Claudia hat, fast pünktlich zur Faschingssaison, einen kleinen Laden bei uns in der Fußgängerzone eröffnet. Sie wird ihn zum 1. Mai auch wieder schließen. Modeschmuck und Accessoires sind nicht lebensnotwendig. Peter und Sylvia hatten die Einweihung und Eröffnung ihres „Old England Pub“ erst zum 15.3., dann zum 1.4. geplant; die erste und letzte betriebsfremde Person, die dort ihr Guinness getrunken hat, war der Installateur, der die Zapfanlage angeschlossen hat. Sabine war noch beim Einräumen ihres Frisiersalons, als sie die „Bayerische Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen anlässlich der Corona Pandemie vom 27. März 2020“ getroffen hat.
Die genannten Personen waren und sind gesund und virenfrei. Sie mussten schließen oder haben gar nicht erst geöffnet, weil die Wahrscheinlichkeit bestand, dass es einer ihrer Kunden nicht ist. Und die genannten Personen sind exakt das, was „die Wirtschaft“ ist. Claudia, Peter, Sylvia und Sabine und mit ihnen viele tausend Selbstständige, Gastronomen und Ladeninhaber sitzen derzeit zu Hause und drehen Däumchen oder versuchen, sich mit „Lieferservices“ über Wasser zu halten. Aber wer braucht beispielsweise Partyballons oder Hochzeitskleider, wenn weder Partys noch Hochzeiten oder wenigstens die vielen hunderttausend „sonstigen“ Feiern stattfinden können?
Der Staat traut seinen Bürgern keine Eigenverantwortung zu. Er glaubt nicht, dass Gastronomen ihre Tische weiter auseinanderstellen und die Tischplatten desinfizieren. Er kann sich nicht vorstellen, dass Claudia nur mit Mundschutz bedient und darauf achtet, nur eine, maximal zwei Personen im Laden zu haben. Es liegt für den Staat völlig außerhalb seiner Wahrnehmungsfähigkeit, dass auch eine Einkaufsmall in der Lage ist, Besucherströme mit Abstand zu regulieren oder Konzerthallen so zu organisieren, dass es keine Drängelpulks vor der Hauptbühne gibt. Was ihn aber nicht hindert, Schüler oder Pendler in die wenigen Busse des ÖPNV zu quetschen. Auf Deutsch und in einem Satz: Der Staat vertraut seinen Bürgern nicht.
Wir leben nicht im Krieg, und es fallen keine Bomben
Sicher, manche Bürger geben ihm dazu auch keinen Anlass. Allerdings wird es immer eine kleine Horde von Hirnentkernten geben, die Haltestangen im Bus ablecken oder schön die Shisha einmal im Kreis herumlaufen lassen, aber die sind nun einmal da. Und denen sind auch jetzt Ausgangsbeschränkung, Mundschutzpflicht und was es an sonstigen Titanenmaßnahmen gibt, egal. Die haben sowieso schon immer erst Fäuste und dann Steine geworfen, und das werden sie auch in Zukunft tun, weil bei ihnen justiziabel nichts zu holen ist. Aber es kann nicht Sinn der Sache sein, dass 90 Prozent derer, die zuerst sich und dann diesem Staat die Einnahmen erwirtschaften, mit denen er um sich wirft, daran gehindert werden, dies auch zu tun. Auch, wenn es anders kolportiert wird: Wir leben nicht im Krieg, und es fallen keine Bomben. Trotzdem sollen wir in den Keller.
Wer wird eigentlich Claudia, Peter, Sylvia und Sabine retten, die ihr Kapital und ihr Herzblut in ihre Läden investiert haben, wenn sie sich jetzt in finanziellen Notlagen bis hin zum Ruin befinden? Wer heilt ihre Depressionen oder hindert sie daran, sich umzubringen? Ab wann reden wir nicht mehr darüber, wie viele Leute AN, sondern WEGEN Covid-19 und den Folgen sterben? Und warum gelten Diskussionen darüber als „Öffnungsdiskussionsorgien“?
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Keine Regierung der Welt war oder ist auf einen derartigen Fall vorbereitet. Ein Virus ist eine andere Hausnummer als eine Sturmflut oder als Waldbrände. Welches „Rezept“ am „Ende des Tages“ das richtige war, werden wir eben erst am „Ende des Tages“ wissen – nicht dazwischen. Und es war und ist auch erwartbar, dass wir nicht wissen, ob die vergleichsweise geringe Anzahl von Infizierten und Toten in Deutschland wegen oder trotz des „Lockdowns“ zustande gekommen ist. Der Eine sagt so, der Andere so. Ich kann das nicht beurteilen und traue mir das auch nicht zu. Ich möchte auch ungern an einem Beatmungsgerät hängen, weil mein bester Freund nicht auf seinen Biergartenbesuch verzichten wollte.
Ja zu „Öffnungsdiskussionsorgien“
Andererseits will ich auch nicht an seinem Grab stehen, weil er sich aus Verzweiflung weg gemacht hat und für sich keinen anderen Ausweg gesehen hat. Der beste Psychologe hilft nicht, wenn die Bank meinem Freund das Haus unter dem Hintern weg versteigert. Nein, das ist schwierig, das als „Chance“ zu interpretieren. Und auch Vermieter sind wenig schwingungsfähig, wenn sie keine Miete bekommen, weil ihrem Mieter die Einkünfte – ja, nicht wegbrechen – schlicht per Dekret gestrichen werden. Auch ein Vermieter hat so die eine oder andere Rechnung ebenfalls schwingungsunfähiger Personen und Institutionen zu zahlen … Doch, da lohnen sich „Öffnungsdiskussionsorgien“ schon, finde ich.
Ich glaube, bis auf die genannten Dummen gibt es niemanden, der kein Verständnis für die bisher getroffenen Maßnahmen hätte. Und ich möchte glauben – unbedingt glauben – dass die Flut von Vorschriften und Erlassen, die derzeit über uns hereingebrochen ist, letztlich korrekt ist und eine Menge guter Entscheidungen beinhaltet. Ich bin mir auch sicher, dass ein Virologe von der Materie mehr Ahnung als ein Journalist oder Politiker hat. Allerdings beinhaltet der Job des Politikers eben mehr als nur die Beobachtung der Sachlage aus einer einzigen Perspektive, und ich kann nur hoffen, dass sich unsere Regierung nicht nur die Meinung der Mediziner, sondern auch die der Volkswirtschaftler und Soziologen anhört und diese in ihre Entscheidungen einbezieht. Ich möchte das wirklich glauben. So naiv bin ich tatsächlich.
Was mir und sicher vielen meiner Mitbürger im Moment fehlt, ist einfach ein verlässlicher Kompass. Wann ein Krieg gewonnen ist, weiß ich in dem Moment, in dem die Gegenseite eine Kapitulationsurkunde unterzeichnet oder meine Truppen in die gegnerische Hauptstadt einmarschieren. Fremdes Land habe ich in dem Moment erreicht, in dem ich meinen Fuß auf dieses Land setze. Aber wann ist bitte ein Virus „besiegt“? „Wenn wir eine Infektionsrate von R < 2 (oder 1 oder 0?) haben, dann …“, ja, was dann? Und wann weiß ich das verlässlich? Und kann ich mich dann auch darauf verlassen, dass meine Regierung ihre Ankündigungen auch wahr macht? Speziell bei einer Regierung wie der unseren, die in den letzten mittlerweile Jahrzehnten bewiesen hat, kein verlässlicher Verhandlungs- und Vertragspartner zu sein?
Regierung, Medien und Bürger: Wir trauen uns gegenseitig nicht mehr über den Weg.