Wieder einmal wird ein Erlöser gefeiert, der über Wasser laufen kann. Die Sehnsucht nach einem Wunderheiler ist ungebrochen. Der letzte, dem diese Fähigkeit zuerkannt worden war, hieß Barack Obama, der - kaum im Amt - sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Aber leider ist er dann in seiner achtjährigen Amtszeit ziemlich hilflos ersoffen. Auch das Wunder aus Würselen, der mit 100 Prozent zum Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden der SPD gewählte Martin Schulz, schien übernatürliche Anziehungskraft zu besitzen, was ganz schnell mit einer Bruchlandung endete. Und jetzt wird dem gutaussehenden sympathischen französischen Präsidenten Emmanuel Macron auch wieder zugetraut, über allen Wassern zu schweben. Da lohnt es sich, genau hinzuschauen, wie sein kometenhafterAufstieg möglich war.
Da war vor allem die Angst vieler Franzosen und Europäer, die blonde Nationalistin Marine Le Pen könnte mit einem Wahlsieg den ganzen Kontinent erschüttern. Das war genauso übertrieben wie die Angst vor dem niederländischen Blondschopf Geert Wilders. Die Zustimmung blieb bei beiden seit Jahren ziemlich konstant: Bei Wilders knapp unter 20 Prozent, bei Le Pen knapp über 20 Prozent. Entscheidend, ob die lautstarken Polarisierer an der Macht partizipieren können, ist bei allen Wahlen das Wahlrecht.
Als im zweiten Wahlgang bei der Präsidentschaftswahl der Sieg Emmanuel Macrons feststand, wurde gefeiert, als ob wir gerade von einem Meteoriteneinschlag verschont worden wären. Aber dank des französischen Wahlrechts waren die Chancen des Front National doch sehr gering. Die 66,1 Prozent, die der unabhängige Kandidat Macron aus allen Lagern erhielt, hätte auch jeder andere Erst- und Zweitplatzierte der ersten Wahlrunde aus dem bürgerlichen Lager in ähnlicher Höhe erhalten. Doch wichtiger für den langfristigen politischen Erfolg Macrons ist ein detaillierter Blick auf die Personen und die regionalen Wahlergebnisse der vier Wahlgänge zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen.
Die Selbstzerstörung der rechten wie linken Eliten
Dass der Konservative Francois Fillon im ersten Wahlgang für die Präsidentschaft auf den dritten Platz zurückfiel, hatte er wohl seinem übermäßig ausgeprägten Familiensinn zu verdanken. Er ließ seiner Frau und seinen Kindern rund 800 000 Euro aus der Staatskasse zukommen. Damit waren die eh schon zerstrittenen Bürgerlichen entscheidend geschwächt. Fillon kam immerhin noch auf 7 678 491 Stimmen. Der Kandidat der regierenden Sozialisten, Benoit Hamon, der nach quälenden parteiinternen Vorwahlen als Vertreter des linken Flügels von vornherein chancenlos war, kam auf Platz 5 mit 2 291 282 Stimmen.
Doch so sehr über die Gefahr für Frankreich, ja für ganz Europa durch eine Machtübernahme des als rechtsradikal eingestuften Front National geschrieben wurde, so wenig erfuhr die deutsche Öffentlichkeit über den linksradikalen Jean-Luc Mélenchon, dessen Vorbilder Kuba und Venezuela sind. Am Anfang der Kampagne wurde er wie einer von den vielen Splittergruppen eingestuft. Aber je länger der Wahlkampf dauerte, um so größe wurde die Gefahr, dass er eine der beiden Positionen für den zweiten entscheidenden Wahlgang erringen könnte. Am Ende schaffte er 7 059 951 Stimmen, nur rund 600 000 weniger als Le Pen. Zusammen mit den antikapitalistischen und trotzkistischen Splittergruppen ist die radikale Linke stärker als der Front National.
Das Programm der beiden radikalen Parteigruppierungen unterscheidet sich deutlich von den anderen Kandidaten und Parteien. Dafür haben sie viele Gemeinsamkeiten. Raus aus der NATO, raus aus der EU, dem Euro sowieso. Gegen den Freihandel, Zementierung der 35 Stunden Woche und der Rente mit 60 und antideutsche Verbalausfälle. Dazu Verstaatlichungen und horrende Steuererhöhungen für Besserverdienende.
Dass Le Pen als rechtsradikal und Mélenchon als linksradikal bezeichnet werden, ist wohl eher der traditionellen Einstufung in rechts und links geschuldet als der Realität. Beide sind nationalistisch und beide sind sozialistisch mit leichten Variationen. Im Ergebnis sind beide nationalsozialistisch und antidemokratisch. Dass Mélenchon nicht vor Le Pen liegt, ist Gott sei Dank dem Hang der Kommunisten und Linksradikalen zum Sektierertum zu verdanken. So konnte Mélenchon nur drei Departments gewinnen, Fillon schaffte 5, Macron 41 und Le Pen mit 47 den Rest.
Das Wahlrecht, wichtiger als die Wähler
Das bedeutet aber auch, dass Europa nur durch das französische Wahlrecht gerettet wurde. Die britische Wirtschaftszeitung "Economist" hat vorgerechnet, dass Marine Le Pen, würde das US-Wahlrecht gelten, jetzt wahrscheinlich Präsidentin wäre. Sie hätte genau soviel Wahlmänner wie Macron und Fillon zusammen. Den Ausschlag würden dann Mélenchon und die Kommunisten geben, deren Wahlprogramm, wie schon beschrieben, ziemlich identisch mit dem FN ist. Das wäre dann nach Griechenland der zweite EU-Staat geworden, in dem die Links- und Rechtsradikalen eine Regierung stellen.
Es ist jetzt schon das zweite Mal, dass das Wahlrecht Frankreich von der Übernahme Le Pens rettete. Auch bei den Regionalwahlen am 8. Dezember 2015 wäre Marine Le Pen deutliche Siegerin geworden, würde in Frankreich das britische Wahlrecht gelten. Die Wahlen in den USA, in Großbritannien und Frankreich sind alle demokratisch, aber wer die Macht übernimmt, bestimmt das Wahlrecht.
Gerade bei den letzten vier Wahlgängen färbte sich die politische Karte Frankreichs jedes Mal so grundlegend als sei ein anderes Volk zur Urne gerufen worden. Dominierte im ersten Wahlgang noch der FN flächendeckend im Norden, Osten und an der Mittelmeerküste, so war er im zweiten Wahlgang bis auf zwei Departments im Norden verschwunden. Ähnlich jetzt bei der Parlamentswahl. Typisch das Departement Vosges (Vogesen). Im ersten Wahlgang lag der FN noch in jeden einzelnen Wahlbezirk vorn, aber im zweiten Wahlgang eroberte Macrons Partei alle Abgeordnetensitze. Bei näherer Betrachtung stimmt die Vermutung: Es sind jedes mal andere Wähler, die das Ergebnis bestimmen. Was in den Vogesen passierte, stimmt so fast für ganz Frankreich.
Bei dem überwältigenden Wahlsieg fürs Parlament, in dem Macrons Partei im ganzen Land 308 und die mit ihm verbündete MODEM-Partei noch mal 42 Sitze von 577 eroberten, waren hauptsächlich die Macron-Anhänger zur Wahl gegangen. Die anderen blieben zu Hause, weil sie für ihre Kandidaten, und zwar sowohl die des Front National als auch jene des radikalen Linksbündnisses von Mélenchon, keine Chance mehr sahen. So beruht der Sieg Macrons auf nur 16,55 Prozent der wahlberechtigten Franzosen. Der FN kam nur noch auf 3,36 Prozent und entsendet gerade mal acht Abgeordnete ins Parlament. Mélenchons Linksradikale kamen auf 17 Sitze mit 1,87 Prozent der Wahlberechtigten und die Sozialisten Francois Hollandes auf 30 Sitze mit 2,18 Prozent. Von einem Volkswillen ist da wenig übrig.
Die Straße entscheidet den Klassenkampf
Macron droht von diesen gestutzten Parteien keine Gefahr. Die kommt von den über 20 Millionen Franzosen, die nicht zur Wahl gegangen sind. Ob er seine Versprechungen wird halten können, entscheidet sich nämlich nicht im Parlament, sondern auf der Straße. Vor 40 Jahren produzierte ich mit meinem Kollegen Jochen Schweitzer das ZDF-Feature: "Klassenkampf auf französisch". 5 Jahre später nach der Machtübernahme Francois Mitterrands noch einmal ein Feature mit dem Titel: "Die Ehe mit Marianne - 20 Jahre deutsch-französische Freundschaft". Es war deprimierend, sich diese Filme jetzt noch einmal anzuschauen. Der größte Teil des Textes könnte ungeschnitten für die heutige Situation übernommen werden.
In den ersten 20 Jahren des Freundschaftsvertrages hatte der Franc zur DM von 1:1 auf 1:3 abgewertet. Das wäre heute auch nötig, geht aber wegen des Euros nicht. Die Arbeitslosigkeit in Frankreich betrug zehn Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit 20 Prozent. Damals wie heute verdient ein Arbeiter in der Provinz soviel wie ein Abendessen in einem Pariser Sternenrestaurant kostet. Die drei Gewerkschaften, die anarchistische FO, die sozialistische CFDT und die stalinistische CGT kämpfen mehr gegen- als miteinander. Und schließlich stimmt nach 50 Jahren Planwirtschaft der EU auf Wunsch Frankreichs im Agrarbereich immer noch: Je ländlicher die Region, um so ärmer und so weiter und so fort.
Was sich in den 40 Jahren seid der Ausstrahlung der Filme allerdings geändert hat, ist eine immer mehr verregelte Wirtschaft und ein völlig erstarrter Arbeitsmarkt. Vor allem die CGT ist die Hüterin der Privilegien der Staatsbediensteten und der Arbeitnehmer, die einen Job haben. Wer drinnen ist im Arbeitsmarkt, ist geschützt und dafür bleiben die draußen, die keinen Job haben. Ohne eine Liberalisierung des Arbeitsrechts wird auch Macron scheitern, wie alle seine Vorgänger, die die Klassengesellschaft Frankreichs reformieren wollten.
Auf der einen Seite eine korrupte selbstbezogene Elite, auf der anderen Seite eine klassenbewusste Unterschicht, die von den Linksintellektuellen des Rive Gauche (des linken Seineufers) mit kommunistischen Theorien versorgt wird. Der Kampf von Maggie Thatcher gegen die militanten Bergarbeiter, die Großbritannien voll im Griff hatten, dauerte über ein Jahr. Einfacher wird das in Frankreich auch nicht werden. Dazu muss Macron parallel zum Kampf mit der Straße, der verwöhnten Elite die Privilegien der Selbstbedienung abnehmen. Wie sehr diese die Gesellschaft unterwandert haben, zeigt nicht nur das Selbstverständnis, mit dem der Konservative Fillon davon ausging, dass er ein Recht hatte, seine Frau und Kinder aus der Staatskasse zu versorgen, sondern auch die ersten Rücktritte aus Macrons Regierung, wo von ihm ausgesuchten Ministern ähnliche Raffgier nachgewiesen werden konnte.
Für Deutschland wird es in jedem Fall teuer
Als ob dies nicht genug wäre, will Macron auch einen Neustart für Europa. Wie der aussehen soll, ist noch unklar. Heißt für ihn: Mehr Europa gleich mehr Vergemeinschaftung der Schulden, mehr Verantwortung für Brüssel, weniger Eigenverantwortung der einzelnen Staaten? Oder will er wirklich eine Rückkehr zu Rechtsstaatlichkeit und transparenten Strukturen? Wir wissen es noch nicht. Mit ziemlicher Sicherheit aber kann behauptet werden, dass ein Scheitern dieses Hoffnungsträgers für Deutschland sehr teuer werden wird. Dann wird wieder ein völlig anderes Wahlergebnis kommen, mit dem die Nichtwähler die Einfärbung der politischen Landkarte bestimmen. Nicht sicher ist dann, ob Marine Le Pen mit ihrer Neigung nach Moskau oder Mélenchon mit seinen Vorbildern Kuba und Venezuela die Wahl gewinnt. Alles würde für uns teurer werden als die Pläne Macrons, die sicher auch nicht billig sind.
Nein, Macron wird auch nicht über das Wasser laufen können, auch wenn das seine Bewunderer in ganz Europa jetzt erwarten. Hoffentlich weiß er das selbst auch. Aber er ist angetreten, die französische Klassengesellschaft aufzuweichen, und wenn ihm das gelingt, ist das schon "Wunder" genug. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, was leichter ist. Über Wasser laufen oder Frankreichs Klassengesellschaft zu reformieren.
Für seine ZDF und ARD Reportagen hat der Autor zwei Mal den deutsch-französischen Journalistenpreis erhaltern