Für einen Journalisten gibt es wenig Peinlicheres als ein zu früh oder versehentlich veröffentlichter Nachruf. Im Leser keimt dann stets der begründete Verdacht, dass solche Nachrufe auf verstorbene Zeitgenossen nicht etwa in spontaner Anteilnahme geschrieben werden, sondern für den Fall der Fälle bereits in der Schublade liegen. Das ist natürlich nicht sehr pietätvoll, wird aber aus praktischen Gründen durchaus so gehalten. In Zeiten des Internets ist das besonders gefährlich. Da genügt ein falscher Mausklick, und ein quicklebendiger Zeitgenosse wird in die ewigen Jagdgründe geschickt. Und da das Internet nichts wirklich vergisst, geistert der Betroffene fortan als Zombie durchs Leben.
So wie der Flughafen Berlin Tegel. Wer dessen wechselhafte Lebensgeschichte googelt, findet eine ganze Chronik von Todesdaten, das letztgültige Ableben von „Otto Lilienthal“ war für Montag in einer Woche, den 15. Juni, angekündigt. Doch dann sprach sich bei den im Coronaschlaf dämmernden Berliner Behörden herum, dass nun doch wieder mit mehr Flugverkehr zu rechnen sei. Der als Vertretung vorgesehene DDR-Rentner Schönefeld pfeift aber ebenfalls auf dem letzten Loch. Und der BER macht ein bezahltes Berlin-Sabbatical – und das kann von der Wiege bis zur Bahre dauern.
In letzter Sekunde wurde in Tegel die Herz-Lungen-Maschine von Otto Lilienthal wieder angeworfen. Ansonsten hätte man die deutsche Hauptstadt nur noch mit dem Fallschirm erreichen können. Als Landeplatz sollte man in jedem Fall die Wiese vor dem ebenfalls nachhaltig verkehrsberuhigten Flughafen Tempelhof vorhalten. Die Zeit kolportierte zum Flughafen-Chaos: „Berlin versagt jetzt doppelt – den einen kriegen sie nicht zu, den anderen nicht auf“.
In so einer Art Legoland
Die aktuelle Architektur von Berlin Tegel stammt aus dem Jahre 1974. Wer etwa aus Shanghai anreist, wähnt sich in so einer Art Legoland. Aber immerhin: Das Ding funktioniert noch und gilt derzeit vom Passagieraufkommen her als Deutschlands viertgrößter Flughafen. Es ist ja durchaus symptomatisch, dass uralte Infrastruktur und ebenfalls in die Jahre gekommenes Personal dieses Land am Laufen halten, während die ambitionierten Zukunftsvisionen eine Bauchlandung nach der anderen produzieren. Es gibt tausende Tegels in Deutschland – von Bahn bis Autobahn, von Energieversorgung bis Kommunikation, von Krankenhaus bis Polizei, von Schulen bis Bundeswehr.
Mich erinnert das ein bisschen an einen alten Schulfreund. Der lebte in einer großen Familie, die wiederum immer ein bisschen über ihre Verhältnisse lebte. Jedenfalls hatten Sie ein schönes großes Haus erworben und dafür Schulden gemacht, die sie nicht bezahlen konnten. Alles hing an der Rente der Oma, die gehätschelt und gepflegt wurde, auf dass ihr ein ewiges Leben beschieden sein möge. Oma tat ihnen bis in die hohen 90er den Gefallen, wofür man ihr aufrecht dankbar war.
Was den Generationenfrieden im heutigen Deutschland angeht, hat sich das irgendwie verändert. Oma und Opa sind ’ne Umweltsau und ohnehin nicht mehr lange da, das Geld für die Zinsen fällt vom Himmel, wir reißen die Bude ab und stellen stattdessen ein richtig schickes Luftschloss hin. So wie letzte Woche hier beschrieben, in Philippsburg, wo man ein AKW im Wert von 3 Milliarden Euro in die Luft jagte, ohne irgendeinen sinnvollen Ersatz dafür vorweisen zu können. Die technischen Berufe, die für diesen Ersatz sorgen könnten, werden gleich mitabgewickelt. Wer als Atompysiker oder Gentechnologe was werden will, sollte gleich auch Mandarin lernen.
Nichts gegen einen beherzten Marsch in die Zukunft, aber warum muss man alle Brücken hinter sich sprengen und die Fähigkeiten einer Industrienation in den Fluss kippen? Ist man seiner Sache doch nicht so ganz sicher? Fürchtet man, die Stimmung könnte kippen und die Gefolgschaft umkehren? Deutschland wird allmählich zum Weltmeister in der Produktion von Alternativlosigkeit, so ähnlich wie ein Kapitän, der an einem Kahn mit Schlagseite auch noch die Rettungsboote kaputt machen lässt, damit schneller Hilfe kommt. Allein die Bundeswehr ahnt was und hat sich 40 Fallschirme aus US-Produktion ausgeliehen. Berlin, wir sind im Anflug!
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