Jemand, der an führender Stelle in der Automobilindustrie arbeitet, muss nicht unbedingt etwas vom Auto verstehen. Im Moment ist es der Karriere sogar förderlich, möglichst nichts vom Auto begriffen zu haben. Rein gar nichts bitte. Denn Wissen ist der Tod der Vision. Bedenkenträger, die beispielsweise darauf hinweisen, dass der Unternehmensstrategie physikalische Gesetze im Wege stehen könnten, sind nur noch schwer vermittelbar. Die Flure für derartig gescheiterte Existenzen werden immer länger.
Die ideale Vorstandsrunde eines deutschen Automobil-Herstellers hat das Format einer Ethik-Kommission. Die Branche braucht dringend Quereinsteiger wie Margot Käßmann und Heinrich Bedford-Strohm. Bei Volkswagen beispielsweise wurde die Ethik-Chefin, Christine Hohmann-Dennhardt, im vergangenen Jahr nach kurzem, segensreichem Wirken mit 15 Millionen Euro abgefunden. Keine Ahnung vom Auto haben lohnt sich, da ist noch Luft nach oben. Jedenfalls ist ziemlich auffällig, wie das Oberklasse-Management in seinen Lobpreisungen einem von Sachkenntnis nachhaltig befreiten Zeitgeist hinterherfährt.
Anstatt sich mal mit Leuten zu unterhalten, die sich 20.000 bis 30.000 Euro für einen neuen Golf oder für den kleinsten BMW oder Mercedes mühsam absparen, haben sie lieber Visionen. Sie wähnen sich in höheren immateriellen Sphären, sehen in Google, Facebook und Uber ihre Konkurrenten, mindestens. Von der Brumm-Brumm-Kundschaft nimmt man zwar das Geld, ansonsten aber ist sie peinlich.
„Die digitale Transformation ist bei uns in vollem Gange. Mercedes-Benz wandelt sich vom Automobilhersteller zum vernetzten Mobilitätsanbieter, wobei der Mensch – als Kunde und Mitarbeiter – immer im Mittelpunkt steht“, sagt beispielsweise Dieter Zetsche von Mercedes. Mobilitätsanbieter! Mensch im Mittelpunkt! Ja Herrschaftszeiten, ist das geil!
Ein wenig Zucker in den Tank
Ich möchte an dieser Stelle dennoch ein wenig Zucker in den Tank (alter Mythos) geben: Solche ambitionierten Grußadressen an die Zukunft sind allesamt schon mal da gewesen. Und die Hinterbringer der frohen Botschaften steuerten damit zügig in den Graben. Zetsches Vorgänger Jürgen Schrempp kaufte mal eben Chrysler und fuhr das Unternehmen Daimler-Chrysler mit seiner Vision von der „Welt AG“ gegen die Wand. Der Chefredakteur des amerikanischen „Automobile Magazine“ formulierte die Zukunft des deutsch-amerikanischen Unternehmens vorab so: „An irgendeiner Stelle dieses Konzerns wird künftig täglich der zweite Weltkrieg neu ausgefochten“. Hat aber keiner hingehört.
Schrempps Vorgänger Edzard Reuter stieg mit seiner Halluzination vom „Integrierten Technologie-Konzern“ mächtig auf, von Schreibmaschinen bis zu Flugzeugen war so ziemlich alles auf dem Grabbeltisch. Reuter, ganz Feingeist, hatte sich innerlich schon vom piefigen Auto verabschiedet und stürzte vom Himmel, als die Heißluft in seinem Ballon aufgebraucht war.
Der Versuch der vom globalen Wichtigkeits-Fieber ergriffenen Großlenker, endlich etwas anderes zu sein als ein popeliger Autohersteller, vernichtete viele, viele Milliarden an Kapital. Jetzt ist es also wieder soweit, die Herrschaften – und nicht nur die bei Mercedes – haben Visionen.
Industrie ist irgendwie out, Hardware mit Lenkrädern auch, vom Verbrennungsmotor mal ganz zu schweigen. Die Digitalitis im derart fortgeschrittenen Stadium darf durchaus als Auto-Immunkrankheit verstanden werden, im wahrsten und doppelten Sinn des Wortes. Angeblich geht es nur noch um Daten, um selbstfahrende Kabinen und um „Teilen statt Besitzen“. Letzteres heißt neudeutsch „Shared economy“ und ist in unseren Städten bereits in Form von abgerockten öffentlichen Fahrrädern zu besichtigen, die irgendwo am Straßenrand vor sich hin gammeln. Komisch, dass die schöne neue Mobilitäts-Welt immer aussieht, wie Bukarest unter Ceaușescu.
„Premium Mediocre“
In der FAZ war unlängst ein interessantes Stück zu lesen, das sachdienliche Hinweise auf den Ursprung der Zündaussetzer im Top-Managment geben kann. Der Blogger Venkatesh Rao gilt in Amerika als Erfinder des Begriffes „Premium Mediocre“. Und das muss man sich laut FAZ in etwa so vorstellen:
„Die ‚Millennials’, die Kinder der Babyboomer, können sich, anders als Letztere, wegen der immer unsichereren Anstellungsverhältnisse kein Auto und keine Vermögensbildung durch Immobilienerwerb mehr leisten. Stattdessen werden sie mit Bruchstücken dieser Aufstiegsversprechen ruhiggestellt: Man fährt, bei Bedarf, einen schnellen Carsharing-BMW und wohnt ein ein paar Tage in einem über Airbnb angemieteten alten Palazzo.“
Und weiter schreibt FAZ Autor Niklas Maak voll auf den Punkt:
„Die ganze Sharing-Kultur ist so gesehen ‚Premium Mediocre’ in Reinkultur: Es wird als unnötig und nicht begehrenswert verkauft, was ökonomisch auch nicht mehr drin ist. 'Junge Menschen', heißt es, 'brauchen das Auto nicht mehr als Statussymbol'. Außerhalb der Städte brauchen sie es aber schon noch, um überhaupt zu ihrer schlecht bezahlten Lehrstelle zu kommen. Diese Realität wird durch das toxische ideologisch-ästhetische Gebräu aus Moral (‚brauchen kein Statussymbol mehr’), Ökologie und Effizienzsteigerung (‚zu viele Autos stehen ungenutzt herum’) aus dem Blickfeld gespült.“
Die Automobilindustrie lauscht, wenn es um die Zukunft geht, offenbar bevorzugt dem urbanen Prekariat, das gerade ein „Projekt“ oder „was mit Medien" macht. Der Übergang von dieser Szene zur notleidenden Medienbranche ist obendrein fließend, was die Truppe zu einem Scheinriesen macht. Wer die aktuellen Programme der politischen Parteien liest, kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass diese nicht zu heiß gebadet, sondern zu lange in städtischen Szene-Vierteln verkehrt haben, was womöglich auf das Gleiche herauskommt.
Das Auto soll um Daten kreisen
Mit der Lebensrealität der meisten Menschen im Land aber hat das nicht viel zu tun. Und das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für Asien oder die USA. Auch der industrielle Stolz von Millionen Mitarbeitern der Automobilindustrie kommt im digitalen und immateriellen Gefasel der talkenden Klasse (Neudeutsch: "Narrativ") nicht mehr so richtig vor, schließlich steht der Mensch jetzt im Mittelpunkt
Es ist noch nicht allzu lange her, als Ende des vergangenen Jahrhunderts verkündet wurde, dass sich die Industriegesellschaften auf dem Weg zu den vermeindlich höheren Kulturstufen der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft überflüssig machen würden. Wir sollten uns alle gegenseitig die Haare schneiden. Ist aber nix draus geworden. Die Industrie ist zumindest in Deutschland nach wie vor der Kern des Wohlstands. Jetzt soll also in Zukunft alles nur noch um unsere Daten kreisen. Auch das Auto.
Dabei wird aber eine seiner wichtigsten Eigenschaften übersehen. Es ist auch ein Transportmittel für die Seele. Sonst hätte es niemals einen solchen Erfolg haben können. Und die menschliche Seele, die verändert sich nur sehr langsam – wenn überhaupt. Pädagogisch sollte man ihr schon gar nicht kommen. Heimlich schleicht sie sich in die Garage, streichelt übers Blech und sagt: „Es ist meins. Es macht brumm, brumm. Und ich darf damit fahren, wann und wohin auch immer ich will."
Die Autoindustrie wäre gut beraten, diesen ideellen Kern nicht anzurühren. Autonomie heißt nichts anderes als: Ich mache meinen eigenen Fahrplan. Und das ist auch der Grund, warum das Automobil von den Feinden der Freiheit so verabscheut wird. Doch bevor sie ihm den letzten Zündfunken ausblasen, werden sie sich womöglich sehr wundern. Fahrverbote dürften der letzte Sargnagel an der politischen Karriere derjenigen sein, die sie ins Werk setzen. Das Auto ist es eben auch eine Idee. Und Ideen, die einmal in der Welt sind, können nicht so ohne weiteres zurückgeholt werden. Man kann sie nur verbieten, aber sie sind immer noch da.
„Wenn Du eine Stunde in der Kirche verbringst, wo bist Du?“ fragte einmal der amerikanische Autor P. J. O’Rourke. Statt einer Antwort schickte er eine zweite Frage hinterher: „Wenn Du eine Stunde im Auto verbringst, wo bist Du dann?“ Darauf fiel ihm sofort eine Antwort ein: „At the beach“.
Sein kultureller Einfluss unterscheidet das Auto von den meisten anderen technischen Gegenständen. Ein Toaster oder eine Waschmaschine bringt dich nicht ans Meer. Ein Auto schon. Selbst ohne Benzin, im Reich deiner Träume. Das Auto ist eben nicht nur etwas, es meint etwas. Es meint Freiheit. Und das tollste daran: Um das zu meinen, muss das Auto nicht einmal fahren. Es genügt, wenn es da ist. Natürlich kann man auch mit der Bahn fahren – aber die passt eben nicht in die Garage.