Marei Bestek, Gastautorin / 02.11.2018 / 15:00 / 20 / Seite ausdrucken

Der Tadellose

Ich bin mir sicher, dass auch Sie jemanden in Ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis haben, auf den folgende Charakterisierung zutrifft.

Der „Tadellose“ (fühlen Sie sich frei, hier einen beliebigen Namen einzusetzen...) nimmt am politischen Diskurs kaum oder nur am Rande teil. Dennoch besetzt er klar eine Position: Er ist der Gute. Auch wenn er sich nur wenig äußert, ist zu jeder Zeit und für jeden ersichtlich, welch‘ reine, anständige und gutherzige Absichten er verfolgt. Selbst über Zeitperioden hinweg verliert er diese Haltung nicht. Sollte sich in ein paar Jahren herauskristallisieren, dass die Prophezeiungen der Rechtspopulisten und Hetzer doch nicht so verkehrt waren, dann wird er das schon immer gewusst haben. Oder anders: Von nichts gewusst haben. Auf jeden Fall wird er wieder auf der richtigen, der „guten“ Seite stehen.

Das Schwierige an Diskussionen mit dem „Tadellosen“ ist, dass sich hinter seiner Gutgläubigkeit keinerlei bewusste Intention versteckt. Er teilt tatsächlich, vom Scheitel bis zur Sohle, die tiefe Überzeugung, ein guter Mensch zu sein, auch wenn das die vollkommene Naivität und Selbstaufgabe bedeutet. Selbst hierin sieht er noch den moralischen Triumph. Auf dieser Einstellung basierend, weiß der „Tadellose“ zu jeder Zeit, was richtig und was falsch ist, folgt seinem Bauchgefühl und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Vertrauen und fühlt sich damit allen Selbstzweifeln gegenüber erhaben.

Eigentlich müsste man annehmen, im „Tadellosen“ einen dankbaren Diskussionspartner zu finden: Er ist weder streitsüchtig noch folgt er einer Taktik. Er hat keine oder nur schlechte Argumente, benutzt den Anti-Rassismus kaum als Mode-Erscheinung oder um sein Ego aufzupolieren.

Dennoch fällt mir die politische Auseinandersetzung mit ihm am schwersten. Der Grund ist wohl: Ich beneide ihn. Wie gerne wäre ich auch so gut, so lieb, so… vollkommen. Ich würde gewiss nie zu heiß duschen und den Supermarkt nur noch mit meinen eigenen Tupperdosen betreten, um meinen ökologischen Fußabdruck zu verkleinern. Ich würde selbst bei Sonnenschein einen Regenschirm dabei haben – für den Fall der Fälle – und mein eigenes genfreies Gemüse anbauen. Ich würde Flüchtlingen den Unterschied zwischen Nominativ und Akkusativ erklären und lange Reportagen über ihre beschwerliche Flucht über das Mittelmeer verfassen. Ich würde eine Initiative gründen (irgendwas mit Klima oder Nazis) und auf Demos meine Regenbogen-Fahne umherschwenken. Ich würde mit Yoga beginnen und die neue Platte von Herbert Grönemeyer hören, während mir bei der Vorstellung von Hetzjagden gegen Migranten und fehlender Mildtätigkeit eine Träne über die Wange kullert. Vor allen Dingen würde ich immer und überall die moralisch richtigen und politisch korrekten Worte finden und andere mit meinem Gutsein beeindrucken.

Ich bin ihm nicht viel mehr wert als ein sensibler Nazi-Vergleich

Stattdessen provoziere ich offenbar. Wie gerne würde ich sagen, dass es mir egal ist, deshalb vom „Tadellosen“ verstoßen und als Nazi vorgeführt zu werden. Aber dem ist nicht so. Die moralische Erpressung und der darauffolgende Liebesentzug, mit dem er einen abstraft, schmerzen. Dass er mich trotz aller Gemeinsamkeiten und Verbundenheit ohne zu zögern an den (politischen) Pranger stellt, erschreckt. Dabei ist ihm meine Position – bin ich ihm – nicht viel mehr wert als ein sensibler Nazi-Vergleich, mit dem er mir sogleich sein Verständnis von Toleranz und das Achten meiner Andersartigkeit verdeutlicht. Anstatt meine politische Haltung abzulehnen oder mit mir zu argumentieren, streicht er mich gleich ganz aus seinem Leben, obwohl doch eigentlich ich die Gefühlskalte von uns beiden bin.

Oft denke ich daran, dass wir in Alltagssituationen, in denen unser moralisches Handeln herausgefordert wird, dieselben Entscheidungen treffen würden. Dass nun seine ideologische Verblendung so weit reicht, dass er das nicht mehr erkennen kann, sondern sich stattdessen mit mir ein Feindbild aufbauen muss, das stößt mich in Hilflosigkeit. Ich bin nicht nur eine Enttäuschung, für die es sich zu schämen gilt. Nein, er fühlt sich außerdem von mir persönlich bedroht.    

Schließlich baut sein Selbstverständnis auf der Überzeugung auf, sich bei Konfrontation als Opfer zu gerieren und damit Verstand und Verantwortung an der Garderobe abgeben zu können. Nehme ich ihm nun diesen Opferstatus (in den er oftmals viel investiert hat), so attackiere ich ihn in den Grundfesten seiner Identität und entziehe ihm seinen Nährboden. Während die Opferrolle mittlerweile das gesellschaftliche Ansehen einer Tugend genießt, gilt man als ignorant, böse und scheinheilig, wenn man sie nicht anerkennt oder – noch schlimmer – in Frage stellt.      

Doch der „Tadellose“ ist weder für diese noch für Kritik im Allgemeinen empfänglich. Auch wenn immer mehr Menschen heutzutage die Hutschnur reißt, wenn sie beobachten, wie Linke und Migranten gemeinsame Sache gegen die bürgerliche Mitte machen (von denen sie sich gleichzeitig alimentieren lassen), bleibt der „Tadellose“ in seiner Mustergültigkeit unantastbar. Der eigenen Wut kann man oft nur noch mit Humor begegnen. Die Unerreichbarkeit des „Tadellosen“ und die damit verbundene Ohnmacht endet oft in stiller Verzweiflung.

Marei Bestek, geb. 1990, wohnt in Köln und hat Medienkommunikation & Journalismus studiert.

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Leserpost

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Stephan Landgrebe / 02.11.2018

Die Tadellosen haben eben die Tugend gepachtet. Den Deutschen ist die Demokratie und die Aufklärung fremd, sie ist ihnen von den Amerikanern “aufgezwungen” worden. Deswegen arbeiten auch so viele “Tadellose daran, ein Meinungsklima zu erzeugen, in dem ein neuer Totalitarismus gut gedeihen kann.

Karla Kuhn / 02.11.2018

Meine Mutter sagte immer, Deine Familie, die hast Du aber Deine Freunde mußt Du Dir sorgfältig aussuchen. Und genau das habe ich gemacht. Heute habe ich eine kleinen aber wirklich guten Freundes-und Bekanntenkreis. Ich habe viele Bekannte, mit denen ich rede oder auch Erfahrungen austausche, die aber in meinem Leben keinen besonderen Raum haben. Als ich 1995 Einsicht in meine Stasi Akte erhalten habe, war ich glücklich und dankbar, daß von meinen engen Freunden kein einziger dabei war, der mich bespitzelt und denunziert hat. Mit diesen Freunden bin ich heute noch sehr gut befreundet und ich bin froh, solche Menschen um mich zu haben. Bespitzelt und denunziert wurde ich von Menschen, die mich nicht oder kaum kannten, das ist besonders absurd, weil sie so viele Lügen verbreitet haben. Tja das waren halt alles Arschkriecher, die sich eine besondere Belohnung erhofft haben, auf Kosten von unschuldigen Menschen.  Mit “Tadellosen” hatte ich noch nie etwas am Hut, ich kann mit denen gar nichts anfangen, weil es ja in der Wirklichkeit keine (oder kaum ?) Tadellose gibt. WER soll denn das sein ?? Wenn Ihnen eine Person nicht paßt, machen Sie Tabula rasa, das entlastet die Seele ungemein.

Robert Jankowski / 02.11.2018

Warum regen Sie sich über so Jemanden auf? Seine Lebensphilosophie beruht vor allem darauf, dass Dinge einfach von ihm abperlen und er sich nie ernsthaft in einer Sache engagiert. Vor allen Dingen nicht, wenn es nicht um sich selbst geht. Narziss spielt da sicherlich eine Rolle, aber das Leben ist für so Jemanden schlechtweg auch einfacher, weil er die meisten Sachen gar nicht an sich heran läßt.

Michael Lorenz / 02.11.2018

Jede Epoche hat ihre “Guten” - bei Lichte besehen sind sie aber das, was die temporär Herrschenden und ihre Speichellecker für “gut” erklären. Das ist jedoch selten wirklich gut. Zwei Beispiele: der Guteste unter den Guten aus einem bis 1990 existenten Deutschland war so gut, dass er stammelte: “Aber ich liebe doch alle - alle Menschen” - und damit nur noch Lachsalven auslöste. Und einige der Allergutesten von ‘33 bis ‘45 waren derartig gut, dass sie schließlich in Nürnberg am Ende eines Strickes baumelten.

Sabine Schönfelder / 02.11.2018

Man kann sich über ihn lustig machen, über den ‘Tadellosen’ , wie er mit seinem Körbchen über den Wochenmarkt schlendert, nachdem er sein Fahrrad vorschriftsgemäß parkte, und den Helm diebstahlsicher verstaute; aber man bekommt dabei latent ein schlechtes Gewissen, denn er wirkt immer so arglos und freundlich, bar jeglicher Aggression. Das ist das große Ärgernis. Er ist ein durch und durch bürgerlicher Mensch im optischen Wandel des Zeitgeistes. Er trägt keinen beige-braune Biedermannstrickweste mehr, sondern ein flottes Jack-Wolfskin- Jäckchen. Vernünftig und wasserdicht. Es gibt sie millionenfach. Angepaßt und mit mahnendem ruhigen Augenaufschlag, verkünden sie die schwachsinnigen Inhalte grün-linker Politik. Abweichung und faktenbelegter Erkenntnisgewinn von Dritten, sind Ihnen unangenehm, wird als aufrührerisch empfunden. Diese Unruhestifter sollten möglichst unauffällig in die Reihe zurückbeordert werden oder ignoriert. Störe meine guten Gefühle und heile Welt nicht mit Fakten, ist ihr Credo. Sie sind ängstliche Menschen, fühlen sich unter Gleichgesinnten geborgen und lieben eine paternalistische Versorgung des Staates. Sie sind die Zuverlässigen unter unserer grün- linke Wählerschaft. Vertreibt sie aus ihrer Komfortzone! Auch mit dem Selbstdenken fangen sie nur unter Anleitung an…...und wer will schon, daß sie blöd sterben.

Rupert Reiger / 02.11.2018

Nietzsche [sic] definiert „Gutmensch“ Aus “Zur Genealogie der Moral” Welche Verlogenheit, diesen Hass nicht als Hass einzugestehn! ... Man bewundere namentlich die Falschmünzer-Geschicklichkeit, mit der hier das Gepräge der Tugend, selbst der Klingklang, der Goldklang der Tugend nachgemacht wird. Sie haben die Tugend jetzt ganz und gar für sich in Pacht genommen, daran ist kein Zweifel: “wir allein sind die Guten, die Gerechten,” so sprechen sie ... oh wie sie im Grunde dazu selbst bereit sind, büssen zu machen, wie sie darnach dürsten, Henker zu sein! Unter ihnen giebt es in Fülle die zu Richtern verkleideten Rachsüchtigen, welche beständig das Wort “Gerechtigkeit” wie einen giftigen Speichel im Munde tragen, immer gespitzten Mundes, immer bereit, Alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und guten Muths seine Strasse zieht. Unter ihnen fehlt auch jene ekelhafteste Species der Eitlen nicht, die verlognen Missgeburten, die darauf aus sind, “schöne Seelen” darzustellen und etwa ihre verhunzte Sinnlichkeit, in Verse und andere Windeln gewickelt, als “Reinheit des Herzens” auf den Markt bringen: die Species der moralischen Onanisten und “Selbstbefriediger.” ... Die eigentliche Lüge, die ächte resolute “ehrliche” Lüge wäre für sie etwas bei weitem zu Strenges, zu Starkes; es würde verlangen, was man von ihnen nicht verlangen darf, dass sie die Augen gegen sich selbst aufmachten, dass sie zwischen “wahr” und “falsch” bei sich selber zu unterscheiden wüssten. Ihnen geziemt allein die unehrliche Lüge; Alles, was sich heute als “guter Mensch” fühlt, ist vollkommen unfähig, zu irgend einer Sache anders zu stehn als unehrlich-verlogen, abgründlich-verlogen, aber unschuldig-verlogen, treuherzig-verlogen, blauäugig-verlogen, tugendhaft-verlogen. Diese “guten Menschen,” sie sind allesammt jetzt in Grund und Boden vermoralisirt und in Hinsicht auf Ehrlichkeit zu Schanden gemacht und verhunzt für alle Ewigkeit: wer von ihnen hielte noch eine Wahrheit “über den Menschen” aus!

Elmar Schürscheid / 02.11.2018

@Andreas Glaesel Diese Leute wurden von den Nazis “Maiglöckchen” genannt. Treffender kann es niemand sagen.

Wolf-Dietrich Staebe / 02.11.2018

Warum weinen Sie einem Blödmann ohne Rückgrat hinterher? Jagen Sie den schnellstens zum Teufel, in die Wüste oder sonstwohin! Für Argumente ist der eh´nicht erreichbar, also was soll´s?

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