Johannes Eisleben / 01.12.2018 / 11:00 / Foto: Edosanra / 21 / Seite ausdrucken

Der Universalismus wird zum trojanischen Pferd

Unter Universalismus im engeren Sinne verstehen wir die Idee von der räumlich und zeitlich unbegrenzten Geltung der Menschenrechte. Nah verwandt ist ihm der Begriff des Naturrechts, worunter wir hier vereinfachend alle gesellschaftlichen Mechanismen, die der notwendigen Gewaltbegrenzung und Machtteilung im Zeitalter des staatlichen Gewaltmonopols dienen, verstehen.

Der Universalismus hat seine Anfänge im antiken Athen, wurde durch Denker wie Cicero in der römischen Antike weiterentwickelt und während der neuzeitlichen Wende und der darauf folgenden Aufklärung als Antwort auf den Absolutismus ausformuliert. Dabei war zunächst klar, dass das Naturrecht (im Wesentlichen das, was wir heute als Menschenrechte bezeichnen), obwohl es bei Grotius ein „Recht der ganzen Menschheit” genannt wird, seine Gültigkeit nur im Gebiet eines Staates besitzt, weil es im Kern ein Verfahrenskatalog zur Begrenzung des staatlichen Machtmonopols ist. 

Doch der universalistische Charakter des Naturrechts, der dem Universalismus seinen Namen gegeben hat, legt den Gedanken nahe, dass das Naturrecht gegenüber allen anderen Rechten den Vorrang besitzt. Damit steht der so verstandene Universalismus allerdings im Gegensatz zum Völkerrecht, in dem noch heute (auch in den relevanten UNO-Dokumenten) gilt, was Denker wie Hugo Grotius und Immanuel Kant formuliert haben: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches besagt, dass souveräne Nationen ihr Staatssystem selbst wählen und Eingriffe von außen nur im Kriegsfall möglich sind. Dies schließt eine Geltung des Naturrechts über Staatsgrenzen hinaus aus, das heißt, weder muss ein Staat seine Grenzen öffnen, um aus humanitären Gründen beliebige Einwanderung zuzulassen, noch ist ein Staat verpflichtet, einen anderen anzugreifen, weil der gegen das Naturrecht verstößt.

Es gab allerdings im 19. Jahrhundert mit dem machtpolitisch durchgesetzten Abolitionismus eine Phase, in der der Universalismus tatsächlich in der internationalen Politik umgesetzt wurde. Die Abschaffung der Sklaverei war nur möglich, weil die Kolonialgroßmächte England und Frankreich mit massiven Machtmitteln und hohen Kosten aus einer idealistischen Motivation heraus zuerst die Seewege der Sklavenhändler durch den Atlantik und den indischen Ozean, dann auch deren Landwege durch die Sahara sperrten und in den schwarzafrikanischen Kolonien die für die Sklaverei unerlässliche Menschenjagd unterbanden sowie in den islamischen Kolonien oder Einflussgebieten die Sklavenhaltung ächteten.

Dies war die bisher größte internationale Leistung des Universalismus (das beschreibt hervorragend Egon Flaig in seiner Weltgeschichte der Sklaverei). Allerdings kann argumentiert werden, dass dies nicht im Widerspruch zum Völkerrecht stand, weil die meisten von der abolitionistischen Intervention direkt betroffenen Gebiete aus damaliger Sicht gar keine souveränen Staaten waren. Somit wäre der Abolitionismus zwar ein Ausdruck des Universalismus, aber stünde, anders als der heutige Universalismus, nicht im Widerspruch zum Völkerrecht.

Unkontrollierte Migration zerstört die Industriegesellschaft

Im Widerspruch? Seit der Gründung der Vereinten Nationen nach dem zweiten Weltkrieg hat der Universalismus eine neue Richtung eingeschlagen. Zahlreiche Denker, Journalisten und Interessengruppen (Politiker, Lobbyisten, NGOs) propagieren nun einen grenzenlosen Universalismus, der gegen die Prinzipien des Völkerrechts gelten soll: Erstens sollen gegen das geltende Völkerrecht sogenannte humanitäre Interventionen möglich sein, bei denen souveräne Staaten angegriffen werden können, weil sie tatsächlich oder angeblich gegen das Naturrecht verstoßen. Zweitens sollen Menschen sich beliebig weltweit ansiedeln können, Grenzen und Nationen abgeschafft werden.

Wer dem öffentlich widerspricht, muss geächtet und sanktioniert werden (UN Compact for Migration). Dass der Universalismus durch diese Entgrenzung sein eigenes Substrat, die hochdifferenzierte Industriegesellschaft mit komplexer Bürokratie und existenzsicherndem Sozialstaat, zerstört, hat Arnold Gehlen vor 50 Jahren skizziert und Rolf Peter Sieferle schon 1994 gezeigt (Neuausgabe hier). Kurz gesagt zerstört unkontrollierte Migration die Industriegesellschaft, weil diese Form der Vergesellschaftung auf eine total verinnerlichte Konformität gegenüber hochkomplexen Normen sowie eine sehr anspruchsvolle, differenzierte und spezialisierte Ausbildung der Individuen angewiesen ist (Max Weber und seine Nachfolger haben dies umfassend beschrieben).

Diese ist nur durch das historisch über Jahrhunderte akkumulierte, tradierte Kulturpotenzial möglich. Es kann allenfalls dann kulturerhaltend auf Migranten übertragen werden, wenn diese nur einen kleinen Teil der Bevölkerung ausmachen und keine Gelegenheit bekommen, sich in aus Sicht der Wirtsgesellschaft dissozialen Enklaven abzusondern (was aber in Deutschland seit den 1970er Jahren mit fast allen muslimischen Einwanderern geschehen ist).

Doch die heutigen Universalisten fordern einen radikalen Universalismus, indem sie sich, wie jüngst Angela Merkel im Bundestag, auf Artikel 1 des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar” berufen. Wir sehen hier, wie das Naturrecht, ein Recht, das entwickelt wurde, um Menschen in Staaten mit Gewaltmonopol vor staatlicher Willkür zu schützen, zu einem Anspruchsrecht pervertiert wird, das den Staat, der dieses Anspruchsrecht über seine Grenzen hinaus auf die gesamte gens humanorum anwenden will, zerstört.

Radikaluniversalisten und Herrschaftsuniversalisten

Was versprechen sich die Radikaluniversalisten von ihren Forderungen? Sie zerfallen in zwei Gruppen. Die erste Gruppe, nennen wie sie Gesinnungsuniversalisten, glauben tatsächlich, es bestehe eine Verpflichtung zum grenzenlosen Universalismus, oftmals angetrieben von einem ahistorischen, konfabulierten Schuldverhältnis gegenüber Ländern der „Dritten Welt”. Aus einer humanitaristisch-puristischen, neo-pietistischen Gesinnungsethik erscheint ihnen dies als die einzig menschliche Haltung – sie begreifen nicht die oben geschilderten Zusammenhänge, die eine Begrenzung des Naturrechts auf ein Staatsgebiet erforderlich machen.

Vielmehr blicken sie verächtlich auf Verantwortungsethiker wie Ex-Verfassungschef Hans-Georg Maaßen herab und diskreditieren sie neuerdings sofort als „Rechtsextremisten“ oder „Nazis”, wobei sie zeigen, dass sie den Charakter des Nationalsozialismus nicht verstehen und dessen Opfer (wohl unbewusst) verhöhnen. Diese Gruppe dominiert zwar die öffentliche Meinung – doch hat sie sektenhaften Charakter und soll mich hier nicht weiter beschäftigen. Diese Gruppen lösen sich auf wie Zuckerwürfel im Tee, wenn eine echte Wirtschaftskrise kommt und die Menschen merken, dass weder Geld noch Strom einfach aus der Wand kommen.

Die andere Gruppe ist interessanter. Nennen wir sie Herrschaftsuniversalisten. Sie sind die Ingenieure der Macht, die den Universalismus gezielt als Herrschaftsverfahren einsetzen. Wie funktioniert das?

Das Ziel der Herrschaftsuniversalisten ist die Ablösung des machtkontrollierenden, demokratisch konstituierten, nationalen Rechtsstaats durch supranationale Rechtsetzung (Legislative) und -sprechung (Judikative). Die nationale Legislative soll dann das supranationale Recht nur noch in nationales Recht gießen (so ist es bei mehr als der Hälfte des Rechtskörpers schon in der EU), und die nationale Judikative soll sich im Zweifel immer der supranationalen, auch wenn die ihre Suprematie nur usurpiert hat (wie der EuGH), beugen – wichtiges Beispiel dafür: die Eurorettung.

Herrschaftsziele pseudo-moralisch überhöhen

Nationale Regierungen haben dann nur noch den Charakter von Auftragsexekutiven, die supranationales Recht umsetzen oder bestraft werden, wenn sie dies nicht tun (wie dies nun Italien, Polen und Ungarn in der EU blüht). Die EU versucht sich diesem Zielbild zu nähern. Die Herrschaftsuniversalisten wissen genau, warum sie den Nationalstaat zu überwinden haben: um den aus ihrer Sicht mühsamen nationalen Widerstand gegen eine globale Vermögens- und Machtkonzentration auf eine Weltelite zu umgehen. Doch ist der Nationalstaat erst einmal aufgelöst, bleibt von der Menschenwürde, die die Universalisten stets wie eine Monstranz vor sich hertragen, nichts übrig, und die Ideologie des Universalismus kann nach ihrer erfolgreichen Endverwertung endlich entsorgt werden.

Denn der Universalismus ist für die Herrschaftsuniversalisten nur eine Ideologie, die es erlaubt, ihre Herrschaftsziele pseudo-moralisch zu überhöhen und die ahnungslosen, gutgläubigen Gesinnungsuniversalisten – von denen Medienredaktionen und Universitätsfakultäten nur so strotzen – auch noch als freiwillige Mitstreiter zu nutzen. Nationalstaaten werden dabei als „egoistisch”, „bellizistisch“, „chauvinistisch“ und „unzeitgemäß”, der scheinbar modernen „Weltoffenheit” und „Diversität” gegenüber feindselig eingestellt charakterisiert.

Internationale militärische Interventionen werden als „humanitäre Missionen” deklariert, obwohl es oft nur um die Demarkation von Einflusssphären und Zugang zu Rohstoffen (oder in anderen Fällen zu Märkten) geht. Migration wird als Errungenschaft offener Gesellschaften beschrieben, doch dient sie nur der Zerstörung nationaler Gruppenidentitäten. Denn kein fähiger Technokrat glaubt ernsthaft, dass unausgebildete oder gar analphabetische Migranten aus archaischen Gewaltkulturen, die moderne soziale Normen nicht verinnerlicht haben und auch nicht mehr erlernen können, zur Wertschöpfung beitragen. Sie sollen vielmehr die Zivilgesellschaft destabilisieren, bis eine nationale politische Willensbildung so schwer wird, dass sich der nationale Souverän gleichsam auflöst.

Macht und Gegenmacht

Jedoch haben Bestrebungen, Macht zu Herrschaftsfestungen zu zementieren, immer zu Widerstand geführt. So auch heute. Wir sehen in den USA, Großbritannien, Italien, Polen, Ungarn, Österreich und weiteren Ländern, wie sich der Souverän gegen die Abschaffung seiner Schutzrechte wehrt.

Wenn die westlichen Herrschaftsuniversalisten nicht wie Erdogan oder Putin die Fassade der Moral abwerfen und die Menschenrechte auf nationaler Ebene wirklich abschaffen (was ja mit DS-GVO oder dem NetzDG bereits ausprobiert wird), wird sich mit Hilfe des Wahlrechts zeigen, dass dieser Versuch letztlich ihr Ende bedeutet, da die meisten Nationalbevölkerungen die Überwindung des Nationalstaats ablehnen – aus gutem Grund, fürchten sie doch den Verlust der Machtkontrolle.

Nun denn: Die Kontrahenten sind klar gekennzeichnet, der Wettkampf wird spannend. Allerdings ist dieser sehr ernst, denn es geht letztlich um den Erhalt der abendländischen Kultur der – auf Ebene des Nationalstaats richtig verstandenen – Menschenrechte und ihres kulturellen Umfelds aus Demokratie, Wissenschaft und freier Wirtschaft.

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Jürgen Probst / 01.12.2018

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