Für meinen Urlaubsort Peschici sprachen in erster Linie zwei Umstände. Erstens: Hier ist man absolut sicher vor evangelischen Kirchentags-Besuchern. Die Gegend ist doch sehr katholisch. Außerdem liegen 1708 Kilometer zwischen Brandenburger Tor und Castello die Peschici, letzteres übrigens mit einer sehr hübschen Ausstellung von Folter-Instrumenten aus der Zeit der Hexenjagd und Inquisition. Und zweitens: Die Einwohner von Peschici vertrauen nicht auf den Herrgott alleine, das hat sich ja immer wieder als riskant erwiesen. Am 31. Oktober 1998 gewann eine Tippgemeinschaft von 99 Spielern im Lotto die Rekordsumme von 63 Milliarden Lire (32 Millionen Euro). In Italien ist „Peschici“ seitdem ein Synonym für unverhofftes Glück.
Nicht sicher ist man vor einer Art von „Bestager“-Ehepaaren, die man aus der Werbung für Treppenlifte und elektrische Fernsehsessel kennt. In der Vorsaison bevölkert dieser relativ fitte Personenkreis kleinere Landhotels mit leichtem Öko- beziehungsweise Slowfood-Touch. Sie treten mittlerweile in sämtlichen europäischen Sprachen auf und sind an gehobener Funktionskleidung zu erkennen. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen besteht darin, diese Paare zu kategorisieren und in mein ganz persönliches Bestiarium einzuordenen. Ein Bestiarium, lateinisch bestia, „(wildes) Tier“, ist laut Wikipedia eine mittelalterliche Tierdichtung, die moralisierend tatsächliche oder vermutete Eigenschaften von Tieren, auch Fabelwesen, allegorisch mit der christlichen Heilslehre verbindet.
Meine Frau pflegt meine entsprechenden Bemerkungen mit der Antwort zu quittieren: Schau doch mal in den Spiegel, wir sehen exakt genauso aus. Womit sie leider vollkommen recht hat. Beim Abendessen habe ich fünf geklonte Versionen unserer kleinen Lebensgemeinschaft gezählt, eine aus Deutschland, eine aus der Schweiz, eine aus Frankreich und zwei aus Italien. Alles nette Leute, echt jetzt. Kein einziges Smartphone beim Abendessen. Einer hat mich sogar nach meinem alten Volvo gefragt und mir erzählt, dass er auch so einen hatte. Ansonsten sind aber alle zum Wandern da. Mit richtig gedruckten, dicken Reiseführern und ja (!) Landkarten. Gargano ist ja ein Naturschutzgebiet. Ich bin der Meinung, dass es das auch bleiben soll und halte mich von derartigen Aktivitäten fern.
Eine Ameisenstrasse unter mir und eine über mir
Mein Platz ist die Liege am Pool. Da bin ich wenigstens allein. Wenn man mal von Magda, der Hündin des Besitzers absieht. Von der kann man echt lernen. Etwa jede Stunde sucht sie sich je nach Sonnenstand und Windverhältnissen einen anderen Stamm-Liegeplatz. Dann lässt sie sich mit einem vernehmlichen Schnaufen auf den Boden fallen. Richtig wach wird sie eigentlich nur, wenn sie abends ihr Fressen kriegt. Und genauso geht’s mir auch.
Wenn ich auf dem Bauch liege, beobachte ich die Ameisenstrasse unter mir. Wenn ich auf dem Rücken liege, die über mir. Am Himmel scheint mir die Flugroute von Rom nach Istanbul und weiter nach Fernost zu sein, alle paar Minuten zieht ein Flieger dicke Kondensstreifen durchs Azurblau. Ansonsten bin ich auf akkustische Wahrnehmungen zurückgeworfen. In der Nachbarschaft krähen mehrere überambitionierte Hähne um die Wette, wir sind hier schließlich auf dem Land. Ich weiß nicht, warum mich diese Hähne an Politiker erinnern, aber ich bin sicher: Wenn Hähne twittern könnten, würden sie es tun.
Ab und zu sorgt die Köchin für etwas Unterhaltung, dann kommt sie mit einer Schere, holt eine Zitrone vom Baum oder einen Rosmarin-Zweig aus der Pool-Hecke. Ich wusste gar nicht das Rosmarin sich zu so riesigen Hecken auswächst. Die versperrt die Sicht auf die Via Libetta, die sich am gegenüber liegenden Hang hochschlängelt. Mit ihren Kurven und Spitzkehren sieht sie aus wie eine Sonderprüfung der Rallye Monte Carlo. Und als solche wird sie von den Einheimischen auch aufgefasst. Besonders beeindruckt hat mich ein dreirädriger Piaggio-Ape-Transporter, wie sie wegen der engen Gassen in der Altstadt beliebt sind. Diese Arbeitstiere brüllen bergauf wie ein Kleinkind, dem man den Schnuller weggenommen hat. Und bergab wie ein Blecheimer, der die Treppe runter fällt. Sie transportieren sogar ausgewachsene Schrankwände. Das weiß ich, weil einer von ihnen ein solches Möbel bergab in der Spitzkehre in ein Flugobjekt verwandelte, das erst von der nächstgelegenen Rosmarin-Hecke aufgefangen werden konnte.
Gesehen habe ich das nicht, nur gehört, weil ich ja hinter der Hecke liege. Es war aber auch rein akkustisch schon eine gelungene Vorstellung. Ansonsten kann ich den Linienbus schon von einem Lastwagen unterscheiden, der eine schaltet automatisch hoch, der andere mit einem ordentlichen Getriebe-Krachen, bevor die Drehzahl in einen mittelalterlichen Keller fällt. Die Straße ist steil und fordert vor allem bergab den ganzen Mann. Am Sonntag habe ich eine schwere Ducati gehört, deren Besitzer es bis unten kurz vorm Kreisverkehr in den vierten Gang geschafft hat, was auf diesem Strässchen der doppelten Lichtgeschwindigkeit entsprechen dürfte. War bisher mein Tagesbester. Wenn man von jenem jungen Mann mal absieht, der zwar bergauf fährt, das aber immer auf dem Hinterrad balancierend. Das weiß ich, weil er mich einmal auf dem Nachhauseweg überholt hat. Er kommt jeden Abend vorbei, pünktlich um 19 Uhr, dann scheint er Feierabend zu haben. Das Ganze wird von einem fröhlichen Hupkonzert begleitet, ein Ausdruck persönlicher Anerkennung von den übrigen Verkehrsteilnehmern. Ich weiß dann, dass es jetzt Zeit für einen Aperol wird und Magda spitzt die Ohren. Gleich gibts Happi.