Achtzig französische Intellektuelle kritisieren in einem offenen Brief die sogenannte „dekoloniale“ Bewegung. Sie wenden sich gegen einen vermeintlich emanzipatorischen Aktivismus, der jedoch in Wahrheit einen Frontalangriff auf die Freiheit und die Werte der Aufklärung darstellt und die Gesellschaft spaltet. Achgut.com dokumentiert hier ihren Aufruf:
Es vergeht heute kaum ein Monat ohne etliche Universitäts- und Kulturveranstaltungen, die von der militanten „dekolonialen“ Bewegung und den ihr nahestehenden Organisationen wie der „Partei der Indigenen der Republik“, dem „Kollektiv gegen die Islamophobie in Frankreich“ oder dem „Frauenmarsch für die Würde“ getragen werden. Diese unterschiedlichen Gruppen werden in den renommiertesten akademischen Einrichtungen, Theatern und Museen willkommen geheißen, darunter das Collège de France, die École normale supérieure, das Louvre und die Pariser Philharmonie. Anfang Oktober veranstaltete das Haus der Humanwissenschaften das Seminar „Gender, Nation und Säkularismus“, das voller rassistischer Bezüge war: „Gender-Kolonialität“, „weißer Feminismus“, „Rassifizierung“, „geschlechtsspezifische Rassenmacht“ (anders gesagt: Es ging um die vermeintliche Macht der „Weißen“, den von ihnen „rassifizierten“ Individuen systematisch und bewusst zu schaden).
Obwohl sich diese Bewegungen als progressiv präsentieren (antirassistisch, dekolonial, feministisch...), kapern sie seit einigen Jahren Kämpfe für die individuelle Emanzipation zugunsten von Zielen, die der Freiheit entgegengesetzt sind und die den republikanischen Universalismus frontal angreifen: Rassismus, Partikularismus, Segregation (nach Hautfarbe, Geschlecht, Religionsausübung). Sie gehen sogar so weit, den Feminismus zu beschwören, um das Tragen des Kopftuchs zu legitimieren, den Säkularismus, um ihre religiösen Ansprüche zu legitimieren, und den Universalismus, um den Kommunitarismus zu legitimieren. Schließlich verurteilen sie entgegen jeder Realität den „staatlichen Rassismus“, der in Frankreich grassieren soll, während sie gleichzeitig vom Staat Wohlwollen und finanzielle Unterstützung fordern – und erhalten.
Die Strategie der militanten „dekolonialen“ Kämpfer und ihrer selbstgefälligen Sympathisanten besteht darin, ihre Ideologie als wissenschaftliche Wahrheit auszugeben, und ihre Gegner als „rassistisch“ und „islamophob“ zu diskreditieren. Daher stammt auch ihre Neigung, kontroverse Debatten abzulehnen oder gar zu verteufeln. Daher auch ihr Einsatz von Methoden des intellektuellen Terrorismus, die an den Umgang der Stalinisten mit den weitsichtigsten europäischen Intellektuellen erinnern.
Nach den Versuchen, Historiker auszugrenzen (Olivier Pétré-Grenouilleau, Virginie Chaillou-Atrous, Sylvain Gouguenheim, Georges Bensoussan), Philosophen (Marcel Gauchet, Pierre-André Taguieff), Politiker (Laurent Bouvet, Josepha Laroche), Soziologen (Nathalie Heinich, Stéphane Dorin), Ökonomen (Jérôme Maucourant), Geographen und Demographen (Michèle Tribalat, Christophe Guilluy), Schriftsteller und Essayisten (Kamel Daoud, Pascal Bruckner, Mohamed Louizi), werden nun die Literatur- und Theaterwissenschaftler Alexandre Gefen und Isabelle Barbéris Opfer einer Verleumdungskampagne. Im kulturellen Bereich ziehen einige der bekanntesten Künstler die Wut der Fundamentalisten auf sich. Sie werden dafür bestraft, dass sie einen universalistischen Diskurs geführt haben, der Partikularismus und Rassismus kritisiert.
Die Methode ist bewährt: Diese „nicht-konformen“ Intellektuellen werden von Feinden der Debatte überwacht, die auf den geringsten Vorwand warten, um sie zu isolieren und zu diskreditieren. Ihre Ideen werden in diffamierender Polemik ertränkt, Aussagen aus dem Zusammenhang gerissen, in Petitionen oder in den Medien infame Ziele und Motive unterstellt (Assoziation mit Rechtsextremen, „Phobien“ aller Art…), alles, um die Anklage des „Rassismus“ aufrechtzuerhalten. In den sozialen Netzwerken werden nicht-konforme Denker belästigt und verleumdet. Parallel dazu belasten die antiaufklärerischen „dekolonialen“ Kämpfer die Gerichte der Republik mit ihren von Rachsucht motivierten Klagen.
Unsere kulturellen, akademischen und wissenschaftlichen Institutionen (ganz zu schweigen von den Mittelschulen und Gymnasien, die ebenfalls stark betroffen sind) werden zur Zielscheibe von Angriffen, die unter dem Deckmantel der Verurteilung „kolonialer“ Diskriminierung aufklärerische Prinzipien wie Meinungsfreiheit und Universalismus untergraben wollen. Kolloquien, Ausstellungen, Aufführungen, Filme und „dekoloniale“ Bücher reaktivieren die Idee der „Rasse“. Sie instrumentalisieren die Schuld der einen und verschärfen die Ressentiments der anderen, was interethnischen Hass und Spaltungen fördert. Dies ist die Weltsicht der „dekolonialistischen“ Aktivisten, die in der Welt der Hochschulbildung (Universitäten, pädagogische Hochschulen, nationale Journalistenschulen) und Kultur ihre entristische Strategie vorantreiben.
Die Situation ist alarmierend. Der intellektuelle Pluralismus, den die Befürworter des „Dekolonialismus“ zu neutralisieren versuchen, ist eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren unserer Demokratie. Außerdem bedeutet die Begrüßung der „dekolonialen“ Ideologie an der Universität den Verzicht auf den jahrhundertealten Qualitätsanspruch, der dieser Institution ihr Ansehen verlieh.
Wir fordern die Behörden, die Leiter von Kultur-, Bildungs- und Forschungseinrichtungen, aber auch die Justiz auf, eine Wende einzuleiten. Grundlegende Kriterien der Wissenschaftlichkeit müssen eingehalten werden. Debatten müssen offen und kontrovers sein. Die Behörden und Institutionen, für die Sie verantwortlich sind, dürfen nicht mehr gegen die Republik eingesetzt werden. Es liegt an jedem einzelnen von Ihnen, dafür zu sorgen, dass der unwürdige Missbrauch der Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die unserer Demokratie zugrunde liegen, ein für alle Mal unterbunden wird.
Aus dem Französischen übersetzt von Kolja Zydatiss. Die französische Version erschien zuerst bei lepoint.fr.