Vor zwei Wochen haben sie Sebastian Vettel den Sieg im Großen Preis von Kanada aberkannt, weil er sich gegenüber Lewis Hamilton ein bisschen ruppig durchgesetzt hat. Und ich habe immer gedacht, dass es beim Autorennen genau darum geht. In Kanada wollen sie Völkerball abschaffen, das Spiel sei "legalisiertes mobbing". In Deutschland sind wir indes auf dem Weg zum siegerfreien Fußball: Bei immer mehr Kinderfußballspielen gibt es weder Sieger noch Verlierer. Tore werden nicht gezählt, damit auch die Gurken ein Erfolgserlebnis haben. Der Weg zum notenfreien Schulunterricht ist die logische Fortsetzung dieser Entwicklung.
Der Gedanke an Wettbewerb ist irgendwie quälend. An seine Stelle tritt das Gebot der Gleichheit. Du sollst nicht schneller, schöner, klüger oder geschäftstüchtiger als dein Nächster sein, nicht mehr Tore schießen, die Klassenschönste oder auch den Klassenschönsten abschleppen. Wettbewerb ist unfair und – na klaro – rechts.
Das kann man beispielsweise an sommerlichen Stränden beobachten. Der Herr, der einen kalifornischen Strandabschnitt überwacht, darf sich der Aufmerksamkeit der weiblichen Strandbevölkerung jedenfalls bewusst sein. Diese Größe und Statur, dieses dichte Haar, diese Bräune. Wirklich ein Bild von einem Mann. Sein Lebensmotto heißt: "Lebe wild und gefährlich". Und er vertritt es mit einem Gewicht von zweieinhalb Tonnen: Der Umschwärmte ist ein See-Elefant.
Auf der Suche nach den tieferen Ursachen für den Wettbewerb und das damit verbundene Risiko sind diese Kolosse aufschlussreiche Forschungsobjekte. Ihr Geschlechtsleben weist nämlich eine ausgesprochene Gerechtigkeitslücke auf: 85 Prozent der Männchen kommen beim weiblichen Geschlecht niemals zum Zuge. Nur der "Beachmaster", der stärkste und unerschrockenste Bulle darf seine Gene weitergeben. Für den Rest der männlichen Strandbelegschaft heißt dies: No risk, no fun. Ein klarer Fall organisierten Mobbings, gewissermaßen Völkerball für See-Elefanten-Nazis.
Das Wissenschaftsmagazin "Scientific American" meint dazu: "In der evolutionären Endabrechnung steht ein alter, aber risikoscheuer Junggeselle nicht besser da als der junge Draufgänger, der beim Kampf mit dem Beachmaster das Leben verliert". Beide haben keine Nachkommen, und ihre Gene weilen nicht mehr unter uns. Mit einem kleinen Unterschied: Der alte Feigling hat gar nichts, der junge Herausforderer aber zumindest eine Chance. Daraus folgt eine evolutionäre Lehre fürs Leben: "To take no risk, is the biggest risk of all" – nichts zu riskieren, ist das größte Risiko von allen. Und die gilt auch im politischen Sinne, dazu aber später.
Die menschliche Evolution verlief – zumindest was die sexuelle Lufthoheit angeht – nicht ganz so rüde wie beim Beachmaster. Aber auch im Verlauf der Menschwerdung zeigte sich rasch: Nur wer etwas wagt, der gewinnt. Als erster Preis in der Urzeitlotterie galten mehr Sex und bessere Nahrung. Auf das Eingehen von Risiken war seit jeher eine Prämie ausgesetzt. Und auch die menschliche Erfolgsgeschichte fußt auf dem Prinzip von Versuch und Irrtum.
Ziemlich leichtsinnige Tagediebe
Unsere Urahnen, so glauben viele Paläoanthropologen, waren ziemlich leichtsinnige Tagediebe. Mit ihren primitiven Werkzeugen und der relativ langsamen Fortbewegung hatten die Hominiden in der afrikanischen Savanne nämlich kaum Chancen, als Jäger zu reüssieren. Also streiften sie durchs Steppengras und hielten nach ihren Kumpels Ausschau: den Geiern. Hatten die Aasvögel ein totes Tier entdeckt und schwebten zu Boden, rannte der menschliche Urmob, so schnell er konnte, zum Buffet. Doch oft waren Hyänenrudel oder Löwen schneller. Die größte Chance auf ein proteinreiches Mittagessen bestand, wenn der Löwe die Beute selbst erlegt hatte – denn dann war er erschöpft. Das hatten unsere Vorfahren mit krimineller Energie ausbaldowert. Wagemutig ergriffen die Desperados jede Gelegenheit, den wütenden aber ermatteten Katzen den Braten zu entreißen. Doch so ein Löwe ist auch nicht blöd und verspeiste die vorwitzigen Mundräuber mitunter gleich mit.
Für Urmenschen war die lebenswichtige Fleischnahrung nicht ohne Wagnis zu gewinnen; bis zur Erfindung der Fleischtheke und der veganen Leberwurst sollten noch viele Jahrtausende vergehen. Und so wurden die schmächtigen Primaten mit dem großen Gehirn schon früh auf Risiko geprägt.
"Schon frühzeitig hatten die Menschen erkannt, daß jeder entscheidende Schritt nach vorn, also über die Grenzen des Bekannten hinaus, den Eindringling der Gefahr aussetzte", meinte dazu der Tiefseetaucher und Meeresforscher Jacques Cousteau, der Zeit seines Lebens gewohnt war, große Risiken einzugehen. Der Mut zum Risiko schliff sich durch die Jahrtausende tief in die Gene – und damit in unseren Geist und unser Verhalten – ein. Jeder kennt das Gefühl (oder erinnert sich dunkel daran): Endlich erwachsen werden wollen und endlich abhauen, raus aus dem Elternhaus und rein in die eigene Bude, in die große Stadt, in das fremde Land.
Nicht ohne Grund stattete die Natur die jugendliche Reifezeit mit einer gehörigen Portion Leichtsinn aus. Dieser Leichtsinn kann zu Verkehrsunfällen, Drogenmissbrauch oder frühen Schwangerschaften führen, aber auch zu genialen Erfindungen, großen Kunstwerken und kühner Forschung. Ohne jugendliche Leichtfertigkeit bestünde die Welt vermutlich aus lauter Provinznestern, in denen greise Honoratioren die Zeit anhalten wollen.
Wobei die Lage allmählich unübersichtlich wird: Teile der Generation Greta wollen lieber zuhause bleiben, um die Welt zu retten und sich als Hobbits 4.0 in einer geistigen Gartenlaube ansiedeln, angeleitet von grünen Fossilien, die seit einem halben Jahrhundert durchs Leben zittern. Anfangs wegen der Atomenergie, die viel Ärger, aber wenig CO2 produziert. Jetzt wegen der Klimakatastrophe, die leider befördert wird, weil man vor der Atomenergie noch mehr Angst hat. Ganz offensichtlich geht derzeit die traditionelle Kenntnis dafür verloren, dass man nun mal einen Tod sterben muss. Das Ableben als solches ist zwar voll nazi, lässt sich aber derzeit noch nicht umgehen.
Vieh von anderen Stämmen stehlen
Aber was tun ursprünglichere Kulturen mit ihren jungen Wilden? In vielen Völkern sind die Menschen nach Generationen organisiert. Es gibt Kasten "junger Krieger" – etwa bei den Massai –, die durch tollkühne Taten Prestige erwerben. In Stammesgesellschaften können Jungendliche bei traditionellen Prüfungen ihren Mut beweisen: Ein Stück Urwald roden, Vieh von anderen Stämmen stehlen, ein wildes Tier erlegen oder die Männer vom Nachbardorf durch einen dreisten Streich blamieren. Das Eingehen von hohen Risiken verschafft den Heranwachsenden Identität: Wer die Grenzen der Sicherheit überschreitet, wird Herr seiner Existenz. "Dieses Muster", schreibt der Ethnologe Georg Elwert, "tritt quer durch die Kontinente in sehr unterschiedlichen Kulturen dermaßen übereinstimmend auf, dass man denken könnte, es handele sich um eine anthropologische Universalie."
So war das zumindest mal. In unserem Lande können wir in merkwürdiger Gleichzeitigkeit zwei völlig gegensätzliche Tendenzen beobachten. Hier die jungen Wilden, die sich an kein Gesetz und keine Konvention halten und damit nicht das geringste Problem haben, weil sie nichts anderes kennen und ihnen auch niemand die Grenzen aufzeigt. Und da die behüteten Schneeflöckchen und höheren Söhne und Töchter, die vor Flugscham in den Schulstreik treten und glauben, die Zukunft meistern zu können, indem sie sich tot stellen. Ein Austausch zwischen den beiden Gruppen findet so gut wie nicht statt. Wenn sie aufeinander treffen ist allerdings ziemlich klar, wer mehr Tore schießt. Moderne Gesellschaften entwickeln einen immer stärkeren Hang zur Risiko-Prävention. Es fehlt nicht an Versuchen, die Bürger als rundum behütete und betreuungsbedürftige Laufstallbewohner zu halten, neu ist allerdings, dass dies als Jugendbewegung daher kommt.
Vor Dummheiten und Fehltritten bewahren
Staatliche Prävention soll die Bürger vor Dummheiten und Fehltritten bewahren und das Klima retten. Alles wird immer sicherer (von der Rente mal abgesehen). Papierlocher, Telefonhörer und Klobürsten fertigt man nur noch aus solchen Materialien, an denen Babies mindestens zwei Tage gefahrlos lutschen können.
Politiker aller Parteien sonnen sich in ihrer Fürsprache für das sogenannte Vorsorge-Prinzip. Das Kleingedruckte lautet in etwa so: Wann immer zu vermuten steht, dass ein Verfahren oder ein Stoff gefährliche Schäden anrichten könnte, sollten diese nicht angewendet werden, selbst wenn über die Schädlichkeit noch keine endgültige Gewissheit besteht.
Wenn man dieses Prinzip tatsächlich konsequent anwenden würde, müssten Autofahren, Skifahren, Karussellfahren, Fahrradfahren Treppensteigen, Biertrinken und Tagesschau gucken sowie der Gang zur Wahlurne sofort unterlassen werden. Die gesamte Bevölkerung müsste die Arbeit sofort einstellen und vorsorglich im Bett bleiben. Unter anderem hätte auch die Evolution untersagt werden müssen.
Doch es gibt noch ein weites Feld für in Deutschland endemische Exemplare der Spezies Mensch, die beabsichtigen, ihre Gattung durch riskantes Verhalten voranzubringen. Vorgemacht haben das seinerzeit Bürgerrechtler und Republik-Flüchtlinge in der ehemaligen DDR. Sie riskierten Hab und Gut, Leib und Leben und brachten damit ein dikatorisches System zum Einsturz.
Das Ganze ist gerade 30 Jahre her, war auch für die übrige Menschheit nicht ohne Risiko und hätte unangenehme Folgen haben können, der Friede hing zeitweise an einem sehr dünnen Faden. Hätte der Protest deshalb etwa unterbleiben sollen – gleichsam nach dem Vorsorgeprinzip?
Wer also auf der Suche nach einem gehörigen Thrill ist, sollte es nicht mit S-Bahn-Surfen, Bungee-Jumping, oder Creative-Cooking bewenden lassen. Da gibt’s viel Aufregenderes: Sagen Sie ihre Meinung und scheren sich nicht darum, was man nach Ansicht der talkenden Klasse sagen darf und was nicht. Dann ist Schluss mit Langeweile. Machen Sie sozusagen den Sarrazin, das ist auf der Skala der Risikosportarten derzeit die absolut verschärfte Nummer, so ähnlich wie Tiefseetauchen ohne Sauerstoffmaske (kann allerdings nicht bei TUI gebucht werden).
Die Sittenwächter und Anstandstanten um Sie herum werden den Weltsicherheitsrat anrufen, wenn Sie Glück haben, werden Sie sogar aus dem örtlichen Schützenverein, der SPD oder Eintracht Frankfurt ausgeschlossen. Eigentlich heißt es ja: Nur, wer etwas wagt, der gewinnt. Inzwischen gilt: Nur, wer etwas sagt, der kann auch gewinnen. Siehe oben: "Wer die Grenzen der Sicherheit überschreitet, wird Herr seiner Existenz". Außerdem ist es unterhaltsamer und obendrein preiswerter als ein Abenteuerurlaub im Karakorum.
Von Dirk Maxeiner ist in der Achgut-Edition erschienen: „Hilfe, mein Hund überholt mich rechts. Bekenntnisse eines Sonntagsfahrers.“ Ideal für Schwarze, Weiße, Rote, Grüne, Gelbe, Blaue, sämtliche Geschlechtsidentitäten sowie Hundebesitzer und Katzenliebhaber, als Zündkerze für jeden Anlass(er) Portofrei zu beziehen hier.