Für mich war es das Antidepressivum der Woche: „Texas hebt alle Corona-Maßnahmen auf“. Zum einen hat der Gedanke, dass es einen Flecken auf der Erde gibt, in dem die neue Normalität die alte ist, etwas ungemein Tröstliches. Zumal dieser „Flecken“ bei richtigem Hinsehen fast so groß wie Westeuropa ist. Außerdem gefiel mir das Entsetzen der diversen Masken-Regimes und ihrer Anhänger diesseits und jenseits des Atlantiks. Die texanische Unverfrorenheit untergräbt die Autorität der Lockdown-Fanatiker noch mehr als die schwedische Gelassenheit, die ihnen bereits im Wege steht wie ein Elch auf der Autobahn.
Nostalgisch gestimmt, stieg ich in den Keller hinab und kramte eine Kiste mit Dingen hervor, die dort seit Jahrzehnten lagern, weil ich mich an den Gedanken klammere, sie irgendwann wieder gebrauchen zu können. Und da waren sie: Ein paar originale texanische Cowboystiefel aus dunkelrotem Straußenleder mit gemäßigter Spitze und relativ flachen Absätzen. Mit sowas geht man da zum Tanzen. Ich habe die tatsächlich im Straßenverkehr getragen. Das war in der Zeit, als ich noch Zigarren rauchte. Ich fand das sehr cool. Sabine hielt in der Öffentlichkeit allerdings einen Abstand zu mir, als sei sie meine mohammedanische Drittfrau.
Ich probierte die Boots an und sie passen immer noch perfekt. Ich beschloss, sie weiter aufzuheben, man weiß ja nie, was kommt. Bei der Einreise am Flughafen Dallas/Fort Worth dürften sie jedenfalls nicht von Nachteil sein. Ich fühle mich zu der Gegend schon etwas länger hingezogen. Von dort stammen die guten Stücke nämlich. Und zwar von „Finchers White Front“, einem Laden, der im Viehmarktviertel (Stockyard“) von Fort Worth seit 1902 seiner Geschäftstätigkeit nachgeht. Man hält auf Tradition. Lediglich im Jahre 1930 vergrößerte sich das Geschäft ein wenig. Und das kam so:
Nathan Monroe Martin, 30, betrat an einem Morgen des Jahres 1930 die Räume der Fort Worth Stockyards National Bank. Sie lag in den Stockyards gleich neben Finchers White Front. Zwischen 1860 und 1960 war hier der Umschlagplatz und Verladebahnhof für bis zu einer halben Million Rinder pro Jahr. Nach Auftrieb und Versteigerung wurden sie durch unterirdische Gänge in Viehwaggons gepfercht und zu den Schlachthöfen nach Chicago transportiert. Für die Cowboys bot Fort Worth nach dem Trail das erste Bad und den ersten Whiskey. Der Eisenbahnknotenpunkt erwarb sich den Ruf einer Stadt „in der die Türen nach beiden Seiten auffliegen“ (ich wünsche mir manchmal, das wäre in unserem politischen System genauso).
Sämtliche Fensterscheiben im Umkreis atomisiert
Diesen Ruf sollte auch der Bank-Besuch des Nathan Monroe Martin festigen. In seiner Hand hielt er eine unauffällige kleine Flasche. Unter dem Hinweis, es handele sich um Nitroglyzerin, bat er den Direktor des Institutes um die formlose Auszahlung eines größeren Geldbetrages. Dieser konnte herzlich über den kleinen Scherz lachen. Freilich nur einmal: Nathan Monroe Martin, der Bankdirektor, sowie sämtliche Fensterscheiben im Umkreis einer viertel Meile wurden zügig atomisiert (auch das fände ich in der politischen Kommunikation mitunter hilfreich).
Den Vorfall bezeugt ein zeitgenössischer Bericht im „Fort Worth Star-Telegramm“. Der Zeitungsausschnitt hängt gerahmt an der Wand von „Finchers“. Als die Bank in den 60er Jahren aufgab, nahm der langjährige Nachbar die Räume in der Exchange Ave 115 E einfach dazu. Ein Durchbruch war ja bereits vorbereitet. Der Tresor, der die Nitro-Attacke gelassen überstanden hatte, wurde kurzerhand in eine Auslage für Westernstiefel umgewandelt. Und dort fand ich bei meinem letzten Besuch die schnieken Straußenleder-Treter.
Heute geben sich dort statt Rinderbaronen und Ranchern, Cowboys und Zockern eher eisschleckende Tagesausflügler die Klinke in die Hand, oder auch wohlbeleibte Western-Fans, die beim Versuch scheitern, die Spitzen ihrer neuen Boots zu erspähen. Doch ab und zu geht die Tür auf, und es kommt ein Herr herein, „der sich nur ausnahmsweise auf zwei Beinen bewegt“, so ein Verkäufer. Es gibt ihn noch, den Cowboy, schließlich leben in Texas über zehn Millionen Rindviecher, viele davon grasen noch nach alter Väter Sitte auf freiem Ranchland. Legendäre Ranches mit manchmal über 1.000 Quadratkilometern Land finden sich beispielsweise in einer Region namens „Panhandle“ (Pfannenstil), der zu den „Great Plains“ respektive der „Great American Desert“ gehört. Auf spanisch heißt das einsame Hochplateau „Llano Estacado“. Auf gut Deutsch: Arsch der Welt.
Trotz aller modernen Technik und Hubschraubern bedarf es ab und zu eines Pferdes und somit eines Cowboys obendrauf, um die Tiere im unwegsamen Gelände aufzutreiben. Und diese Jungs sagen: „Du kannst in diesem Land jeden kaufen, nur keine störrische Kuh“. Eine Einsicht, die sich inzwischen ja auch in Deutschland herumgesprochen hat.
Cowboys sind meist bettelarm und so etwas wie eine sympathische und naturverbundene Spezies des Autonomen. Ich fände es sehr hilfreich, die Cowboys und die Autonomen hiesiger Provinienz mal auf einem Rodeo gegeneinander antreten zu lassen. Um beim Rodeo mitzumachen, muss jeder eine Handvoll Dollar zahlen, ansonsten aber keine Grundrechenarten beherrschen. Wer am längsten oben auf dem Bullen sitzen bleibt, hat gewonnen. Die meisten bleiben aber nicht oben, sondern werden in eine Umlaufbahn befördert. Der Aufprall danach entspricht dem versetzten Offset-Crash aus 50 km/h nach auto-motor-und-sport-Norm, wahlweise einem Sturz aus dem dritten Stockwerk der Rigaer Straße.
Sollte sich der geneigte Leser von den texanischen Verhältnissen angezogen fühlen, hier ein kleiner Einführungskurs über Land und Leute:
Sprache und Verständigung
Texanisch ist prinzipiell eine Form der amerikanischen Sprache. Aber eben nur prinzipiell. So heißt das zentrale Wort des Texanischen“ Y’all“, abgekürzt für „You“ und „all“. Es wird grundsätzlich als Anrede gebraucht. Auch wenn man sich nur an eine Person wendet: Texaner sind mit großen Herden aufgewachsen und können nicht im Singular denken. Es ist also keine große Umstellung erforderlich, wenn man aus Deutschland kommt.
Sollten Sie in einer Bar oder sonstwo einen Cowboy treffen, sprechen Sie ihn nicht an. Das Verhalten eines Cowboys ist voll auf das Überleben in einer feindlichen Umwelt geeicht. Dazu gehört das Vermeiden überflüssiger Anstrengungen. Folglich unterlässt er es möglichst, den Mund aufzumachen. Der Fremde sollte es nicht persönlich nehmen und warten, bis er angesprochen wird. Cowboys sind neugierig, aber sie brauchen eine Weile.
Zeigen sie sich dann interessiert, aber bescheiden. Sollten Sie beispielsweise eine Privatbank besitzen, behalten sie es für sich. Das bedeutet für einen Cowboy so viel wie der Besitz eines AEG-Vollwaschautomaten. Sollten Sie ein Problem mit Donald Trump haben, behalten Sie es ebenfalls für sich. Vermeiden sie auch die Frage nach einem veganen Menü und verzichten Sie auf eine gendergerechte Ansprache Ihres Gegenübers. Es gibt nämlich auch weibliche Cowboys. Texas ist dann für Sie ein Hochrisikogebiet, für das ich hiermit eine dringende Reisewarnung ausspreche.
Kleiner Modeberater
Bei Farbe und Material der Stiefel ist eigentlich alles erlaubt, außer Leder, das von artgeschützten Tieren stammt. Känguru- und Straußenhäute, Schlangen- und Krokodilleder fallen nicht darunter, die gibt’s im Überfluss. Cowboys tragen bei der Arbeit aber Rindsleder, das ist strapazierfähiger. Ein anständiger Hut kostet ein paar hundert Dollar, alles andere ist peinlich. Besonders überzeugend ist es, seinen verdreckten Hut bei Finchers mit einem Dampfgerät reinigen und neu in Form bringen zu lassen. Getreu der konservativen Weltsicht: „Ein neuer Hut sieht immer gut aus, aber der alte kennt die Größe von deinem Kopf“. Wenn Sie keinen Hut mögen, setzen sie einfach eine Kappe eines Saatgutherstellers auf. Monsanto kommt immer gut.
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