Ich bin mir sicher, dass auch Sie jemanden in Ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis haben, auf den folgende Charakterisierung zutrifft.
Der „Tadellose“ (fühlen Sie sich frei, hier einen beliebigen Namen einzusetzen...) nimmt am politischen Diskurs kaum oder nur am Rande teil. Dennoch besetzt er klar eine Position: Er ist der Gute. Auch wenn er sich nur wenig äußert, ist zu jeder Zeit und für jeden ersichtlich, welch‘ reine, anständige und gutherzige Absichten er verfolgt. Selbst über Zeitperioden hinweg verliert er diese Haltung nicht. Sollte sich in ein paar Jahren herauskristallisieren, dass die Prophezeiungen der Rechtspopulisten und Hetzer doch nicht so verkehrt waren, dann wird er das schon immer gewusst haben. Oder anders: Von nichts gewusst haben. Auf jeden Fall wird er wieder auf der richtigen, der „guten“ Seite stehen.
Das Schwierige an Diskussionen mit dem „Tadellosen“ ist, dass sich hinter seiner Gutgläubigkeit keinerlei bewusste Intention versteckt. Er teilt tatsächlich, vom Scheitel bis zur Sohle, die tiefe Überzeugung, ein guter Mensch zu sein, auch wenn das die vollkommene Naivität und Selbstaufgabe bedeutet. Selbst hierin sieht er noch den moralischen Triumph. Auf dieser Einstellung basierend, weiß der „Tadellose“ zu jeder Zeit, was richtig und was falsch ist, folgt seinem Bauchgefühl und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Vertrauen und fühlt sich damit allen Selbstzweifeln gegenüber erhaben.
Eigentlich müsste man annehmen, im „Tadellosen“ einen dankbaren Diskussionspartner zu finden: Er ist weder streitsüchtig noch folgt er einer Taktik. Er hat keine oder nur schlechte Argumente, benutzt den Anti-Rassismus kaum als Mode-Erscheinung oder um sein Ego aufzupolieren.
Dennoch fällt mir die politische Auseinandersetzung mit ihm am schwersten. Der Grund ist wohl: Ich beneide ihn. Wie gerne wäre ich auch so gut, so lieb, so… vollkommen. Ich würde gewiss nie zu heiß duschen und den Supermarkt nur noch mit meinen eigenen Tupperdosen betreten, um meinen ökologischen Fußabdruck zu verkleinern. Ich würde selbst bei Sonnenschein einen Regenschirm dabei haben – für den Fall der Fälle – und mein eigenes genfreies Gemüse anbauen. Ich würde Flüchtlingen den Unterschied zwischen Nominativ und Akkusativ erklären und lange Reportagen über ihre beschwerliche Flucht über das Mittelmeer verfassen. Ich würde eine Initiative gründen (irgendwas mit Klima oder Nazis) und auf Demos meine Regenbogen-Fahne umherschwenken. Ich würde mit Yoga beginnen und die neue Platte von Herbert Grönemeyer hören, während mir bei der Vorstellung von Hetzjagden gegen Migranten und fehlender Mildtätigkeit eine Träne über die Wange kullert. Vor allen Dingen würde ich immer und überall die moralisch richtigen und politisch korrekten Worte finden und andere mit meinem Gutsein beeindrucken.
Ich bin ihm nicht viel mehr wert als ein sensibler Nazi-Vergleich
Stattdessen provoziere ich offenbar. Wie gerne würde ich sagen, dass es mir egal ist, deshalb vom „Tadellosen“ verstoßen und als Nazi vorgeführt zu werden. Aber dem ist nicht so. Die moralische Erpressung und der darauffolgende Liebesentzug, mit dem er einen abstraft, schmerzen. Dass er mich trotz aller Gemeinsamkeiten und Verbundenheit ohne zu zögern an den (politischen) Pranger stellt, erschreckt. Dabei ist ihm meine Position – bin ich ihm – nicht viel mehr wert als ein sensibler Nazi-Vergleich, mit dem er mir sogleich sein Verständnis von Toleranz und das Achten meiner Andersartigkeit verdeutlicht. Anstatt meine politische Haltung abzulehnen oder mit mir zu argumentieren, streicht er mich gleich ganz aus seinem Leben, obwohl doch eigentlich ich die Gefühlskalte von uns beiden bin.
Oft denke ich daran, dass wir in Alltagssituationen, in denen unser moralisches Handeln herausgefordert wird, dieselben Entscheidungen treffen würden. Dass nun seine ideologische Verblendung so weit reicht, dass er das nicht mehr erkennen kann, sondern sich stattdessen mit mir ein Feindbild aufbauen muss, das stößt mich in Hilflosigkeit. Ich bin nicht nur eine Enttäuschung, für die es sich zu schämen gilt. Nein, er fühlt sich außerdem von mir persönlich bedroht.
Schließlich baut sein Selbstverständnis auf der Überzeugung auf, sich bei Konfrontation als Opfer zu gerieren und damit Verstand und Verantwortung an der Garderobe abgeben zu können. Nehme ich ihm nun diesen Opferstatus (in den er oftmals viel investiert hat), so attackiere ich ihn in den Grundfesten seiner Identität und entziehe ihm seinen Nährboden. Während die Opferrolle mittlerweile das gesellschaftliche Ansehen einer Tugend genießt, gilt man als ignorant, böse und scheinheilig, wenn man sie nicht anerkennt oder – noch schlimmer – in Frage stellt.
Doch der „Tadellose“ ist weder für diese noch für Kritik im Allgemeinen empfänglich. Auch wenn immer mehr Menschen heutzutage die Hutschnur reißt, wenn sie beobachten, wie Linke und Migranten gemeinsame Sache gegen die bürgerliche Mitte machen (von denen sie sich gleichzeitig alimentieren lassen), bleibt der „Tadellose“ in seiner Mustergültigkeit unantastbar. Der eigenen Wut kann man oft nur noch mit Humor begegnen. Die Unerreichbarkeit des „Tadellosen“ und die damit verbundene Ohnmacht endet oft in stiller Verzweiflung.
Marei Bestek, geb. 1990, wohnt in Köln und hat Medienkommunikation & Journalismus studiert.