Es wurde ja auch Zeit. Karl Benz erfand 1888 das Automobil. Vier Jahre später eröffnete Alexander Graham Bell die erste Telefonverbindung zwischen New York und Chicago. Beide Erfindungen waren mit Geräusch verbunden, und beide überwanden mit hoher Geschindigkeit große Entfernungen: Die eine röhrend die andere plappernd. Jetzt, nach gut 120 Jahren, sind Röhren und Plappern endlich in einem rauschenden Finale vereint. "Das Mobiltelefon ermöglicht es denen, deren Lebensführung bereits von Beschleunigung und Verdichtung gekennzeichnet ist, diese Prozesse zu verstärken", heißt es in dem klugen Buch "Flimmernde Zeiten".
Beschleunigung und Verdichtung stoßen - soweit es das Automobil und den Verbrennungsmotor anbelangt - allmählich an ihre Grenzen. Folglich kommt der Mensch auf die Idee, die Zeit zu verdichten. Sie läßt sich effizienter nutzen, wenn man mehrere Dinge gleichzeitig tut, also beispielsweise Radiohören beim Lesen, Essen beim Fernsehen oder Telefonieren beim Autofahren. Mann und Frau, jung und alt, arm und reich: Sie alle haben das Handy als ultimative Verlängerung des Gaspedals entdeckt. Den Witz, an den Sie jetzt bei „ultimativer Verlängerung“ denken, erspare ich mir. Grundsätzlich halte ich den dahinter stehenden Gedanken aber nicht für ausgeschlossen.
Lediglich elitäre Spielverderber wehren sich störrisch gegen die Zeichen der Zeit: Beispielsweise unser aller Prinz Charles, der sein Mobiltelefon vor längerer Zeit mal gefeuert hat - wutentbrannt und aus dem Fenster seines fahrenden Bentley. Was brachte den Prinzen so in Rage? Sprach er mit der Queen? Mit Camilla? Oder mit einer Biokartoffel vom königlichen Ökohof? Die Bildzeitung berichtete jedenfalls, daß Polizisten später die Landstrasse absuchen mußten, "weil auf dem Telefon Geheimnummern der königlichen Familie gespeichert waren".
Der Verkehrsmelder ist der Flakhelfer der Automobilgesellschaft
Das wäre in Deutschland nicht passiert. Die Radiostationen der Nation rekrutierten inzwischen über 40.000 Verkehrsmelder. Mit Handy und Pflichtbewußtsein leisten diese "meldewilligen Personen", ihren Dienst am Vaterland. Der Moment, in dem Prinz Charles die Contenance verlor, wäre in deutschen Landen sofort bemerkt worden: "Hier spricht Verkehrsmelder 750, auf der A8 bei Kilometer 43,5 kommt ihnen ein herrenloses Handy entgegen."
Der Verkehrsmelder ist unerschrocken und wachsam, gleichsam der Flakhelfer der Automobilgesellschaft. "Werden Sie Staumelder" fordert der ADAC seine Mitglieder auf, der Titel klingt ja geradezu amtlich. "Sie erhalten dann Ihre persönliche Meldernummer sowie die kostenfreie Rufnummer für Ihre Meldungen", schreibt der Automobilclub. Ich will auch so eine persönliche Staumeldernummer, das kommt vom Sozialprestige her gleich nach Hatespeech-Melder bei Anetta Kahane. Von wegen Rechtsfahren und so. Diesen gewissenhaften Aufsichtspersonen entgeht nicht der geringste Vorfall. Wer in höchster Not an einen Chausseebaum pinkelt, hat große Chancen ins Radio zu kommen ("Zwischen Unterhausen und Obergriesbach irrt eine hilflose Person umher, Unfall- und Rettungsdienste wurden bereits verständigt").
Ich erinnere mich noch an Zeiten, in denen das Auto ein Rückzugsgebiet erster Güte war. Niemand konnte einen erreichen. Hinter dem Steuer warst Du soweit weg wie auf einer abgelegenen Lofoten-Insel. Autofahren wurde so zur kontemplativen Tätigkeit. Millionen Menschen genossen den Feierabend-Stau, in dem man endlich einmal ungestört seinen Gedanken nachhängen konnte. Und nach einem Unfall konnte man in Ruhe sterben. Heute befindest Du dich in einer Gesellschaft, die unentwegt in ihr wie auch immer geartetes Sprechgerät plappert, beziehungsweise ein Selfie mit Deinen sterblichen Überresten auf Facebook stellt.
Wurde der Alltag früher durch Promille-Sünder aufgelockert, so sind es heute Handy-Sünder
Das ist wie in einer Schafherde, die durch beständiges Blöken und Meckern sicherstellt, dass keiner verloren geht. Das Lämmlein blökt, sobald es Hunger bekommt, die Mutter erkennt es an der Stimme, antwortet laut, und so finden beide wechselrufend zueinander. Auf "guteFrage.net" fand ich folgende Beschwerde: „Was kann man gegen Schaf-Dauergeblöke in nächster Nachbarschaft tun? Balkonaufenthalt kaum möglich.“ Ich frage mich das regelmässig im öffentlichen Nahverkehr. Dann doch lieber Auto, da quatscht höchstens der Beifahrer – und den kann man rausschmeißen.
Wurde der zähe automobilistische Alltag früher eher durch fröhliche Promillesünder aufgelockert, so tragen heute verstärkt Handy-Sünder zu Kurzweil bei. Eine Freisprecheinrichtung ist etwas für Anfänger oder Pussys, der echte Thrill kommt erst auf, wenn man das Smartphone am Ohr hat. Polizisten stellt das abwechslungsreiche Treiben vor ganz neue Herausforderungen. Besonders bei unkonzentriertem Fahren in der Nacht lautet die Preisfrage: Besoffen? Oder Handy? Oder besoffen und Handy?
Dies alles ist natürlich noch weiter ausbaufähig. So sollte statt des nortmalen Nummernschildes ab sofort die Mobiltelefon-Nummer am Auto angebracht sein. Dies erlaubt es dann, dem Vordermann an der Ampel einen Weckruf zukommen zu lassen. Umgekehrt ist es denkbar, Lichthupendrängler auf der Autobahn kurz anzuläuten. Beispielsweise mit der Frage: "Sind sie von Natur aus ein Idiot, oder haben Sie Privatstunden genommen?" Es ist unschwer vorstellbar, um wieviel persönlicher und herzlicher sich der Umgang der Verkehrsteilnehmer miteinander gestalten würde! Und hierbei ist noch nicht einmal berücksichtigt, daß auch Fußgänger und Radfahrer sich mit guten Wünschen einschalten könnten.