Von Firuze B.
Da nun allseits bekannt ist, dass sich Deutschland seit dem Jahr 2015 grundlegend verändert hat, folgt nun eine kleine Geschichte, die für mich spürbar machte, dass dieser Wandel nun auch in meiner kleinen Welt angekommen ist. Auch in den gutbetuchten Städten Hessens ist es deutlich sichtbar und spürbar geworden, dass der Bevölkerungszuwachs durch Einwanderung in jeglicher Form stattgefunden hat und gegenwärtig auch weiterhin stattfindet. Das Stadtbild hat sich verändert, die Städte und Hotspots sind weitaus voller, als ich es gewohnt war. Sei es tagsüber oder in den Abendstunden und vor allem bei Nacht an den Wochenenden ist es auffällig, dass mehr junge aber auch überwiegend männliche Personen, meist in Gruppen, unterwegs sind.
Da ich selbst schon in großen Städten wie Hannover gelebt habe, ist es für mich eigentlich nichts Ungewöhnliches, dass an den Wochenenden Horden von Menschen ihre Streifzüge durch die Nächte machen. Zu diesen gehörte ich schließlich auch – und tue es ab und an immer noch. In kleineren Städten ist es „fast“ dasselbe, nur fällt es schneller auf, wenn sich was an den Menschenmengen verändert. In so einer kleineren Stadt wohne und lebe ich seit fast 11 Jahren und möchte auf die Veränderungen und die Erfahrungen eingehen, die ich hier erst kürzlich machte.
Gemeinsam mit einer Freundin gingen wir auf ein ich nenne es mal „Stadtfest“, für ein ich sage mal „gutbetuchtes Klientel“, zu dem ich zwar selbst nicht gehöre, aber die Atmosphäre ist dort sehr angenehm. Man steht herum, trinkt hauptsächlich Wein und lauscht der Live-Band, bis der Rotwein einen müde macht und man vor der Frage steht: „Gehen wir noch wohin oder nach Hause?“
In Wirklichkeit besitzen weder meine Freundin noch ich die selbe Energie und Motivation wie vor ein oder zwei Jahren nach zwei Gläsern Wein (in der Tat wirkt ab 30 der Alkohol ganz anders als vorher). Aber die Blöße wollten wir uns nicht geben und wir wollten durch die Innenstadt zu einer Bar spazieren. Nun ist es so, dass ich eine lange Party-Karriere hinter mir habe und wirklich schon vieles gesehen habe, was Party und Alkohol oder andere „Genussmittel“ mit den Menschen so machen können. Was ich damit sagen will ist: Mich beeindruckt oder beängstigt nachts so gut wie gar nichts mehr. Denn meine Erfahrungen aus der Vergangenheit waren diesbezüglich meist unbefleckter und unbedrohlicher Natur.
Der will nur spielen
Klar hat man schon auf dem Heimweg kotzende, singende, aggressive, anhängliche, tanzende Besoffene oder besoffene Gruppen erlebt, vor denen man sich meistens fern hielt. Männer wie Frauen. Auch traf man zwielichtige Gestalten, bei denen man froh war, dass der Bus schon einstiegsbereit an der Haltestelle wartete. Aber auch das gehört zum Nachtleben mit dazu, und meistens wollen alle „nur spielen“. Also einfach weiter gehen, falls man nicht selbst so betrunken ist und mitgrölt, mittanzt oder mitkotzt.
An dem besagten Abend waren es aber nur zwei Weingläser für je 7 Euro, verteilt auf drei Stunden. „Schwache Leistung“ dachten wir, aber dafür war mein Blick nicht getrübt, für das was danach kam.
Wir gingen durch eine wirklich schlecht beleuchtetete Seitenstraße der Fußgängerzone. Durch diese Gasse bin ich nachts gefühlt schon millionenmal gelaufen. Sie befindet sich auch in der Nähe eines bekannten „Brennpunktes“ der Stadt. Das heißt, wir wussten und wissen, dass in dieser Straße auch mal komische Gestalten herumirren, die den Anblick von Frauen nicht unkommentiert lassen können. Manchmal nervig, aber bislang grundsätzlich harmlos. Meine Freundin und ich sprachen und lachten miteinander.
Der Klang unseres Gelächters schien wohl wie ein Lockruf durch die Gasse gehallt zu sein. Obwohl die kurze Gasse zunächst leer schien, tauchten an den Seiten drei Burschen auf, die mit „Katzenlockgeräuschen“ auf sich aufmerksam machen wollten. Wir erkannten in der schlecht beleuchteten Gasse zwar nicht direkt, um was für Personen es sich handelt, aber durch meine Erfahrungen als Frau – türkische Frau – mit deutschen oder ausländischen Männern ahnten wir, dass es Leute aus „unserem“ Kulturkreis sein mussten. Als wir uns näherten, sahen wir sie. Es handelte sich um ungefähr 17- bis 19-jährige Burschen „südländischen Aussehens“, auch nichts Ungewöhnliches.
Es gibt kein „Anmachgeräusch“, das mich so wütend macht
Kurzer Nebengedanke: Es gibt kein „Anmachgeräusch“, das mich schneller wütend macht als dieses „Pss Psss Pssss“, und erlebt habe ich es noch nie von einem deutschen Mann. Waren sie mal in Ägypten? Da rennen zwar tatsächlich auch viele Katzen herum, aber wenn man als Frau dort herumläuft (unverhüllt), wünscht man sich schon fast lieber einen Tinnitus, als von diesem penetranten „Pss Psss Psss“ dauerbeschallt zu werden. Das gilt zwar auch für andere Länder, in denen die einheimischen Frauen meistens überwiegend verhüllt sind – aber das ist jetzt ein anderes Thema.
Weiter im Text.
Als dieses besagte „Pss Pss Psss“ durch die Gasse nicht aufhörte, sagte meine Freundin laut in die Richtung der Kerle: „Ist gut jetzt, ich könnte deine Mutter sein!“ Ich zuckte etwas zusammen und musste sogar lachen. Zusammen zuckte ich wegen dem Wort Mutter. Lachen musste ich, weil es vielleicht sogar stimmen könnte, da einer von ihnen wirklich sehr jung aussah. Ok, dann eben eine junge Mutter aber es wäre durchaus möglich. Aber ich zuckte auch kurz zusammen, weil in dem ganzen Satz das Wort "Mutter" am lautesten schallte und ich aus Erfahrungen weiß, daß dieses Wort in bestimmten Menschen einen Kurzschluss in bestimmten Hirnregionen auslösen kann, völlig egal in welchem Kontext.
Ich ahnte, dass kommen wird, was kommen musste – nein keine Schlägerei, aber eine Diskussion darüber, warum „die Mutter“ hineingezogen wurde. Einer von der Kerlen rief: „Ey, wir haben doch gar nichts Schlimmes gemacht, warum sagst du so über Mutter?“ Als die Jungs aufgrund unseres Aussehens erkannten (ja, sowas kann man erkennen), dass meine Freundin und ich für sie in ihren Augen „Landsfrauen“ sind, nannten sie uns plötzlich „Schwester“. Ok, man erkannte also auch schon mal an, dass wir älter als sie waren.
Zu den drei Kerlen kamen innerhalb kürzester Zeit 7 bis 8 weitere hinzu. Sie sprachen alle etwas Deutsch, manche recht verständlich, andere gebrochen, aber vor allem alle durcheinander. Ich würde sagen, es war eine gemischte Gruppe von „länger hier Lebenden“ und „neu Hinzugekommenen“. Kurz darauf kam es zu einem Wortgefecht. Zu dem Wortführer der Gruppe sagte ich wütend ungefähr in diesem Wortlaut: “Ist es nicht möglich dass Frauen an euch vorbei laufen, ohne dass ihr euch so dämlich benehmt?“ Lest ihr eigentlich Zeitungen? Bekommt ihr mit, was in den Nachrichten über euch berichtet wird? Und dann wundert ihr euch, dass ihr alle in einen Topf geworfen werdet?“
„Habt mal mehr Anstand und Respekt und benehmt euch“
Meine Freundin hörte heraus, daß es sich um Afghanen handelt, da sie selbst Iranerin ist und die Sprache Farsi versteht. Sie sagte auf persisch zu der Gruppe: „Habt mal mehr Anstand und Respekt und benehmt euch.“ Den Jungs gefiel offenbar die Aufmerksamkeit und die Diskussion mit uns. Das erkannte man daran, dass sie sichtlich erfreut waren, dass wir überhaupt was sagten, immer wieder einer lachte und „sorry“ sagte, nach unseren Namen fragte und so weiter. Die wollten eben nur spielen und „mit Frauen reden“, dachte ich. Wer hängt denn freiwillig in so einer Gasse herum? Benachteiligte Kiddies, die vielleicht kein Geld für Clubs oder Bars haben. Eben Außenseiter, aber trotzdem frech und aufdringlich. Wir hatten trotzdem keine Angst. Es war eher das Gefühl, als würde ich kleine freche Jungs zurechtweisen. Jungs, die nur mal einen Stups brauchten, um zu verstehen, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung war.
Stattdessen wurde ich an diesem Abend aber eines anderen belehrt. Ich stand vor einem Jungen, der ständig sagte: „Schwester, tut uns leid, wir wussten nicht, dass ihr Leute von uns seid.“ Ich wurde noch wütender und fragte: „Ach, bei deutschen Frauen ist das ok oder was?! Ich bin weder deine Schwester noch jemand von euch.“
Plötzlich schob mir jemand von der Seite sein Smartphone direkt vor mein Gesicht, das Display leuchtete hell auf und die Uhrzeit wurde angezeigt. Ich hörte wie dieser Jemand zu mir sagte: „Müssen Frauen wie du um diese Uhrzeit nicht zuhause sein?“ Ich drehte meinen Kopf zu der Hand und schaute die Person an, die es wagte, mir – einer erwachsenen Frau – diese Frage zu stellen, mit der mich nicht mal mein Vater je konfrontierte hatte. Übrigens war es ungefähr 1:45 Uhr. Vor Jahren gingen wir erst um diese Uhrzeit raus. Er hatte mich tatsächlich in meinem Stolz getroffen in vielerlei Hinsicht.
Ich schlug seine Hand vor meinem Gesicht weg und wollte ihm eigentlich eine scheppern, als ich sah, dass es auch noch der jüngste Bursche aus der Gruppe war (der aussah wie 12 bis 13 Jahre), der mir diese Frage stellte. Viele fragen sich jetzt vielleicht: Wie kann man so leichtsinnig und aggressiv reagieren? Dazu sage ich nur: „Ich kenne mein Pack.“ Für solche Respektlosigkeiten kriegt er zu Hause, und das weiß ich, zwei Tage lang am Stück Schläge. Keine antiautoritären pädagogischen Maßnahmen wie „gewaltlose Kommunikation“. Die ziehen bei dem nicht. Wie bei so vielen anderen nicht. Ist aber wieder ein anderes Thema.
Dieser Junge wusste ganz genau, dass er eine Grenze bei „Älteren“ überschritten hatte. Dafür muss ich keine Afghanin sein – denn die Kultur ähnelt sich eben und ich war, weil ich älter bin als er, im Recht. Klingt einfach, ist es auch. In diesen Kreisen ist „Gleichstellung“ für gewöhnlich noch weit entfernt. Die jüngeren haben die Klappe zu halten, respektvoll zu sein, auch Fremden gegenüber – auch Frauen gegenüber. Eigentlich. Bis heute habe ich nicht einmal den Namen meiner älteren Schwester benutzt, wenn ich sie anspreche – geschweige denn die Eltern beim Vornamen genannt. Bei Afghanen ist es nicht viel anders – deswegen dieses ständige „Schwester, Schwester“. Und da ich kulturell vielfältig bin, bezog ich mich sofort auf sein Wertesystem der Hierarchie und wollte ihm eine langen.
„Schwester, sorry, er ist noch so jung“
Also kuschte er, als ich auf ihn loswollte, und er rannte ein Stück kichernd weg. Jetzt konnte ich wirklich seine Tante sei, die ihm mit dem Pantoffel hinterherlief. Ich schrie ihn an, wie respektlos er sei, und dass ich ihm bis nach Hause folgen würde, bis zu seinen Eltern und ihnen erzählen würde, wie er sich draußen benimmt. Das machte ihm tatsächlich Angst, weil ich es wirklich ernst meinte. Daraufhin kamen seine Freunde in meine Nähe und wollten mich beschwichtigen: „Schwester, sorry, er ist noch so jung, er ist bescheuert, er weiß nicht, was er sagt. Wir klatschen dem nachher eine!“
Ich meckerte noch ein wenig und schaute um mich herum. Die Gruppe war mittlerweile bis zu 15 Personen groß. Sie tummelten sich um uns herum. Plötzlich stand ein Junge vor mir, den ich die ganze Zeit nicht gesehen hatte. Er trug eine Kappe, eine kleine Louis-Tasche und hatte die Hände in den Jackentaschen. Er war vielleicht nur etwas größer als ich und starrte mich seelenruhig an. Plötzlich sagte er mit kalter, klarer Stimme: „Mädchen, muck hier nicht rum – ich steche euch ab!“
Ich erschrak vor dieser kalten, klaren und ernsten Art. Sowas hatte ich absolut nicht erwartet. Noch nie gehört. Meine Freundin hörte den Satz von ihm nicht, merkte aber an meiner Reaktion, dass sich schlagartig etwas geändert hatte. Und zum ersten Mal in dieser Nacht hatte ich Angst.
Nicht vor der Gruppe, sondern vor ihm. Aber zu spät, dachte ich. Ich war zu laut gewesen, zu konfrontativ, zu offensiv. Ich konnte nicht mehr zurückrudern und Angst zeigen und damit mein Gesicht verlieren. Aber ich hatte Angst, denn „abstechen“ ist mittlerweile keine Seltenheit mehr, nichts Ungewöhnliches mehr und fast täglich in den Medien. Vielleicht hatte ich die Gruppe doch falsch eingeschätzt – immerhin waren es Afghanen und ich Türkin – vielleicht war „unsere Kultur“ doch nicht so ähnlich, wie ich unterstellt hatte. Vielleicht war mein Verständnis von dieser Kultur schon längst überholt? Gibt es sie überhaupt noch? Vor 10 bis 15 Jahren hätte mich so ein Satz niemals beeindruckt. Also schrie ich laut, damit es alle hören konnten: „Du willst mich abstechen? OK! sag das nochmal, aber sag es vor der Polizei!“
Ich hatte Angst vor dem „abstechen“
Als das Wort Polizei fiel, rannten bereits ein paar der Kerle weg. In mir kam Wut darüber auf, dass ich meiner Angst erlag. Aber Angst ist eben auch eine Schutzfunktion. Also nahm ich Abstand von dem Kerl und wählte die 110.
Der, der mich bedrohte, stand noch immer unbeeindruckt da. Erst jetzt merkte ich, dass ich längst in einer sehr bedrohlichen Lage war, die ich zu Beginn jedoch einfach nicht ernst genommen hatte, nicht ernst nehmen wollte, weder ich noch meine Freundin. Weil ich nie Angst hatte, weil ich mich immer stark fühlte, ich in Deutschland lebe und nichts zu befürchten hatte. Weil ich immer dachte – selbst wenn was passieren würde – andere Menschen zur Hilfe eilen würden. Aber ich hatte Angst vor dem „abstechen“ und keine anderen Personen außer den Kerlen waren in der Gasse.
Einer kam zu mir, während ich telefonierte und bettelte mich an, die Polizei nicht zu rufen, weil sein Kumpel auf Bewährung sei... warum er blieb ist, ist mir bis heute rätselhaft, warum man dann noch mit „abstechen“ droht, erst recht. Warum sticht man überhaupt Menschen ab? Warum verstehe ich das alles nicht mehr, obwohl ich immer glaubte, diese Menschen zu verstehen? Immer dachte, dass es mehr Verbindendes als Spaltendes gibt. Aber das war mir so fremd, obwohl es leider kein Einzelfall mehr ist.
Als ich den Notruf am Telefon hatte, sagte ich, dass meine Freundin und ich von einer großen Gruppe Afghanen bedroht werden. Ich sagte es der Frau am Telefon ungefähr dreimal, um die Dringlichkeit zu untermauern. Ich sagte ihr auch, dass die Gruppe aus über zehn Personen bestand. Dass man uns bedrängte und drohte, uns abzustechen. Ich hatte Angst, dass sie alle weglaufen würden und der ganze Stress ungeahndet bleiben würde. Die Hälfte war bereits abgehauen.
Bitte weitergehen!
Die Dame am Notruf sagte zu mir: „Gehen sie am besten schnell weiter!“ Weitergehen-Weitergehen-Weitergehen kreiste es in meinem Kopf. Weitergehen?! Wohin denn? Wer garantiert mir, dass dieses Weitergehen mich vor der Gefahr schützen würde? Wie kann man in der heutigen Zeit, in der eine Frau beim Notruf anruft und hysterisch sagt: „Ich werde von einer Gruppe afghanischer Kerle bedrängt und bedroht!“, seelenruhig am Telefon sagen: „Gehen Sie am besten weiter!“ Ich schrie ins Telefon: „Schicken sie bitte sofort eine Streife!“ Die gelangweilte Stimme am Telefon erwiderte: „Das kann jetzt aber einige Minuten dauern. Alle Streifen sind zur Zeit unterwegs.“ Also gab ich ihr den Standort durch und legte auf. Ich drehte mich um, und wie es zu erwarten war, waren alle Burschen inklusive des „Abstechers“ fort. Nur einer von der Gruppe, der ständig „Schwester“ zu uns sagte und sichtlich traurig war, kam wieder und entschuldigte sich bei uns für seinen Freund. Aber wir redeten nicht mehr mit ihm und warteten auf die Polizei.
Der Polizeiwagen kam an und parkte quer in der Gasse. Eine junge Frau und ein älterer Mann stiegen aus. Die Polizistin war groß, blond, hatte die Haare zusammengebunden und schien nicht älter als 30 zu sein. Also ungefähr in meinem Alter. Sie zückte ihren kleinen Block und kam mit ihrem Kollegen auf uns zu. Wir liefen ihnen entgegen und ich holte währenddessen meinen Ausweis aus dem Portemonnaie.
Hysterisch begann ich zu erzählen. Die Frau schaute mich an und unterbrach mich sofort: „Von wo sind Sie beide denn gekommen?“ Als würde das bei dem Vorfall die größte Rolle spielen. Ich erzählte ihr, dass wir vom besagten Stadtfest kamen und das es in dieser Gasse zu dem Vorfall kam. Sie war sehr ruhig, und ihr Kollege stand ebenfalls ruhig neben ihr und nahm unsere Daten auf.
Deine Freundin und Helferin
Nachdem ich alles erzählt hatte, fragte sie uns, ob wir Alkohol getrunken hätten. Ich sagte dass wir zwei Gläser Wein getrunken hatten vor ungefähr zwei Stunden. Ich spürte, wie langsam meine Souveränität ins Wanken geriet. Trotzdem war ich noch überzeugt, dass ich das Richtige getan hatte und scheute mich auch nicht zu erzählen, dass ich nicht einfach weitergegangen bin und den Kerlen auch mit starkem Gegenwind begegnet war. Doch das war wohl mein größter Fehler, denn anstatt sich der Bedrohung, der Belästigung anzunehmen, nach Beschreibungen der Personen zu fragen, fragte sie mich ganz ruhig: „Warum sind sie nicht einfach weitergegangen?“ Meine Welt brach fast zusammen.
Warum ich das nicht tat, wurde ich an diesem Abend auffällig oft gefragt. Ich war also der Fehler. Sie hätte genauso gut fragen können, weshalb meine Freundin und ich um diese Uhrzeit überhaupt draußen sind. Das wäre übrigens dieselbe Frage gewesen, die mir dieser kleine Junge aus der Gruppe gestellt hatte.
Ich sage ihnen nun, warum ich das nicht tat: Weil ich in Deutschland groß geworden bin und ich als Frau nie echte Angst haben musste in den letzten 15 Jahren, wenn ich abends rausging oder nachts vom Feiern kam. Weil ich noch immer empört bin darüber, dass sogar Kinder aus den hiesigen Kulturen uns westlich geprägten Frauen so respektlos begegnen. Weil scheinbar keiner mehr in der Lage ist, unsere westlichen Werte zu artikulieren, durchzuzusetzen und zu schützen bei diesen Leuten. Weil ich naiverweise Vertrauen in die Menschen und den Umstand hatte, dass gewisse Grenzen im Großen und Ganzen nicht überschritten werden. Weil ich immer mutig und stark war nicht leise und passiv. Weil ich Ungerechtigkeiten anprangern konnte und immer sicher war, hinter mir werden genügend Menschen stehen, die mein Weltbild teilen und unterstützen. Weil ich eine emanzipierte Frau bin, die sich nicht auf der Straße einfach von Teenagern anpöbeln lässt und stillschweigend fortgeht. Weil ich viel von Anstand und Respekt halte.
Weil ich glaubte, dass ich als Frau in Deutschland ein Recht darauf habe, Schutz zu genießen. Tagsüber sowie auch nachts, egal um welche Uhrzeit, egal wie ich gekleidet bin, zu tun was ich will, solange ich niemanden damit schade, ohne dass man mich belästigt, geschweige denn bedroht. Dieses Recht gilt selbstverständlich auch für Männer. Weil die kulturellen Werte aus Afghanistan oder anderen Ländern hier in Deutschland eigentlich nicht zählen. Eigentlich...
Da brach in mir etwas zusammen
Aber als ich spürte, dass die Polizistin aufgrund dessen, dass ich mir nicht alles gefallen ließ, nicht opferhaft genug war, also nicht „einfach weiterging“, mir unterstellte, ich sei selbst schuld, da brach in mir etwas zusammen. Es tat weh, denn es erinnerte mich an Situationen weit aus meiner Vergangenheit. Nämlich unter anderem daran, dass ich damals mit ungefähr 13 Jahren als Hure beschimpft worden bin von türkischen Mitschülern, weil ich immer raus durfte und auch mit Jungs spielen konnte.
Türkische Mädchen durften deshalb nicht mehr mit mir spielen – die Beleidigungen taten weh, auch wenn sie niemand offen aussprach. Ich erzählte es meinen Eltern nicht, denn ich schämte mich zu sehr. Meine Eltern hörten jedoch eines Tages, daß man schlecht über mich sprach. Ich hörte meine Eltern streiten und wie meine Mutter zu meinem Vater sagte: “Siehst du, das kommt davon, wenn wir die Mädchen frei lassen. Wir sind selbst schuld. Unser Ruf ist hin.“
Keiner beschützte mich. Keiner prangerte an, dass man ein 13-jähriges Mädchen mit solchen demütigenden Begriffen und Beleidigungen würgte. Wir waren schuld – nein, ich war schuld. Das kommt eben davon, wenn man soviel rausgeht als Mädchen – dann wird man eben belästigt oder beleidigt. Wenn etwas Schlimmes passiert, sagt man dann: „Was hatte sie um die Uhrzeit denn auch da draußen verloren? So redeten oft eigentlich nur Türken, Araber oder Afghanen und dergleichen in solchen Fällen. Ausländer, Migranten mit archaischem und oft islamisch geprägtem Weltbild, in dem „solche Frauen“ eben Pech haben, wenn was passiert. Aber scheinbar ist diese Sichtweise schleichend auch wieder in Deutschland en vogue, obwohl die Verfassung uns was ganz anderes versprochen hatte, eigentlich verspricht. Natürlich gibt es auch deutsche, westliche Männer sowie auch Frauen, die genauso denken – nur sind mir diese bei diesem Vorfall nicht in der Gasse begegnet.
Eine bio-deutsche Polizistin in meinem Alter, von der ich den meisten Zuspruch erhofft hatte, fiel mir in den Rücken. Denn ich stand im Fokus – nicht die Tatsache, bedroht und belästigt worden zu sein. Ich fühlte mich sogar plötzlich schuldig, dass ich meine Freundin durch mein „nicht einfach weitergehen“ in große Gefahr hätte bringen können. Ja sogar in Gefahr gebracht hatte.
Im Nachhinein merkte ich, daß ich längst „deutscher“ war, als ich es je hätte glauben können. Der Schuldkult sitzt tief in mir und entfaltete seine volle Wirkung. Ich kämpfte innerlich mit mir selbst. Meine Gedanken kreisten: „Nein, du bist nicht schuld – oder vielleicht doch? Stell dir vor, es wäre was passiert? Willst du die Welt verbessern oder was!? Wieso bist du nicht weitergegangen? Aber es ist nichts passiert – ja aber es war haarscharf – die Typen haben sich nicht so zu verhalten! – Das geht dich nichts an! – Doch tut es! – Warum?! Wenn alle schweigen und weitergehen, wird es nur schlimmer! – Aber du allein wirst nichts daran ändern, außer dass du dich selbst in Gefahr bringst – willst du das riskieren? ...sei vernünftig!“
Vernünftig sein... vernünftig sein hieß für mich damals, Dinge, die sich offensichtlich nicht gehörten, einfach anzusprechen. Ich Idiot. Dann kam der andere Polizist zu Wort, der vermutlich in meinen Augen sah, dass ich vor lauter Enttäuschung schon fast Tränen in den Augen hatte. Er hatte bislang nur zugehört und verstand mich offenbar. Die Polizistin hatte mich ins Schweigen versetzt, wohingegen er plötzlich sagte: „Nein, sie haben recht. Sie haben genau das Richtige getan und richtig reagiert. Dafür sind wir da. Rufen sie uns immer wieder, wenn Sie sich unsicher fühlen.“
Ich fühlte mich verraten
Da standen sie nun als lebensechte Projektionsflächen: Meine Eltern. War es der Alkohol? Nein, heute nennt man das wohl eher einen Trigger. Ich bin 30 Jahre, und ein uralter Konflikt meiner Eltern in neuen Kleidern sprang auf. Wie erziehen wir unsere Kinder, vor allem Töchter? Lassen wir sie frei und in die deutsche Gesellschaft hinein? Brechen wir die Regeln der eigenen Kultur im Umgang mit den Frauen? Mit dem Risiko, dass man sie als „Abtrünnige“ bezeichnen würde? Als „keine guten Mädchen, keine gute Frau“, dafür aber als liberal erzogene und emanzipierte junge Frauen? Mit dem Risiko, dass ihnen was passieren könnte und wir dann daran schuld sind? Papa war dafür.
Oder sollen unsere Töchter nicht lieber mit traditionellen Werten aus unserer Kultur erzogen werden und den guten Ruf bewahren, der daraus resultiert? Dazu gehört auch, dass Mädchen und Frauen sich eben nicht nachts auf den Straßen rumtreiben, feiern und auch Alkohol trinken. Sollen wir auf das Wert legen, was auch andere denken und sagen könnten? Weil die eigene Community ein wichtiger sozialer Bestandteil im Leben ist? Mama war teilweise dafür, aber nicht aus Überzeugung, sondern um uns zu „schützen“, auch sich selbst, vor genau dem, was da geschah. Aber dieser Schutz hätte auch unsere Freiheiten eingeschränkt. Aber wichtiger war auch das Bild nach außen.
Wegen solcher Erfahrungen aus meiner Vergangenheit zog ich es vor, mich nicht mehr nur mit Ausländern einzulassen oder zu befreunden, sondern integrierte mich in die deutsche Gesellschaft. Denn sie schützte mich ganz pragmatisch per Gesetz als Frau vor solchen Dingen. Schützte... Aber ich fühlte mich verraten von der Polizistin, die irgendwie plötzlich stellvertretend für Deutschland vor mir stand. Ich fühlte mich verraten, weil in dieser Situation Werte verraten wurden von einer Person, die eigentlich allein schon durch die Uniform symbolisch für diese Werte steht.
Oder wollte sie mich nur schützen, an meine Vernunft appellieren? Wie meine Mutter damals? War es gut gemeint? Es wurden Werte verraten, die mich einst lockten und überzeugten, ein Teil dieser Gesellschaft sein zu wollen und einen großen Teil meiner eigenen Wurzeln zu kappen – sie selbst zu verraten. Aber Verräter werden irgendwann selbst verraten. Hätte mein Vater nicht entgegen seiner eigenen Sozialisation und Kultur so sehr auf Emanzipation gepocht, hätte Mama sich vermutlich nie von ihm getrennt. Am Ende war er selbst der Verlierer, das sagte er mal selbst. Ich tat es trotzdem, weil Papa damals nun mal mehr zu sagen hatte und ich ihn bewunderte... aber wer hatte nun recht behalten? Wer hätte gedacht, dass dieser Vorfall es schaffen würde, mein ganzes Weltbild nochmal in Frage zu stellen.
Nach dem beschriebenen Szenario mit der Polizei fragten sie uns, in welche Richtung die Männer gelaufen waren. Einer der Jungen, der nicht abgehauen war, stand zwar die ganze Zeit im Abseits, aber in unserer Nähe. Seltsamerweise, auch wenn er friedlich war, wurden seine Daten nicht aufgenommen. Er war absolut uninteressant für die Polizei, obwohl wir sagten, dass dieser Junge, denjenigen kennt, der mich bedrohte.
So endete dieser Teil, und meine Freundin und ich versuchten nochmal, in eine Bar zu gehen und den Abend positiv ausklingen zu lassen. Aber die Laune war hin.
Wir entschieden uns, nach Hause zu gehen. Aus innerem Trotz wollte ich am liebsten zu Fuß nach Hause laufen, wollte keine Angst haben – hatte sie aber, denn ich wusste nicht, ob dieser Kerl wieder auftauchen würde. Es fuhr aber kein Bus, und ich rief meinen Freund an, der den ganzen Nachhauseweg am Telefon blieb. Das ist fürsorglich von ihm und auch richtig, aber die starke Frau in mir war plötzlich nicht mehr unabhängig von Anderen stark, sondern angewiesen auf Schutz. Das war nichts Schlimmes, aber der Grund dafür nagte an mir.
Danke und auf Wiedersehen
Noch Tage danach beschäftigte mich die Sache sehr. So sehr, dass ich eine Woche später zur Polizeiwache ging, um mich bei dem Polizisten mit einer kleinen Tafel Schokolade zu bedanken und die Reaktion der Polizistin auch dort mal anzusprechen. Trotz meiner kurzeitigen Zweifel bin ich überzeugt, daß ich das Richtige getan hatte. Ja alles war richtig, wenn auch gefährlich.
Auf der Wache angekommen, fragte ich nach dem Polizisten und gab die Uhrzeit meines Notrufs an, die ich noch im Handy hatte. Der Polizist, der nachschaute, kam zu mir und sagte, es täte ihm leid. Er sähe zwar, dass ein Notruf reingekommen sei und dass dann eine Streife losgeschickt wurde, aber zu diesem Fall gäb es keinerlei Informationen oder Notizen. Also rein gar nichts wurde protokolliert.
Er würde aber gerne „den Dank“ an den Polizisten weiterleiten und sich persönlich erkundigen, welcher Kollege das wohl gewesen sein könnte. Nur sei dies sehr schwer, da die Wache ohnehin unterbesetzt sei und oft Polizisten aus anderen Revieren kommen müssten, um die Stellung zu halten.
Enttäuscht verließ ich die Wache und ließ die Schokolade trotzdem da. Vielleicht, so hoffte ich, bekam mein Polizist sie trotzdem noch. Er hatte an diesem Abend dafür Sorge getragen, dass mein Vertrauen in dieses Land nicht völlig in die Brüche ging – wohlbemerkt, dass die Polizistin es ins Wanken brachte. Er hatte verstanden, dass es mir um unsere freiheitlichen Werte ging und nicht darum, kleine dumme Jungs bei der Polizei zu verpfeifen. Ich wusste, ich würde diesem Mann für seine Empathie und seinen Zuspruch an diesem Abend niemals persönlich danken können. Aber der Wille war wenigstens da.
Weder der Vorfall, noch mein Name, noch die Namen der Polizisten oder Sonstiges waren vermerkt worden. In Zeiten wie diesen, in denen es regelrecht vor Horrornachrichten in den Medien hagelt, überwiegend bezüglich eines bestimmten Klientels und Übergriffen auf Frauen, eigentlich ein Skandal. Aber heute wundere ich mich eher darüber, dass ich überhaupt empört war. Empören ist so out geworden.
Firuze B., Jahrgang 1987, studierte Kulturanthropologie/Volkskunde und macht den Master in Globaler Sozial Anthropologie. Sie ist Dozentin für interkulturelle Wertevermittlung.