Dirk Maxeiner / 19.06.2016 / 06:15 / 0 / Seite ausdrucken

Der Sonntagsfahrer: Zwischen Nagelbrett und Airbag

Schließen Sie kurz die Augen und stellen sie sich vor, das Frankfurter Autobahnkreuz wäre eine Kreuzung zweier achtspuriger Strassen. Und zwar ohne Ampelanlage. Außerdem würde wie in England auf der linken Straßenseite gefahren, aber nicht von allen. Gut: Jetzt haben sie eine ungefähre Vorstellung von der Rushhour in einer indischen Großstadt. Kommen Sie nun mit auf die North Main Road, eine der Hauptschlagadern von Pune.

Sunil mein indischer Fahrer ist gezwungen, sich bei der Abfahrt vom Hotel langsam aber entschlossen in den Strom aus Mopeds, Rikschas, Taxis, Bussen und Lastwagen hineinzunötigen. Wer bei diesem Spiel zuckt, verliert.  Komischerweise muss ich dabei immer an Fledermäuse denken. Das liegt nicht etwa an Sunils Ohren, die sehen ganz normal aus. Es hat vielmehr etwas damit zu tun, wie er sich orientiert.

Fledermäuse haben bekanntlich ein perfektes Echo-Ortungssystem. Sie stoßen während des Fluges fortwährend laute Schreie im Ultraschallbereich aus. An den zurückgeworfenen Echos erkennen die Tiere jedes Hindernis in der Flugbahn. Fledermäuse "sehen" mit den Ohren und können sich so ein sehr perfektes Hörbild von ihrer Umgebung verschaffen. Schwärme von mehreren tausend Tieren koordinieren sich geradezu traumwandlerisch. Und genau das tun auch die indischen Verkehrsteilnehmer. Sie senden fortwährend Hupgeräusche aus, die sich in ihren Ohren zu einem akustischen Bild der Lage verdichten.

Der indische Verkehr funktioniert nach dem Prinzip Fledermaus

Eine immerwährende Geräuschkulisse steigt aus den Straßenschneisen auf. Das heisere Piepsen der motorisierten Rikschas sagt „ich bin auch noch da“. Das permanente Gemeckere der Taxis verrät etwas über den Verkehrsfluss:  Je intensiver die Geräuschkulisse, desto langsamer das Fortkommen. Dazwischen fordern Pressluft-Fanfaren und Sirenen aller Art Sonderrechte, die ihnen freilich niemand zugesteht. Dann wären da noch die mit einer Ballpumpe vom Fahrer per Hand betriebenen Posaunen der städtischen Busse. Je nach Intervall geben sie Auskunft über Abfahrt, Ankunft, Stau oder die Laune des Fahrers.

Im Vertrauen auf die konstante gegenseitige Benutzung des Hupknopfes lokalisieren sich die Fahrer auf akustischem Wege und antizipieren das voraussichtliche Verhalten des Anderen. Die scheinbare Kakophonie funktioniert als ausgeklügeltes Ortungssystem, das dem indischen homo mobilis in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die akustische Lagebeurteilung ergänzt die optische Wahrnehmung. Mitunter ersetzt sie die Augen sogar vollkommen, etwa wenn in einer unübersichtlichen Kurve überholt wird. Indische Verkehrsteilnehmer sehen selbst in rabenschwarzer Nacht. Das ist auch dringend erforderlich, weil viele ohne Licht unterwegs sind.  Sunil, mein ganz in weiß gewandeter Chauffeur, steuert mit einer geradezu übernatürlichen Sicherheit durch das Gewimmel der Innenstadt.

Fahrräder sind im Schnitt mit drei Personen besetzt, Motorräder und Roller mit vier und Rickschahs mit fünf. Die Anzahl der Passagiere der Minibusse lässt sich nicht beziffern, da ein Teil der Fahrgäste aus den Türen quillt. Überlandbusse verdoppeln ihre Kapazität durch dicht besetzte Logenplätze auf dem Dachgepäckträger. Windschiefe und überladene Lastwagen gieren und wanken durch den Verkehr wie leckgeschlagene Seelenverkäufer durch hohen Seegang.

Die Sicherheitseinrichtungen bestehen aus den Namen indischer Schutzheiliger

Ihre Bemalung erinnert Besucher aus dem Westen an alte Schallplattencover der Beatles, als diese ihre psychedelische Phase durchmachten. In Wahrheit ist es natürlich umgekehrt: Die Beatles haben ihre Motive bei den indischen Truckern geklaut. Die passiven Sicherheitseinrichtungen bestehen im wesentlichen aus den Beschützernamen, die über den Windschutzscheiben der Lastwagen prangen: St. Joseph, St. Thomas, St. Mary und Infant Jesus teilen sich die Strasse mit Shiva, Ganescha und Rama, sie haben nichts gegen Iqbal, Amir oder Abraham und sie lassen sich bereitwillig von Gipsy und Ferrari überholen, deren Chauffeure offensichtlich Gottlose sind. Das gilt auch für die, die sich eine Bollywood-Göttin oder eine aktuelle Schönheitskönigin zum Segensspender erkoren haben.

Die Götter bieten jedoch keinen Vollkaskoschutz und so liegen zahlreiche Fahrzeugwracks am Wegesrand, wobei der Pflanzenbewuchs indirekten Aufschluss über den wahrscheinlichen Zeitpunkt des Unfalls gibt. Andere wiederum sind mit Motorschaden liegen geblieben und ihre Chauffeure nehmen sie seelenruhig an Ort und Stelle auseinander und inspizieren die auf der Fahrbahn ausgelegten Eingeweide. Eine geradezu ameisenhafte Infrastruktur bietet dabei für beinahe jedes Problem eine Lösung.

Die Strassen der Dörfer werden ziemlich lückenlos von offenen Verschlägen gesäumt, in denen Rücken an Rücken Schuster, Schneider, Scherenschleifer, Friseure, Uhrmacher, Schmiede, Elektriker, Fahrradbastler, Motorradflicker  und viele andere Kleinstgewerbe und Kleinhändler sitzen. Hunderte auf einmal, ein paar Quadratmeter für jeden. Dahinter beginnt das Reich der Bretterverschläge und Zelte, in denen sich die Armen eingerichtet haben. Die Dörfer und Städte wirken wie ein sich selbst organisierender Sozialorganismus mit grenzenloser Anpassungsfähigkeit. Den Willen der Obrigkeit oder des Staates, sei er nun gut oder schlecht, aber auch so etwas wie Planung, trickst dieses System zuverlässig aus.

Ein paar tausend Deutsche würden den indischen Verkehr zum Stillstand bringen

„Der Straßenverkehr und das Gewimmel darum herum sind für mich ein Sinnbild für die indischen Strukturen“, sagt mir ein Manager eines in Pune ansässigen europäischen Großunternehmens. „Alles wirkt erstmal wie ein Ameisenhaufen“, erzählt er. Am Anfang habe er oft geglaubt „hey, hier blickt doch keiner mehr durch.“ Doch dann fügten sich die Dinge doch plötzlich auf wundersame Weise zusammen. Es treffen äußerst unterschiedliche Kulturen aufeinander. Der indische Straßenverkehr etwa, funktioniert nur aufgrund der flexiblen indischen Denkweise. Würde man in Pune oder Bombay ein paar tausend Deutsche mit sehr strikten Vorstellungen von Verkehrsregeln aussetzen, käme das ganze System sofort zum Stillstand. Umgekehrt übrigens auch.

Nun hat die flexible Denkweise nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile. Beispielsweise wenn dabei ein bisschen zu flexible Produkte herauskommen. Es ist ja kein Geheimnis, dass die Qualität indischer Automobile früher arg zu wünschen übrig ließ. In einem geschützten Markt produzierten die Inder in Lizenz europäische Oldtimer aus den sechziger Jahren. Die Qualität der Autos war oft  so schlecht, dass die Käufer sie nach der Auslieferung erst einmal komplett auseinander nahmen und neu zusammenschraubten. Danach waren sie angeblich richtig gut.

Wir bleiben im Feierabendverkehr von Pune stecken. Neben uns steht ein Familienvater mit seinem Motorrad. Seine Frau sitzt in einem bunten Sari im Damensitz hinter ihm, das Baby im Arm. Der vier- bis fünfjährige Sohn klammert sich auf dem Tank fest. Der Mann spricht mich im Stau freundlich auf englisch an, rückt im Stau mit auf  und erzählt von seinem Traum sich möglichst bald ebenfalls ein Auto zu kaufen. Auf dem Motorrad sei es für ihn und seine Familie einfach zu gefährlich. Der weitaus größte Teil der verheerenden indischen Unfallstatistik betrifft Zweiradunfälle und Fußgänger. Vielleicht könne er sich bald einen kleinen Gebrauchtwagen leisten. Dann wird er das Bild von Shiva vom Motorradlenker abschrauben und ans Armaturenbrett anschrauben. Für westliche Verzichts-Apologeten und Öko-Romantiker ist das eine Nachricht, die ihnen gar nicht schmecken wird. Der Vater will vier Räder für seine Familie. Er will ein Auto. Und er will einen weltlichen Schutzpatron mit dem Namen Airbag.

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