Jan Böhmermann will dem Hass im Netz „Liebe und Vernunft“ entgegen setzen. Und damit ist Jan nicht alleine. „Wir lieben Fliegen“ sagt Condor, „Wir lieben Autos“ (VW), „Weil wir Schuhe lieben“ (Deichmann), „Wir lieben Lebensmittel“ (Edeka), "Backen ist Liebe" (Sanella), „Ich liebe es" (McDonald's). Auch Chris und Tina, Torben und Melanie – und wie sie alle heißen mögen – wollen das Volk mit Liebe beglücken. „Mit Love Speech verbreitest du Liebe und Freude durch wertschätzende Sprache“, las ich dieser Tage auf der regierungsamtlich unterstützten Webseite der Initiative „Gesicht Zeigen!“.
Das erinnert den Absolventen einer – außerhalb von NRW und Bremen gelegenen – Lehranstalt zwangsläufig an den guten alten Orwell und sein 1984. Protagonist der Handlung ist bei Orwell nicht der Jan oder der Torben, sondern der Winston, der sich trotz der allgegenwärtigen Überwachung seine Privatsphäre sichern will und etwas über die reale, nicht umgeschriebene Vergangenheit erfahren möchte. Wikipedia fasst das Ende der Geschichte so zusammen:
„Unter der Folter im ‚Ministerium für Liebe‘ bricht er psychisch zusammen, verliert seine gerade erst neu gewonnene Individualität und glaubt nach einer Gehirnwäsche schließlich, durch seine neu entdeckte Liebe zum Großen Bruder endlich frei zu sein“.
Bei „Gesicht Zeigen!“ haben sie den Orwell glatt getoppt, weshalb ich die Initiative hiermit für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels vorschlagen möchte:
„Im Sinne von Love Speech! möchten wir den Begriff der Individuenbezogenen Menschenfreundlichkeit (IMF) in die Debatte einführen. Bei IMF geht es darum, Menschen als individuelle Person anzusprechen und sie auch individuell zu behandeln und zwar in freundlicher, positiver und ermutigender Art und Weise. Daraus resultiert eine Realität der Gleichwertigkeit. Die IMF steht im Kontrast zu dem Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF). GMF erfasst und systematisiert feindselige Einstellungen gegenüber verschiedenen Menschengruppen. Grundlegend für GMF ist eine Ideologie der Ungleichwertigkeit... No one needs hate – everybody needs love!“
Weiter wird empfohlen: „Und am besten: Jeden Tag den Love Speech-Check machen!“. Es gehe darum, aus der „negativen Gedankenspirale herauszukommen“, für den Anfang genüge ein Lächeln. Als ich das gelesen habe, kam mir ein verwegener Gedanke. Schluss mit den theoretischen Betrachtungen! Schluss mit dem Orwell-Gehubere! Ein Selbstversuch muss her. Vielleicht funktioniert das ja doch mit der Love Speech. Man soll ja unvoreingenommen sein.
„Liebling, das ist mein Love Speech-Check“
Ich setze also gestern morgen mein schönstes Lächeln auf und begrüße Sabine mit einem zuckersüßen „Guten Morgen, Liebling“. Sie sieht sich verunsichert um, ob da möglicherweise jemand hinter ihr steht, den sie übersehen hat. „Ist irgendwas nicht in Ordnung?“ lautet ihre Erwiderung, „oder ist das ein Hinterhalt?“
„Nein Liebling, das ist mein Love Speech-Check."
„Love was?“
„Gesicht zeigen und so. Da macht auch Maybritt Illner mit.“
„Maybritt Illner, um Gottes willen.“
„Der Mensch soll sich nie über andere Menschen erheben.“
„Das musst Du gerade sagen.“
„Wie meinst Du das?“
„Weil ich seit Jahren keine Nachrichten mehr hören kann, ohne dass Du ständig dazwischen quatschst und lovespeechmäßig alle in die Tonne trittst.“
„Love Speech bedeutet auch, Menschen aktiv in ein Gespräch einzubeziehen. Damit signalisiere ich Interesse und stärke das Selbstwertgefühl.“
„Deins vielleicht. Meins nicht.“
„Könnte ich Dein Selbstbewusstsein möglicherweise durch den Kauf von zwei frischen Croissants stärken?“.
„Ja, das klingt schon besser.“
Ich gehe zum Bäcker. Vor mir eine junge Frau mit Fahrradhelm. Hinter der Theke eine freundliche und gut gelaunte Verkäuferin mit Migrationshintergrund. Versteht etwas vom Verkaufen, versucht ein Lockangebot: „Wir haben heute drei Stück Kuchen für einsfünfzig“. Entsetzte Antwort: „Ich bin Veganerin.“ Darauf die Verkäuferin, sichtlich geknickt: „Ach, das sind die, die auch keine Milchprodukte essen?“ Kundin: „Richtig.“ Und dann noch: „Wenn Sie veganen Kuchen anbieten, dann kaufe ich den auch.“ Ich krame gerade rechtzeitig noch die Empfehlung von Love Speech hervor: „Für Lächeln benötigen wir bekanntlich viel weniger Muskeln als für Stirnrunzeln – lächeln ist also leichter.“ Ich lächle, was das Zeug hält, bin aber unsicher. Ich habe das ungute Gefühl, dass ich dabei aussehe wie ein Krokodil, das auf eine unvorsichtige Veganerin lauert.
Endlich bin ich an der Reihe. Ich beschließe, die geplagte Verkaufskraft mit einer fröhlichen Bemerkung aufzubauen: „Ich bin Carnivore.“ Verkäuferin runzelt die Stirn: „Und was essen die nicht?“ Ich: „Die essen alles, besonders Fleisch.“ Verkäuferin: „Möchten Sie vielleicht unseren Kuchen probieren?“ „Nein, nur, wenn es ihn mit Hackfleisch gibt.“ Verkäuferin leicht belehrend: „Man muss gegenüber allen tolerant sein.“ Ich: „Ja, auch gegenüber Hackfleisch.“ Beim Bezahlen verabschiede ich mich mit einem herzlichen: „No one needs hate – everybody needs love!.“ In der Schlange hinter mir: Entsetzen. Schweigen. Hab ich was falsch gemacht?
Ich glaube, leise eine Mundharmonika zu hören
Ich gehe zurück zu unserem Haus. Die Einfahrt zur Garage ist blockiert. Ein riesiger Cadillac steht auf dem Bürgersteig davor. Mich beeindruckt die demonstrative Gleichgültigkeit sowohl gegenüber Park-Bestimmungen als auch gegenüber lästigen TÜV-Vorschriften. Das Teil ist bis auf wenige Zentimeter Bodenfreiheit tiefergelegt und in einem provozierenden mattschwarz lackiert. Ich weiß, wo ich den Besitzer vermuten muss. Beim Friseur nebenan. Der ist ein ganz Netter, ebenfalls mit Migrations-Hintergrund. Er verpasst seiner Kundschaft diese Fußballer-Frisuren. Ich würde da ja auch hingehen, habe aber Angst, als Ribéry wieder raus zu kommen.
Ich betrete den Friseurladen. Da sitzt er, der Ribéry, mit einem Kreuz wie ein gedopter DDR-Gewichtheber. Ich setze mein bereits geübtes Lächeln auf und frage in die Runde: „Wem gehört der Cadillac da draußen?“ Das Klappern der Scheren verstummt. Der Fön ebenfalls. Ein letztes Haarbüschel schwebt still zu Boden. Alle starren mich an. Ich glaube, leise eine Mundharmonika zu hören. Der Ribéry schwingt in seinem Drehstuhl zu mir herum und blickt mir tief in die Augen wie einst Henry Fonda in Spiel mir das Lied vom Tod. Dann sagt er – und es klingt nicht nach Love-Speech: „Der gehört mir.“
Ich sage: „Mann ist das eine geile Karre! Wo hast Du die denn her?“ Die Scheren fangen wieder an zu klappern, der Fön wird angeschaltet und wir führen eine sehr nette Unterhaltung über die technischen Spezifikationen seines Amischlittens. Zum Abschied weise ich ihn darauf hin, dass sich die Herrschaften von der städtischen Parküberwachung zu seinem Standort vorarbeiten. „Macht nix“, sagt der Ribéry, „dann gibt’s was auf die Fresse.“ Ich sage: „Love Speech for ever!“. Der Ribéry verabschiedet sich von mir mit einem fetten High-Five. Na bitte, klappt doch.