John Smith erreicht hatten. Solche Sendboten grönländischer Gletscher waren im April in dieser Gegend des Nordatlantiks nichts Seltenes: Nur knapp zwanzig Seemeilen nördlich von der TITANIC entfernt, lag die CALIFORNIAN vor einem Eisfeld. Ihr Funker warnte seinen Kollegen auf der TITANIC – das war die vierte der erwähnten Nachrichten –, doch eine weitere seiner Meldungen wurde später zurückgewiesen, weil er die Übermittlung von Grußtelegrammen der Passagiere störte. Als danach seine Wache endete, ging der Funker schlafen, während Kapitän Stanley Lord sich auf das Sofa im Kartenraum legte. Er wartete auf das Tageslicht, während sein Schiff mit gestoppter Maschine am Eisrand trieb. Später tadelte man ihn, er habe die von der sinkenden TITANIC abgefeuerten weißen Raketen gesehen und nichts unternommen. Ob es so war, ist nicht völlig gesichert, und es gab damals noch keine Vorschriften für Raketen-Notsignale. Wenn die Raketen jedoch bemerkt wurden, dann wäre es natürlich ratsam gewesen, den Funker zu wecken und nach dem Anlass für das Feuerwerk fragen zu lassen. Kapitän Lord wurde deshalb vorgeworfen, er sei der TITANIC nicht zu Hilfe geeilt, und er verlor seine Anstellung.

Schreie, die das Gekreisch berstenden Stahles übertönten

Knapp zwanzig Seemeilen hätte die CALIFORNIAN in anderthalb Stunden zurücklegen können – wenn man vom Todeskampf der TITANIC erfahren hätte. Den Reichen und Schönen auf dem größten Schiff der Welt, ihren Mitreisenden und dem Personal blieben nun noch zwei Stunden und vierzig Minuten, seit der Barkeeper die Erschütterung in den Gläsern bemerkte: Zwei Stunden und vierzig Minuten einer mondlosen Nacht, in der eiskaltes Wasser durch Risse in der Außenhaut in den Schiffskörper flutete und gleichzeitig mehrere von Schotten getrennte Abteilungen füllte, eine Nacht, in der angstvolle Schreie fast das Gekreisch berstenden Stahles übertönten, bis schließlich das Schiff zerbrach und eine Hölllenfahrt begann, die in einer Tiefe von 3.800 Metern endete. James Camerons Film (1997) hat das technisch vollkommen gezeigt, und viele Zuschauer werden dankbar gewesen sein, wenn die Kamera mehrfach Abstand und damit ein wenig von der Würde verzweifelter Menschen wahrte.

Für eintausendfünfhundertvierzehn Menschen war die Reise auf der TITANIC die letzte ihres Lebens. Es überlebten siebenhundertzehn: 75 Prozent der Frauen, 50 Prozent der Kinder und 20 Prozent der Männer an Bord. Nachdem die CARPATHIA, das Schiff, das sie rettete, mit ihnen New York erreichte, begann sofort eine heftig geführte Diskussion darüber, wer das Unglück verschuldet habe. Insbesondere im Hinblick auf den Kapitän und den Ersten Offizier gab es damals und gibt es bis heute vereinzelt erhobene Vorwürfe, die beiden seien während der Kollision betrunken gewesen und hätten deshalb unangemessen gehandelt.

Was Kapitän Edward John Smith betrifft, so trug er fraglos uneingeschränkte Schuld an dem Unglück. Er wusste schließlich, dass es keine unsinkbaren Schiffe gibt und dass die Rettungsboote nur die Hälfte der Menschen an Bord aufnehmen konnten. Angesichts der Eiswarnungen hätte er die Geschwindigkeit vermindern müssen – gleichgültig, ob Bruce Ismay, der mitreisende Direktor der White Star Line, ihn dazu drängte, möglichst früh in New York einzutreffen. Etwas anderes sind jedoch die Behauptungen einer Emily Richards aus der Zweiten Klasse, Smith hätte während der Kollision an der Salonbar getrunken und dabei erzählt, er habe seine Verantwortung dem Wachofffizier übertragen. Mehr als zweifelhaft: Selbst wenn Smith Alkoholiker war – über den Alkoholkonsum von Seeleuten gibt es ja ein umfangreiches Schrifttum sowie ein vielfältiges Liedgut –, hätte er sich ganz gewiss nicht an eine der Bars gestellt und Passagieren der Zweiten Klasse erklärt, weshalb er nicht auf der Brücke sei. Stattdessen hat Smith sich während des Unterganges selbst gerichtet.

Eine Ehrenrettung für den Ersten Offizier William M. Murdoch, der ebenfalls betrunken gewesen sein soll und deshalb vorgeblich falsche Entscheidungen traf, ist etwas langwieriger. Wer Camerons Film gesehen hat und sich ein wenig auskennt, der hörte Murdochs Kommando „Hart Steuerbord!“ und sah erstaunt, wie der Rudergänger das Steuerrad nach Backbord drehte. Das ist wahrscheinlich so geschehen. Auch auf Dampfschiffen galten lange Zeit Ruderkommandos, die ursprünglich auf Segelschiffen verwendet wurden: Wie noch heute beim Legen der Ruderpinne auf kleineren Fahrzeugen, befahl Steuerbordruder, wer nach Backbord wollte, denn der Steuerbordausschlag bewegt das Ruderblatt nach Backbord. Auf deutschen Schiffen, so befahl es ein Kaiserlicher Erlass, durften ab dem 1. April 1904 jedoch nur noch „Ruderkommandos gebraucht werden, welche die Lage des Ruderblatts, nicht die der Pinne, bezeichnen“. 

Ob die alten und leicht missverständlichen Ruderkommandos auf britischen Schiffen – wie mehrfach beschrieben – wirklich bis 1928 oder gar bis 1933 üblich waren, erscheint sehr fragwürdig. Heute dagegen ist alles eindeutiger, weil es in der Seefahrt etwa wie beim Autofahren zugeht: Wer nach rechts, also zur Steuerbordseite will, dreht das Steuerrad nach rechts, und Vorfahrt hat gewöhnlich, wer von rechts kommt. Energische Kursänderungen nach Steuerbord sind deshalb in vielen Fällen eher geeignet, eine gefährliche Situation zu beenden. Jedenfalls gab der gewiss stocknüchterne Murdoch – er überlebte den Untergang nicht – sicherlich ein Kommando, dessen Wirkung ihm bewusst war. Er hat überdies nahezu gleichzeitig das Maschinenkommando „Volle Kraft zurück“ gegeben und die Schottenschließanlage ausgelöst. Es ist müßig, Betrachtungen darüber anzustellen, ob er richtig entschied, denn es kann niemand mehr zuverlässig sagen, ob der Eisberg rechts voraus oder an einer der Schiffsseiten erschien und wie weit er entfernt war.

Rudergänger Robert Hichens sei betrunken gewesen

Weiterhin bezeugten Leila Meyer und Major Godfrey Peuchen, beide Passagiere der Ersten Klasse, Quartermaster Robert Hichens, der Rudergänger, sei betrunken gewesen. Das wird immer noch gern wiederholt, weil es das widersprüchliche Rudermanöver erklärt. Die Brücke der TITANIC war also voller Trunksüchtiger, als es zur Kollision kam. Damit nicht genug, gab ein Luis Klein im Interview mit der New York Times an, der Wachoffizier habe an Deck geschlafen. Daysi Minahan hingegen wurde angeblich vom völlig betrunkenen Fünften Offizier Lowe beschimpft und genötigt, andere Damen klagten, sie seien von zumindest angetrunkenen Seeleuten misshandelt worden. Allerdings konnte nicht ein einziger der wegen Trunkenheit erhobenen Vorwürfe gegen Kapitän Smith, den Ersten Offizier Murdoch oder den Quartermaster Hichen während der Untersuchungen vor amerikanischen und britischen Kommissionen bestätigt werden.

Es fällt auf, dass nahezu alle Augenzeugen und Betroffenen von angeblichen Pflichtverletzungen durch betrunkene Seeleute Frauen waren. Ihre Aussagen könnten zum Teil dadurch erklärt werden, dass man viele von ihnen zwingen musste, in die Boote zu gehen. Sie waren verwirrt, sie froren und hielten das hell erleuchtete Schiff für sicherer als die von schreienden Menschen umgebenen Boote. Insbesondere Frauen der Ersten und Zweiten Klasse sind dabei sicherlich oft in einer Tonlage angeherrscht worden, an die sie nicht gewöhnt waren und die sie sich nur durch Trunkenheit erklären konnten. Im Hinblick auf das Verhalten gegenüber Frauen ist freilich mitteilenswerter, was unter anderem eine nach Berichten von Augenzeugen angefertigte Zeichnung in den Illustrated London News vom 18. Mai 1912 zeigt. Sie lässt nämlich begreifen, weshalb nur ein Fünftel der Männer an Bord gerettet wurde: Darauf steht eine größere Gruppe von Heizern und Maschinisten diszipliniert beiseite, während im Hintergrund – wie einst auf der BIRKENHEAD – Frauen in ein Rettungsboot steigen. Ihre vom Chefingenieur Joseph Bell geführten Kameraden sorgten inzwischen mehrere Decks tiefer dafür, dass die Generatoren bis zum letzten Moment Strom für die Beleuchtung und die Pumpen lieferten. Keiner von ihnen hatte eine Chance, lebend davonzukommen, und sie ahnten es.

Die Lehren aus dem Untergang waren andere als etwa ein besonnener Umgang mit Alkohol. Stattdessen wurden Reedereien künftig verpflichtet, ausreichende Boots- und Rettungsfloßplätze zu schaffen, Übungen bei Reisebeginn durchzuführen, Fluchtwege zu beschildern. Verbindliche Wachzeiten für Funker, Eispatrouillen und erweiterte Vorschriften für Notsignale wurden vereinbart. Das war wohl vor allem den mehr oder minder namhaften Opfern und ihrer Anzahl geschuldet, denn nach der zuvor größten Schiffahrtskatastrophe auf dem Nordatlantik, dem Untergang der NORGE im Jahr 1904, war kaum etwas geschehen. Damals reisten auf dem nur mit acht Rettungsbooten ausgerüsteten Schiff insgesamt achthundert Passagiere und Besatzungsmitglieder. Unter den sechshundertfünfundzwanzig Opfern waren fast ausschließlich Frauen und nahezu zweihundert Kinder, die zu ihren nach Nordamerika ausgewanderten Männern und Vätern – überwiegend Skandinavier, Russen und Deutsche – unterwegs waren.

Der Untergang der COSTA CONCORDIA und eine Gigantomanie, die im Fall der EVER GIVEN zur Sperrung des Suezkanals führte, haben in unseren Tagen wiederum gezeigt, dass noch immer gültig ist, was der Kapitän auf Großer Fahrt und Schriftsteller Joseph Conrad 1912 schrieb:

„Man baut ein 45000 Tonnen schweres Hotel aus dünnen Stahlplatten, um sich die Gunst von, sagen wir, mehreren tausend reichen Leuten zu sichern (denn wäre es nur für die Beförderung von Auswanderern bestimmt gewesen, hätte es keine solche Übertreibung der bloßen Größe gegeben), man dekoriert es im Stil der Pharaonen oder im Stil von Louis Quinze – mir ist so etwas gleichgültig –, und um der oben erwähnten Handvoll bornierter Leute zu gefallen, die mehr Geld haben, als sie ausgeben können, sowie unter dem Beifall zweier Kontinente, schickt man dieses Monstrum mit zweitausend Menschen an Bord mit einundzwanzig Knoten über das Meer – eine perfekte Demonstration des modernen blinden Vertrauens in Material und Geräte. Und dann passiert das. Allgemeine Aufregung. Das blinde Vertrauen in Material und Geräte hat einen schrecklichen Schock erlitten. Ich will gar nicht von der Leichtgläubigkeit sprechen, die jede Erklärung akzeptiert, die Fachleute, Techniker und Büroangestellte nur zu gern abgeben, sei es zum Zwecke des Gewinnes oder des Ruhmes. Sie stehen erstaunt und in ihrem tiefsten Empfinden verletzt da. Aber was hätte man unter diesen Umständen auch anderes erwarten können? Ich für meinen Teil könnte viel eher an ein unsinkbares Schiff von 3000 Tonnen glauben als an eines von 40000 Tonnen. Das gehört zu den Dingen, die sich von selbst verstehen. Man kann die Stärke von Holzlatten und Blechen nicht unbegrenzt erhöhen. Und das bloße Gewicht dieses Ungetüms ist ein zusätzlicher Nachteil. Wenn man die Berichte liest, kommt einem als erstes der Gedanke, dass das unglückselige Schiff, wenn es ein paar hundert Fuß kürzer gewesen wäre, wahrscheinlich der Gefahr entgangen wäre. Aber dann hätte es vielleicht kein Schwimmbad und kein französisches Café geboten.“

 

P. Werner Lange, ursprünglich Seemann, ist ein deutscher Autor von Biografien, Reisebeschreibungen, erzählenden Sachbüchern und Hörspielen. Er lebt bei Berlin.

Foto: U.S. National Oceanic and Atmospheric Administration/ public domain

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Leserpost

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A. Ostrovsky / 04.06.2023

Ja, ja, so wird es gewesen sein. Die Brücke voller Trinker. Und der Wachoffizier hat geschlafen. Kompliziert. Das war harte Arbeit, das alles so zu managen! Oder es ist dummes Gewäsch von einem, der gar nicht dabei war? Es gibt wenigstens so viele Profilneurotiker, wie schwere Trinker.

W. Renner / 04.06.2023

Möglicherweise verwechselt der Autor die Brücke der Titanic mit der Bundesregierung und der Green Star Line.

P. Schulze / 04.06.2023

Als Seemann muß man ständig besoffen sein. Das is wie im Sozialismus: Nur besoffen wirds erträglich. Gleiches gilt für die “Crew Only”-Sklaven. Und der Rest? Der kann gerne absaufen. Aber bitte nicht zu schnell. Sie sollen ihr (hoffentlich qualvolles) Ende doch in vollen Zügen genießen können :)

Burkhart Berthold / 04.06.2023

Herr Lange dramatisiert ein bißchen. Natürlich war niemand der Männer, die auf der Brücke der “Titanic” Verantwortung trugen, betrunken. Sie haben im Rahmen des Möglichen die richtigen Entscheidungen getroffen - aber Pech gehabt. Gerade Murdoch war ein erfahrener und verantwortungsbewusster Offizier. Wer dazu mehr wissen möchte: Murdoch hatte auf einem anderen Schiff als Wachthabender Offizier eine Kollision verhindert (Padfield, Peter, Kollision auf See, München 1967, S. 34 f.) Der Wachthabende Offizier der “Californian” hätte natürlich den Funker wecken müssen, belästigte stattdessen den Kapitän, der nicht belästigt werden wollte. Auch diese beide waren nüchtern. All das ist geklärt.

Boris Kotchoubey / 04.06.2023

Die nächste Titanik wird von KI gesteuert werden

Bernd Schreller / 04.06.2023

Neben einem möglichen Versicherungsbetrug (Schwesterschiff-Unfall vorher) sind mit der Ozeandampfer 3 sehr reiche, extra zur Jungfernfahrt eingeladene Männer, die im kommenden Jahr gegen die Gründung der Federal Reserve (also der Gelddruckmaschine aus dem Nichts mit anschliessend real zu zahlenden Zinsen, Buch von Eustace Mullins dazu) gestimmt hätten, praktischerweise mit untergegangen. Zusätzlich praktisch, wenn ein folgenden Jahren Unsummen an Krediten für die Materialschlacht (‘Menschenmaterial’ dabei eher zweitrangig) des 1. Weltkriegs fliessen sollten.

Rid Banks / 04.06.2023

Finn@ Pommeroy is champus vom feinsten…

finn waidjuk / 04.06.2023

Nach dem ersten Satz dachte ich, dass es sich bei dem Artikel um eine Allegorie auf Deutschland handeln würde. Schnell wurde mir aber klar, dass dem nicht so war. Deutschland könnte sich glücklich schätzen, wenn das Personal auf seiner Brücke (um bei der Allegorie zu bleiben) nur betrunken wäre und nicht schwachsinnig. Staatsmänner im Dauersuff haben durchaus schon Beeindruckendes geleistet (ich denke dabei an Churchill, nicht an Schangklode, der auch immer voll dabei war). Und es besteht immer auch die Möglichkeit, dass die auch mal nüchtern werden, während man bei den Hirnprothesenträgern in Berlin jede Hoffnung auf Besserung fahren lassen muss. Außerdem würde sich von denen niemand selber richten. Darüber hinaus würde der Birkenhead-Drill seinen Sinn verlieren, da so manche Berliner Matrone aufgrund ihrer Leibesfülle jeweils ein komplettes Rettungsboot dicke ausfüllen könnte. Man würde sie besser als Rettungsbojen einsetzen, da Fett bekanntlich gut schwimmt. Es bleibt also bei einem sachlichen und hochinteressanten Artikel. Nur bei einem der aufgeführten Getränke kam ich ins Schleudern: was zum Teufel ist “Pommeroy”?

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