In politisch aufgeregten Zeiten taucht er in der Beschuldigungs-Rethorik auf wie Kai aus der Kiste: Der deutsche Stammtisch. Er gilt als Refugium des Ressentiments und Resonanzkörper dumpfer völkischer Parolen. So bieten die deutschen Kirchen regelrechte Selbsthilfegruppen für Stammtischopfer. Der Stammtisch sorgt Medien und Politik auch aktuell, schließlich gilt es den Rechtspopulisten im gemeinen Volke zu exorzieren. Denn im Bierdunst der kleinen Leute lauert nach dieser einfachen Denkungsart die hässliche Fratze des Vorurteils. So vermuten es jedenfalls die distinguierten Kreise. „Schieben wir die AfD an den Stammtisch zurück. Dort gehört sie hin. Nicht in die Parlamente“, schrieb beispielsweise der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, in einem Zeitungsbeitrag. Damit tut er einer Institution Unrecht. Nein, ich meine nicht die AfD, sondern den Stammtisch. Der ist nämlich viel besser als sein Ruf.
Ich kenne den Stammtisch noch aus der Eifel, in der ich aufgewachsen bin. Meine Mutter schickte mich Sonntagsmorgens zum Stammtisch, um meinen Vater abzuholen, damit der auch pünktlich zum Mittagessen erschien. So lernte ich schon früh die politischen Feinheiten der Nachkriegszeit kennen. Da saßen viele Honoratioren am Tisch, der Forstmeister, der Apotheker, der Metzger, ein Arzt und der Fuhrunternehmer. Außerdem Beamte aus dem Verwaltungsapparat der Kleinstadt. Die Eifel war damals noch schwarz wie die Nacht und die meisten am Stammtisch konnten sich ein Leben nach Adenauer nicht vorstellen. Mein Vater war eine rote Socke, schwärmte für Herbert Wehner und machte sich unbeliebt. Am Schluss vertrugen sich aber alle wieder. Der Stammtisch kam mir deshalb vor wie ein versöhnlicher Ort. Man durfte da unterschiedlicher Meinung sein. Von dumpfem Vorurteilekauen kann in meiner Erinnerung trotz möglicherweise kindlicher Verklärung jedenfalls nicht die Rede sein.
Der empirische Nachweis für diesen Befund sollte lange auf sich warten lassen, aber er kam. Mein Kollege und Achse-Mit-Autor Ulli Kulke ließ vor zehn Jahren für DIE WELT von Infratest Dimap eine Repräsentativ-Umfrage zur Befindlichkeit des deutschen Stammtisches durchführen (leider hat dies seitdem keiner mehr nachgemacht). Insgesamt 1012 Stammtischgänger standen dafür Rede und Antwort. Und was dabei herauskam, entsprach so überhaupt nicht den Erwartungen. Der Stammtisch ist nämlich eher ein Hort der Political-Correctness als des dumpfen Populismus. Und er ist auch keine Versammlung älterer, weißer Männer mit Wut im Bauch und sexuellen Defiziten. So sah der Stammtisch 2005 aus:
- 28 Prozent der Deutschen ab 18 Jahren treffen sich regelmässig zu einer Runde die als Stammtisch bezeichnet werden kann. Tendenz eher zunehmend.
- 40 Prozent davon sind Frauen
- Das Durchschnittsalter liegt bei knapp 50 Jahren und entspricht damit etwa dem Bevölkerungsdurchschnitt
- 47 Prozent standen der CDU nahe, 40 Prozent der SPD, zwölf der FDP, 10 den Grünen, 7 der PDS
- Angehörige von Republikanern, DVU und NPD stellten nur 2 Prozent
- Nur jeder Dritte am Stammtisch forderte „man solle keine Ausländer mehr ins Land lassen“ – in der Gesamtbevölkerung war es jeder Zweite.
- Die Forderung nach einem Ausländerstopp wurde tendenziell von denen besonders häufig gefordert, die der PDS nahestanden.
- Die Forderung nach einer Todesstrafe, bekanntlich die Mutter aller Stammtischparolen, wurde mit 32 Prozent nicht häufiger artikuliert als in der Gesamtbevölkerung. Frauen sympathisierten dabei häufiger mit der Todesstrafe als Männer. Die Stammtischart „Kaffeekränzchen“ ist in diesem Punkt erstaunlicherweise radikaler.
Besonders erstaunlich war bei der Untersuchung, dass die Politikverdrossenheit an den Stammtischen nur etwa halb so groß war wie außerhalb ihrer Reichweite. „Der Stammtisch hat in der politischen Debatte vor allem eine Funktion“, so sagt Ulli Kulke, „an ihm sitzt der ideele Pappkamerad“. Die Parole von den „Stammtischparolen“ sei - absurd aber wahr - „selbst eine Stammtischparole“
Das Fazit von Infratest Dimap vor zehn Jahren lautete zusammengefasst: Der Stammtisch ist eine differenzierte Institution auch der politischen Meinungsbildung, die in ihrer Vielfalt nur schwer in gesellschaftliche Raster zu fassen ist.
Es gibt – wie eingangs gesagt – leider keine neuere demoskopische Untersuchung zum Thema Stammtisch. In Anbetracht der Ergebnisse von damals spricht aber einiges dafür, dass sich die Gemengelage der politischen Einstellungen ähnlich verändert haben könnte wie in der Gesamtbevölkerung – und was radikale Positionen betrifft, sogar eher gedämpfter ausfallen dürfte. Welt- und Achse-Autor Ulli Kulke: „Es handelt sich auf jeden Fall nicht um einen Thingplatz ewig gestrigen Deutschtums.“
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Lob des Stammtischs. Noch immer gilt die Kneipenrunde in Deutschland als Biotop dumpfer Rechts-Parolen. Zu Unrecht. Von Ulli Kulke hier.
Blick über den Rand des eigenen Bierkrugs. Der Stammtisch als Therapie: Er nivelliert extreme Meinungen und stutzt die Selbstgerechtigkeit auf ein Normalmaß zurück. Ebenfalls von Ulli Kulke hier.
Beitragsbild: Andreas Praefcke Wiki Loves Monuments 2011 via Wikimedia Commons

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Gegen den "Stammtisch" zu sein, ist keine stilistisches Problem, sondern Zeichen einer zutiefst antidemokratischen, präpotent-paternalistischen Geisteshaltung. Denn nichts anderes bedeutet eine Verurteilung oder Verächtlichmachung des Stammtisches, als den Bürgern Vorschriften über das richtige und gewünschte Zustandekommen ihrer Ideen, Ansichten und Meinungen zu machen. Und jedes richtige und gewünschte Zustandekommen der Gedanken endet beim Polittruck und beim Inquisitor. Nicht nur bei den Sozialisten. Wer Freiheit sagt, muss immer auch den Stammtisch mitmeinen. Denn dort wird darüber entschieden, was die Freiheit ist - nicht in den exklusiven Zirkeln des "juste milieu" von den dorten beheimateten Seilschaften. Und wer als Politiker den Stammtisch verunglimpft, verunglimpft damti auch die Bürger seines Staates allesamt. Und wenn er sich dann auf einer Wahlveranstaltung zeigt und das Gespräch mit seinen potentiellen Wählers sucht, dann ist das nur eine bessere Verarsche: denn die Meinung der Wähler interessiert ihn ja nicht.
Lieber Herr Maxeiner, super Beitrag. Über diesen Vorwurf der Stammtischparole habe ich mich auch schon etwas gewundert. Außerdem habe ich in meinem Umkreis festgestellt, dass sich der klassische Stammtisch sowieso wie alles in der Gesellschaft längst verändert hat. Die Dorfkneipe in der mein Großvater zeitlebens zum Stammtisch ein und aus ging ist aufgrund der alternden Wirtin geschlossen. Stattdessen tauchen anderswo überall Stammtische auf. Der Azubi-Stammtisch in meinem Lehrbetrieb, ein Stammtisch für die Studenten meines Studienfachs, sowie Stammtische für studentische Aushilfskräfte. Wie zu vermuten, sucht man bei solchen Stammtischen braunes Gedankengut vergeblich. Die Gespräche in diesen Runden sind dieselben wie bei anderen Gelegenheiten. Also warum wird dieser Vorwurf immer als Generalkeule herausgeholt? Bei einem der letzten Stammtische machte sich die Runde weniger Sorgen um die Integration von Flüchtlingen, vielmehr zeigte man sich besorgt, ob es noch möglich sei unsere Politiker wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Dies führte zu großer Erheiterung und konstruktiven Vorschläge. Vielleicht sollten alle Politiker gezwungen werden ein Praktikum in einem handwerklichen Betrieb zu machen, um zu lernen wie das Zusammenleben in unserer Gesellschaft funktioniert ;) Also vielleicht sollte man auch in der Politik öfter mal die Stammtische konsultieren. Viele Grüße
Ich würde sogar behaupten: Was der arabischen Welt für den Schritt in die Moderne fehlt, ist der Stammtisch. 1.) Traue keinem Menschen, mit dem du nicht mal ordentlich einen gebechert hast. 2.) Nur Besoffene und Kinder sagen, was sie wirklich denken