Von Moritz Mücke.
Im Zuge der Verkündung, der Begriff „postfaktisch“ sei zum Wort des (vergangenen) Jahres erkoren worden, ist es in Deutschland zu Spekulationen darüber gekommen, ob dem Volk – und natürlich zuvörderst den über Brexit, AfD und Trump nicht hinreichend Empörten – das Gespür für die Realität verloren gegangen ist. Untermauert wird dieser Vorwurf mit dem Verdacht, es sei möglicherweise zusätzlich zu einem übermäßigen Konsum von Fake News gekommen – wobei nicht immer klar ist, ob es sich dabei noch um „falsche Meldungen“ oder schon um „falsche Meinungen“ handelt.
Zumindest was die Fake News betrifft, ist den die Vorwürfe Erhebenden entgegenzuhalten, dass die Finte gehörig nach hinten losgegangen ist – denn wer verbreitet schon mehr Fake News als der regimetreue und mit öffentlich-rechtlichen Steuergeldern vergoldete Medienadel? In den USA, wo der Begriff schon etwas länger die Gemüter der geprügelten Eliten erhitzt, hat sich das Blatt längst gewendet. Auf der Trump-populistischen und immer erfolgreicheren Nachrichtenseite Breitbart etwa gibt es für eine entsprechende Suchanfrage bereits über einhunderttausend Treffer – mit Artikeln wie „12 Fake News Stories from the Mainstream Media“. Anders gesagt: Die etablierten Medien sind mal wieder, nachdem sie subversiv-investigativ ausgeholt hatten, über das eigene Bein gestolpert. Dass sie jetzt, wie es beispielsweise die Washington Post kürzlich getan hat, Krokodilstränen darüber vergießen, dass ihnen die Gegenseite den Propagandabegriff abgeluchst hat, so wie ein Kleinkind einem anderen das Spielzeug, ist da mehr als wohlfeil.
Die große Ironie, die der Unterstellung des Postfaktischen innewohnt, besteht darin, dass die Medienschaffenden, die wohl mehrheitlich dem grünlinken Lifestyle-Milieu entstammen, selber die Erben jener Tradition sind, die sich ursprünglich geradezu damit brüstete, der Westlichen Zivilisation eine offenbar als übermäßig empfundene Obsession mit der Objektivität austreiben zu wollen. Die Basisarbeit leistete sicherlich Friedrich Nietzsche („Es gibt keine Fakten, nur Interpretationen“). Der war zwar weder links noch grün, aber daran stört sich auch heute weder links noch grün. Indem sein Subjektivismus verdaut und dadurch dem postmodernen Ideenkreislauf hinzugeführt werden konnte, steht auch der von Nietzsche veräppelte, demokratisch-marxistische „letzte Mensch“ plötzlich auf der Seite der Bourgeoisie. (Der amerikanische Philosoph Allan Bloom hat in seinem berühmten Bestseller The Closing of the American Mind zu diesem Thema ein passend betiteltes Kapitel vorgelegt: „The Nietzscheanization of the Left or Vice Versa“.)
Der Kult um den Subjektivismus: Die "Werte" als Ende der Fakten
Bei dem zweiten Vater unserer postfaktischen und postobjektiven Postmoderne handelt es sich um Max Weber. Der hat mit seinem Prinzip der Werturteilsfreiheit einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Sozialwissenschaften geleistet, damit aber gleichzeitig auch den Grundstein für die Unterscheidung zwischen „Fakten“ und „Werten“ gelegt – welche wiederrum letztlich in der im Westen inzwischen weitverbreiteten Annahme mündete, jeder Mensch habe nun mal seine eigenen „Werte“ und mit Fakten brauche man deshalb, zumindest in moralischen Fragen, gar nicht erst herumzuhantieren. Prinzipien der Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Schönheit haben ihren Ursprung demnach nicht in der Natur ihrer Gegenstände, sondern in subjektiv gesetzten „Werten“, die willkürlich über den Erdball verstreut zu sein scheinen. Dass ausgerechnet sich selbst als konservativ bezeichnende Politiker gerne mit ihren „Werten“ werben, so wie ein Pfau mit seinem Federkleid, entbehrt da nicht einer gewissen Ironie. Offenbar sind sie sich des quasi-nihilistischen Ursprungs dieses Begriffes nicht bewusst.
Dass der Kult um den Subjektivismus sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts letztlich in den Elfenbeintürmen der linksgrünen Elite ansiedeln würde, war nicht zwangsläufig. (Immerhin sprachen auch die Nazis beispielsweise vom „Triumph des Willens“ – denn wo ein subjektiver Wille ist, da braucht man die auf die objektive Realität ausgerichtete Vernunft nicht mehr.) Dennoch überrascht es nicht, dass die Advokaten so subjektiv gefärbter Konzepte wie der „Selbstverwirklichung“ oder des bunten Wertezirkus’ des „Multikulturalismus“ ihren Gefallen an der faktenbefreiten Postmoderne gefunden haben.
Besonders deutlich wird der Triumph des Wollens an der Rolle der Natur. In der antiken Philosophie ging es darum, in ihr einen Standard zu erkennen, in dem die Prinzipien des gerechten und guten Lebens bereits angelegt sind. Die modernen Philosophen wollten die Natur hingegen erobern und dem menschlichen Willen Untertan machen (und ihr Erfolg in der Sache war nicht gering). Die Postmoderne scheint so etwas wie die letzte Stufe des Wollens erreicht zu haben: Natur wird weder imitiert noch erobert, sondern ignoriert und transzendiert.
Ob Bruce Jenner morgen Caitlyn (und übermorgen wieder Bruce) heißt, scheint nur noch eine Frage des Willens zu sein, denn an von Natur aus festgelegte Geschlechter glaubt man nicht mehr – sie werden überwunden. Transhumanisten arbeiten an der Kultivierung künstlicher Intelligenz und somit an der gewollten Transzendierung natürlicher Intelligenz. Sogar die eigene Ethnizität ist nicht mehr in Stein gemeißelt: Ist der Wille da, so ist die Natur kein Hindernis mehr. Letzteres konnte man zumindest der irgendwann-nicht-mehr-ganz-so-erfolgreichen Hochstapelei einer gewissen Rachel Dolezal entnehmen, die, als weiße Amerikanerin geboren, sich doch lieber für ein Leben als Schwarze entschied.
Ob der Postmoderne auch in Zukunft ein erfolgreicher Spagat zwischen Wissenschaft und Willkür, Fakten und Werten, Willen und Natur gelingt? Es ist ihr zu gönnen. Denn mit einer Alternative kann ich leider nicht dienen.
Moritz Mücke studiert Politik an der Graduiertenschule des Hillsdale College in Michigan. 2015 ist er ein Publius Fellow am Claremont Institute.