Vera Lengsfeld / 25.07.2007 / 23:38 / 0 / Seite ausdrucken

Der Tod der Anderen

Gestern habe ich meinen Haftkameraden und Freund Charly ins Klinikum Erfurt gebracht.
Siebzehn Jahre DDR-Knast, das erste mal 1969 mit 16, weil er die Rolling Stones life erleben wollte, auf dem Dach des Springer-Hochhauses, das damals als einsamer Fels direkt neben der tödlichen Mauer stand. Er wurde wie viele andere Jugendliche verhaftet, später als so genannter Rückfall-Täter zu immer höheren Strafen verurteilt. Charly wollte sich nie unterkriegen lassen. Im Knast hat er bis zu tausend Liegestütze pro Tag gemacht und ist die Treppe auf Händen hoch gelaufen. Er hat sieben Jahre Einzelhaft als „Besserungsunwilliger“
überlebt, zwei Lungenrisse, verursacht durch Misshandlungen, lag tagelang unbehandelt in einem Keller, durch dessen Fenster er dienstags den Leichenwagen der Haftanstalt die Toten der Woche abtransportieren sah, wog am Ende dieser Tortour als 1,87m- Mann nur noch 48 Kilo. Walter Kempowski wollte über Charly schreiben. Aber Charly dachte, das könne er irgendwann später noch tun. Jetzt ist Kempowski krank und Charly muss sich einer fürchterlichen Operation unterziehen. Man sollte wichtige Dinge immer gleich tun, denn sonst könnten sie ungetan bleiben.
Das die DDR, endlich einmal als das Drecksland bezeichnet wurde, das sie war , ist Ulrich Mühe zu verdanken, von dessen Tod wir heute erst erfahren haben. Er war ein wunderbarer Schauspieler. Aber mit der Rolle des Stasi-Hauptmanns Wiesler hat Mühe mehr geliefert als eindrückliche Schauspielkunst. Er hat der Nation klar gemacht, dass die DDR kein kauziges Gesellenstück gutwilliger, aber ungeschickter Weltverbesserer war, sondern eine widerliche ,kleinkarierte Diktatur. Mit seiner eindrücklichen Darstellung des Stasimannes Wiesler hat Mühe erfahrbar gemacht, was diese Diktatur den Menschen antat, aber auch, das jeder sie durchschauen und sich von ihr abwenden konnte.
Das heute immer mehr junge Menschen den Stasiknast Hohenschönhausen besuchen, ist auch sein Verdienst.
Heute in der Tagesschau kam eine Aufnahme von Mühe auf der Demonstration am 4.  November 1989 in Berlin . Er las den Beginn von Artikel 27 der Verfassung der DDR.
„Jeder Bürger der DDR hat das Recht , seine Meinung frei und öffentlich zu äußern.“
Mit diesem Satz auf meinem Tansparent bin ich anderthalb Jahre zuvor verhaftet und verurteilt worden. Im November 89 wagte die Stasi nicht mehr, zu widersprechen. Mühe sah so jung aus, so entschlossen, so voller Hoffnung. Er hat in den achtzehn Jahren, die ihm blieben, den Schauspielolymp erklommen.. Er hätte sich noch lange dort aufgehalten, wenn ihm die DDR nicht so auf den Magen geschlagen wäre.
Der Tod hat Mühe geholt. Ich wünsche mir verzweifelt, dass es Charly gelingt, ihm von der Schippe zu springen.

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